Marode Schulen in Berlin: Ein Armutszeugnis
Viele Berliner Schulen sind in desolatem Zustand – besonders wenig Geld bekommen sie in Friedrichshain-Kreuzberg. Bekannt wurde das nur, weil ein Direktor unbequeme Fragen stellte. Auch in anderen Bezirken dürften Schulleiter jetzt hellhörig werden.
Wenn es nur der fehlende Brandschutz gewesen wäre. Oder nur der seit 20 Jahren durchnässte Keller. Oder nur der ramponierte Sportplatz. Wenn nur die Fenster kaputt wären oder nur der Schulhof eine Staubwüste ohne Belag. Wenn nur die Turnhalle beschmiert und zu klein oder nur die Turnhallen-WCs ekelerregend wären. Dann hätte Andreas Steiner sich vielleicht in Geduld gefasst. Aber dann kam etwas dazu, was er nicht erwartet hatte.
Ausgangspunkt war ein eher zufälliges Gespräch mit dem Leiter des Natorp-Gymnasiums aus Friedenau. Am Ende des Gesprächs wusste Steiner, dass seine Schule, das Andreas-Gymnasium in Friedrichshain, pro Jahr vom Bezirk 32 000 Euro weniger überwiesen bekommt als das Friedenauer Gymnasium – obwohl Steiner mehr Schüler hat. Er wollte verstehen, was das zu bedeuten hat. Überzeugende Erklärungen hat er nicht erhalten. Und das empörte ihn mehr als alles andere, was ihm bisher im Bezirk widerfahren ist.
Antworten, die keine waren
Dabei kann man ihm nicht vorwerfen, dass er sich nicht um Aufklärung bemüht hätte. Ende April kam Bildungssenatorin Sandra Scheeres auf einer ihrer obligatorischen Schultouren bei ihm vorbei. Er hat ihr gesagt, was ihm zusetzte. Auch der zuständige Bildungsstadtrat war dabei. Peter Beckers ist Sozialdemokrat wie die Senatorin. Steiner hat ihnen seine Fragen gestellt. Irgendwann gab es Antworten, die keine waren. Und Hilfe gab es nicht.
Dabei ist Steiner nicht irgendwer, sondern einer der erfolgreichsten Schulleiter der Stadt. Unter seiner Führung hat sich das Andreas-Gymnasium völlig gewandelt, die Anmeldezahlen sind hoch. Der letzte Schulinspektionsbericht liest sich wie ein Hohelied auf ihn. Der Mann kann zupacken, mitreißen, gestalten. Und jetzt will er verstehen, warum seine Schule schlechter behandelt wird als andere.
Die Bezirke sollen das Geld an die Schulen verteilen
Konkret: Warum sie 32.000 Euro weniger erhält, obwohl die Bildungsverwaltung den Bezirken pro Jahr und Schüler gleich viel Geld für sogenannte Lehrmittel überweist: 74 Euro. Dieses Geld sollen sie an ihre Schulen verteilen, damit diese dafür Material für Experimente, Vorführgeräte, Software oder Mikroskope anschaffen können. Einen „kleinen Prozentsatz“ dürfen die Bezirke für Notfälle zurückbehalten oder für Anschaffungen, die eine Schule nicht allein finanzieren kann. Der Rest soll den Schulen direkt zukommen. Was das bedeutet, wird von allen zwölf Bezirken allerdings unterschiedlich interpretiert.
Üblich sind 50 Euro pro Schüler
Bezirke wie Tempelhof-Schöneberg überweisen das Geld fast komplett an die Schulen. Andere wie Lichtenberg behalten höhere Beträge ein, weil sie die Wartung von Sportgeräten oder die Anschaffung neuer Server zentral organisieren und bezahlen. Manche ziehen auch den Betrieb ihrer Jugendkunstschulen, Gartenarbeitsschulen oder Experimentierwerkstätten als „schulergänzende Maßnahmen“ vom Lehrmittelbudget ab. Es bleiben dann üblicherweise rund 50 Euro pro Schüler von den 74 Euro übrig.
Nur in Friedrichshain-Kreuzberg nicht: Das Andreas-Gymnasium erhält nur rund 26,50 Euro pro Schüler. Und darum kann Steiner für seine 830 Schüler nur 22.000 Euro im Jahr für Lehrmittel ausgeben und nicht 40.000 oder sogar weit über 50.000 Euro wie vergleichbare Gymnasien.
