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Präzisionsarbeit. Szilvia Wolf ist die Zehnte von links in der Girl-Reihe des Friedrichstadt-Palastes.
© Privat

Ballerina am Friedrichstadt-Palast: Durchs Leben getanzt

Szilvia Wolf kam als Balletttänzerin aus Budapest nach Ost-Berlin, heute bildet sie den Nachwuchs aus. Eine Begegnung zu ihrem 70. Geburtstag.

Sieben blonde Mädchen stehen an der Ballettstange der Tanzschule von Szilvia Wolf. Haare zum Dutt, weiße Bodys, die Füße in rosa Schläppchen. "Bauch und Po rein, Füße strecken und Battement tendu", sagt ihre Lehrerin. Sie sitzt auf dem Boden vor den siebenjährigen Ballerinen, rutscht hin und her, korrigiert hier ein nicht durchgestrecktes Bein und dort einen Bauch, der vergessen wurde einzuziehen.

Einigkeit mit Körper und Seele im Einklang mit der Musik, ein Moment für sich, der nach außen mit anderen geteilt wird: Das ist Ballett, das ist Ballett für Szilvia Wolf. Die gebürtige Ungarin verließ mit 19 Jahren ihre Heimat, um im Ausland zu tanzen. Begonnen im thüringischen Rudolstadt, arbeitete sie 13 Jahre auf der Bühne des alten Friedrichstadt-Palasts. Am 10. Januar hat sie ihren 70. Geburtstag gefeiert, auch heute begleitet sie jeden Tag der Tanz, nun in ihrer Schule.

"Ohne Eltern geht es nicht"

Wenn Szilvia Wolf sich an vergangene Zeiten erinnert, nimmt sie ihren Schwanenhals nach links, ihr Kopf mit Ballerinadutt rückt ins Profil, der Blick ihrer großen blauen Augen schweift ab. Irgendwohin, hoch, in eine andere Welt. "Ich habe fast mein ganzes Leben getanzt. Mit sechs Jahren nahm meine Mutter mich mit