Mails ans Schulamt landen in einem "schwarzen Loch"
Ein paar hundert Meter vom Andreas-Gymnasium entfernt sitzt Marina Belicke in einem kleinen Besprechungsraum des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg an der Frankfurter Allee und ist bemüht, die Diskrepanz zu erklären. Die resolute Frau leitet seit vielen Jahren das Schulamt und hat ganze Zahlenkolonnen ausgedruckt, um zu zeigen, wo das Geld bleibt, und dass wirklich „alles den Schulen zugutekommt“. Aber warum erhält dann das Andreas-Gymnasium nicht einmal halb so viel Geld wie andere Gymnasien der Stadt?
Die Erklärung Belickes fängt damit an, dass Friedrichshain-Kreuzberg die Lehrmittel nicht pro Schüler veranschlagt, sondern pro Klasse: 700 Euro erhalten die Sekundarschulen und Gymnasien, 650 die Grundschulen. Das ist allerdings ungünstig für Schulen mit großen Klassen – das heißt: für die Gymnasien. Denn sie haben im Schnitt sieben Schüler pro Klasse mehr als die Sekundar- oder Grundschulen. Das bedeutet, dass die Gymnasien durch die klassenweise Zuteilung systematisch schlechter gestellt sind – eine Besonderheit, die es ansonsten nur noch in Treptow-Köpenick gibt. Dort bekommen die Schulen allerdings 1000 Euro pro Klasse und nicht nur 700.
Die Hauptmann-Schule ist das, was der BER für Berlin ist
Gegenüber von Belicke sitzt Peter Beckers. Er trägt als Bildungsstadtrat des Bezirks die politische Verantwortung. Sein Amt hat er von der grünen Bürgermeisterin Friedrichshain-Kreuzbergs, Monika Herrmann, übernommen, die sich besser mit dem Jugendamt als mit dem Schulamt auskannte, wie ein Rektor anmerkt. Als Bildungsstadträtin blieb sie vor allem deshalb in Erinnerung, weil sie verhinderte, dass eine evangelische Schule in das damals leer stehende Gebäude der Gerhart-Hauptmann-Schule einziehen konnte. Stattdessen kamen die Flüchtlinge und besetzten das Haus. 1,4 Millionen Euro kostet nun pro Jahr der Unterhalt inklusive Wachschutz.
Die Hauptmann-Schule ist für Kreuzberg inzwischen das, was der BER für Berlin ist: die selbst verschuldete Begründung des finanziellen Notstands. Aber es gibt noch weitere Belastungsposten. Dazu gehört, dass sich Friedrichshain-Kreuzberg seit Jahren zu viel Schulraum leistet, der kostspielig unterhalten werden muss. Mehrere Millionen Euro gingen auf diese Weise bereits verloren. Erst Beckers hat damit begonnen, überzählige Räume an Musikschulen zu vermieten, um seinen Haushalt zu entlasten. Das alles hilft aber nur allmählich. Erst mal muss er weiterhin den Notstand verwalten.
Rektorin: Geld wird nach "Gutsherrenart" verteilt
Beckers wirkt eloquent und zugewandt. Als er sein Amt antrat, schöpften die Schulen Hoffnung. Aber dann war es doch wie immer, wenn sie Hilfe oder Auskunft vom Schulamt wollten: Sie schickten Mails, es kam keine Antwort. Darüber können Wochen vergehen. Wenn sie Mails sende, verschwänden die in einem „schwarzen Loch“, beschreibt eine Rektorin ihre Erfahrung. Wer aber laut schreie, bekomme ein bisschen Geld. „Nach Gutsherrenart“ teile Schulamtsleiterin Belicke das Geld zu, sagen einige Schulleiter. Meistens gebe es aber eine Ablehnung inklusive Vertröstung auf einen unbestimmten Zeitpunkt.
So war das auch mit der Kletterspinne. Sie war einst der Pausenmittelpunkt auf dem Schulhof der Kreuzberger Clara-Grunwald-Schule. Dann ging sie kaputt, und der Förderverein spendete 1600 Euro für die Reparatur. Aber der Verschleiß war zu groß, erneut wurden morsche Stellen sichtbar. Jetzt hat das Grünflächenamt die Spinne abmontiert, Geld für eine neue ist nicht in Sicht. Der leere Schulhof ist die neueste Facette des bezirklichen Debakels von Geldnot und Ratlosigkeit. „Wir werden allein gelassen“, resümiert Elternvertreterin Aino Simon, die sich nicht mit dem gerupften Schulhof abfinden will. Jetzt könne offenbar nur noch eine Spendensammlung helfen. Aber 16.000 Euro sind nicht so schnell zu sammeln.
Friedrichshainer Gymnasien: systematisch benachteiligt
Die Sache mit der Kletterspinne zeigte der Schule nicht nur erneut, wie knapp das Geld ist, sondern auch noch etwas anderes: dass sie nicht nur mit dem Schulamt zu rechnen hat, sondern auch mit dem Grünflächenamt. Oder mit dem Hochbauamt. Je nachdem. Die Schulen fühlen sich dann als Spielball: Der eine Stadtrat verweist auf den anderen, die Verantwortung löst sich in Luft auf – spätestens bei der zehnten Mail, die hin und her geschickt wurde. Ein gutes Beispiel hatte dafür in der Vergangenheit Steglitz-Zehlendorf geliefert, dessen Ämter für Schulen und Hochbau sich Kommunikationspossen rund um die Situation seiner maroden Schulen lieferten. Bekanntestes Opfer: das Steglitzer Fichtenberg-Gymnasium, das jahrelang hingehalten wurde und schließlich wegen Baufälligkeit abgesperrt werden musste.
Dass sich die Dinge verkomplizieren, wenn weitere Ämter involviert sind, hat auch Andreas Steiner erlebt. Was an der Grunwald-Schule die Kletterspinne ist, ist am Andreas-Gymnasium der Sportplatz. Auch der musste wegen Unfallgefahr gesperrt werden, sodass Steiners 830 Schüler selbst im Sommer auf die kleine Turnhalle mit ihren erbärmlichen Toiletten angewiesen sind. Zwei Klassen müssen sich Stunde für Stunde die Halle teilen.
Auch die Schüler stellen Fragen
Nicht nur Steiner, auch die Eltern- und Schülerschaft wiesen immer wieder auf die unzumutbaren Zustände hin, bis ihnen im August 2014 zugesagt wurde, dass die Sanierung 2015 passieren soll. Zunächst keimte Hoffnung, bis Steiner jetzt erfuhr, dass es Komplikationen gibt: Das Grünflächenamt hat eine Pappel neben dem Sportplatz entdeckt. Die muss gefällt werden, weil die Wurzeln den geplanten neuen Sportplatzbelag beschädigen könnten. Anders gesagt: Es kann passieren, dass die Andreas-Schüler auch 2015 komplett ohne den Sportplatz auskommen müssen. Und die Schüler fragen sich, warum die Pappel erst jetzt „entdeckt“ wurde und nicht 2014, als das Vorhaben in die Investitionen für 2015 aufgenommen wurde. Steiner hat dann wieder ein paar Mails verschickt und auf Antworten gewartet.
Wenn Bildungsstadtrat Beckers nach unbeantworteten Mails befragt wird, benutzt er Formulierungen wie „Land unter“: Wichtige Leute seien krank, Ersatz gebe es nicht, denn die Ämter seien durch den Sparkurs finanziell ausgedünnt. Erschwerend komme hinzu, dass die Bezirksämter vor Jahren von sechs auf fünf Stadträte heruntergekürzt wurden. Für den gelernten Politologen Beckers, der in Verwaltungswissenschaften promoviert hat, bedeutet dies, dass er nicht nur stellvertretender Bezirksbürgermeister und Bildungsstadtrat ist, sondern auch noch die Abteilungen Wirtschaft, Ordnung und Sport verantwortet.
"Das war schon immer so"
Sein Amt hat Beckers seit 2011. In Schulfragen ist er auf das angewiesen, was er von seiner Vorgängerin Monika Herrmann übernahm und was ihm seine Schulamtsleiterin Marina Belicke erläutert. Warum sein Bezirk die Lehrmittel nicht pro Schüler, sondern im Klassensatz überweist und damit die Gymnasien systematisch benachteiligt, kann Beckers nicht sagen. „Das war schon immer so“, wirft Marina Belicke ein, die schon zur Wendezeit im Schulamt Friedrichshain gearbeitet hat. Beckers blickt in solchen Augenblicken ratlos auf den Tisch, der zwischen ihm und Belicke steht.
Aber wo bleibt denn nun das ganze Geld, das das Land dem Bezirk für Lehrmittel überweist? Selbst die Sekundarschulen, die pro Schüler rund 30 Euro bekommen, stehen ja immer noch jämmerlich da, wenn man von den 74 Euro ausgeht, die das Land eigentlich vorgesehen hat. Ganz zu schweigen davon, dass es Bezirke wie Reinickendorf gibt, die ihren Gymnasien und Sekundarschulen bis zu 90 Euro pro Jahr überweisen können – weil sie gut wirtschaften oder weil die Schulen eine höhere Priorität genießen.
Bildungsstadtrat Beckers ist ratlos
Jetzt greift Belicke zu einer anderen Tabelle. Sie zeigt, was sie von der Lehrmittelpauschale noch alles bezahlen muss: Instandhaltung der Turnhallen, technischer Support und Mailadressen, Kopierer, eine Lehrküche, neue Schulserver und deren Wartung. Allerdings kann Belicke nicht erklären, warum das alles in ihrem Bezirk so teuer ist, dass für die einzelne Schule viel weniger übrig bleibt als in den anderen Bezirken, die dieselben Aufgaben haben. Diese Frage bleibt offen. Beckers guckt jetzt wieder ratlos auf den Tisch. Der Finanzfachmann des Bezirks ist nicht greifbar.
"Wir wussten nicht, dass wir Schlusslicht sind"
Antworten findet man in den anderen Bezirken. Zum Beispiel in Neukölln, Marzahn-Hellersdorf, Reinickendorf, Tempelhof-Schöneberg und Charlottenburg-Wilmersdorf: Sie alle verfügten in den vergangenen Jahren über interessierte und durchsetzungsstarke Bildungsstadträte oder zumindest gut geführte Schulämter. Daher waren sie eher imstande, klug zu wirtschaften und sich gleichzeitig gegen bezirksinternen Spardruck zu behaupten. Die Folge: Manche Anschaffungen können aus Überschüssen oder anderen Budgets bezahlt werden und müssen nicht zulasten aller Schulen im Bezirk gehen. Diese Bezirke haben auch keine Gerhart-Hauptmann-Schule zu bewachen, die täglich knapp 4000 Euro verschlingt, anstatt Miete einzubringen: Vier Tage würden für eine neue Kletterspinne reichen.
Wohin es führt, wenn immer nur das absolute Minimum für die Schulen übrig bleibt, zeigt eine Tabelle mit allen Ausgaben pro Schüler nach Bezirken geordnet. Dort kann man zum Beispiel ablesen, dass Friedrichshain-Kreuzberg im Jahr 2014 berlinweit am wenigsten pro Gymnasialplatz ausgegeben hat. Bei den Grundschulen ist es ähnlich: Da liegt der Bezirk auf dem vorletzten Platz. Selbst die – vom Bezirk politisch besonders unterstützten – Sekundarschulen rangieren bei der Finanzierung nur an siebter Stelle und damit ebenfalls unter dem stadtweiten Mittelwert.
Das bezirkliche Defizit lähmt alle Ressorts
Beckers kennt diese Liste nicht und guckt wieder ratlos zu Frau Belicke. Die verweist plötzlich darauf, dass einige Gymnasien Rücklagen gebildet haben, anstatt das Geld auszugeben. Vielleicht spiele das ja eine Rolle bei den schlechten Zahlen.
Belickes Kollegen in den Schulämtern schütteln über diese Begründung allerdings den Kopf: Rücklagen gebe es auch in den Schulen anderer Bezirke. Das könne also gar nicht der Grund für die miserable Platzierung von Friedrichshain-Kreuzberg sein. Aber was denn dann? Beckers und Belicke verweisen auf ihr bezirkliches Defizit von sieben Millionen Euro, das alle Ressorts lähmt und alle Bewegungsfähigkeit nimmt. „Wer hier zur Schule geht, hat eben Pech gehabt“, fasst es eine Elternvertreterin im Bezirk zusammen.
Daran gemessen bleiben die meisten Schulleiter erstaunlich ruhig. Warum? „Keiner will es sich mit Frau Belicke verderben“, lautet die häufigste Antwort, die man bekommt, wenn man herumfragt. „Es ist immer ein Eiertanz, wenn man etwas braucht“, beschreibt eine Schulleiterin ihre Erfahrung. Man müsse einen „Bückling machen“, um seinen gesetzlichen Auftrag erfüllen zu können.
Kein Zufall, dass die Zahlen so lang im Dunkeln blieben
Die Ruhe im Bezirk hat aber noch einen weiteren Grund: Den meisten Schulleitern ist gar nicht klar, dass ihre Schulen so viel kürzer gehalten werden als die Schulen in anderen Bezirken. Auch Steiner wusste es ja nicht, bis er das zufällige Gespräch mit dem Kollegen aus Friedenau hatte. „Wir wussten nicht, dass wir Schlusslicht sind“, bestätigt eine altgediente Rektorin, die dem Friedrichshainer Kollegen vom Andreas-Gymnasium dankbar dafür ist, dass er seine Empörung nicht für sich behielt, sondern publik machte.
Es ist kein Zufall, dass die Zahlen bislang im Dunkeln blieben. Einige Schulämter lassen sich ungern in die Karten gucken, weil sie die Auseinandersetzung mit ihren Schulen scheuen. Der Tagesspiegel-Bitte, die Höhe der Lehrmittelzahlungen offenzulegen, wurde zum Teil nur zögerlich oder gar nicht entsprochen. Nur das gut organisierte und den Schulen zugewandte Neukölln reagierte sofort, Lichtenberg folgte schnell. Andere Bezirke wie Mitte blieben die Zahlen schuldig, sodass einzelne Schulen abtelefoniert werden mussten. Am Ende war klar, dass Friedrichshain-Kreuzberg seinen Schulen am wenigsten überweist.
"Man muss auch die Verwaltungsstruktur überdenken"
Die Intransparenz gepaart mit den großen Ungleichheiten bei der Mittelverteilung beunruhigt inzwischen auch Abgeordnete wie den einflussreichen SPD-Bildungspolitiker Lars Oberg. Als kürzlich durch eine Anfrage der Grünen bekannt wurde, dass die Bezirke ganz unterschiedlich bei der Finanzierung von Willkommensklassen für Kinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen vorgehen, brachte Oberg per Twitter mal eben die Abschaffung der Bezirke ins Spiel.
War das ernst gemeint? „Wenn sich keine sachgerechte Lösung finden lässt, dann darf es keine Tabus geben. Man muss dann auch die Verwaltungsstruktur überdenken“, empfiehlt der Abgeordnete aus Tempelhof-Schöneberg. Das könne dann „auch auf die Abschaffung der Bezirke hinauslaufen“. Entscheidend sei, dass die Stadt für die Bürgerinnen und Bürger gute Leistungen erbringt. „Wenn das ohne Bezirke besser geht, dann sollte man sie abschaffen.“ Schließlich erwarteten Eltern und Schüler zu Recht, „dass an den Schulen in ganz Berlin die gleichen Standards und die gleiche Ausstattung gelten und umgesetzt werden“, findet Oberg.
Er ist nicht der Einzige, der mit den historisch gewachsenen bezirklichen Kompetenzen hadert. Befeuert wird die Diskussion von den Zuständen, die im Baubereich herrschen: Nach den jahrelangen Sparrunden unter Klaus Wowereit und seinen Finanzsenatoren Thilo Sarrazin und Ulrich Nußbaum ist nicht mehr viel übrig geblieben von den einst auskömmlichen Mitteln. Inzwischen wird der Sanierungsbedarf allein bei den Schulen auf zwei Milliarden Euro geschätzt. Genau hat es bisher niemand ermittelt. Auch das hat mit der Geldnot zu tun: Das Personal in den Bezirken wurde so weit ausgedünnt, dass die Hochbauämter niemanden mehr haben, der für alle rund 50 Schulen pro Bezirk den konkreten Bedarf ermitteln könnte. Es gibt noch nicht einmal genug Personal, um die endlich bewilligten Bauvorhaben umzusetzen.
Eine zentrale Instanz für die Schul-Bauarbeiten?
Der Spardruck führt zu immer kurioseren Ergebnissen. So hat die Bildungssenatorin den Schulen zwar 7000 Euro pro Jahr zugedacht, damit sie damit eigene Vorhaben umsetzen können. Einige Bezirke fühlen sich personell aber nicht imstande, diese 7000-Euro-Posten formal richtig auszuschreiben, weshalb die grüne Finanzstadträtin von Friedrichshain-Kreuzberg, Jana Borkamp, flugs vorschlug, das Geld verfallen zu lassen. Andere Bezirke gestatten den Schulen nur noch ganz bestimmte einheitliche Bauvorhaben, die sie in einem Rutsch ausschreiben können, damit es weniger Arbeit macht. Das Nachsehen haben die betroffenen Schulen: Sie dürfen selbst eine derart bescheidene Summe wie die 7000 Euro nicht individuell ausgeben.
Bezirksbürgermeister haben Vorurteile gegen Kompetenzverlust
Angesichts der verfallenden Schulen beschäftigen sich die Grünen aktuell mit der Frage, ob man die Zuständigkeit für das Bauen nicht den Bezirken wegnehmen und einer zentralen Instanz zuschlagen sollte. Für die Berufsschulen ist das bereits geschehen, jetzt geht es um die rund 850 allgemeinbildenden Schulen. Am Donnerstag waren einige Grünen-Politiker in Hamburg, wo es bereits eine zentrale Behörde für den Schulbau gibt. „Wir wollen aber noch weitere Informationen sammeln, bevor wir uns positionieren“, kündigt die bildungspolitische Fraktionssprecherin Stefanie Remlinger an. Hamburgs Schulen waren baulich in einer ähnlichen Lage wie die in Berlin, als der Senat der Hansestadt entschied, eine zentrale Baubehörde zu schaffen.
Schulleiter Steiner will Ergebnisse sehen
Während die Bezirksbürgermeister und ihre Stadträte – allesamt Parteipolitiker – naturgemäß Vorbehalte gegen den Kompetenzverlust durch eine Zentralisierung von Aufgaben haben, gibt es bei den Fachleuten in den Schulämtern durchaus Sympathien für Obergs Vorstoß. „Denn ich finde es erschreckend, dass jeder Bezirk macht, was er will“, sagt ein erfahrener Beamter, der sich gut mit den Schulfinanzen auskennt. Er sei „kein Freund der Zentralverwaltung“, aber es könne nicht gutgehen, „wenn wir so mit den Kindern rumspielen“. Nicht genug damit, dass jedes Bundesland seine eigene Schulpolitik betreibe – Berlin setze noch mal zwölf Varianten drauf.
Er ist nicht der Einzige, der so denkt. „Es wäre besser, wir würden zur Senatsverwaltung gehören“, kommentiert die Schulamtsmitarbeiterin eines anderen Bezirks das Gefeilsche in den Bezirksämtern um die Verteilung der knappen Mittel. Allerdings fragt sie sich gleichzeitig, ob es wirklich besser würde, wenn die Zuständigkeit für die schulischen Belange völlig auf den Senat überginge. Schließlich habe die Senatsverwaltung für Bildung mit dem missglückten IT-Projekt „eGovernment@school“ gerade erst wieder bewiesen, dass auch sie nicht mit Geld umgehen könne.
Für Schulleiter Steiner sind das theoretische Diskussionen, für die er keine Zeit hat. Er will Ergebnisse sehen, will, dass seine Schüler endlich wieder einen Sportplatz haben; dass sein Keller trocken wird und dass der Hinterhof beleuchtet ist, wenn Schüler und Lehrer dort im Winter langgehen. Er will auch, dass Feuerwehrautos auf das Schulgrundstück fahren können, um zu löschen, was bisher nicht geht, weil es keine Sperrflächen gibt. Schon zweimal kam die Feuerwehr nicht durch.
Steiner will sein Feld bestellen, bevor er nach den Ferien aus persönlichen Gründen sein Andreas-Gymnasium verlässt und nach Steglitz-Zehlendorf wechselt. Er weiß, dass es dort kaum leichter wird als bisher, denn seine neue Schule ist noch maroder als die alte: Der 40-Jährige wird Leiter des Fichtenberg-Gymnasiums. Es soll laut Gutachten einen Sanierungsbedarf von mindestens 13,7 Millionen Euro haben. Woher dieses Geld kommen soll, weiß noch niemand. Klar ist nur: Steiner wird kämpfen. Wie bisher.
Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.
Lesen Sie hier auch den Kommentar von Susanne Vieth-Entus zu den maroden Schulen in Berlin: "Keine Macht den Bezirken".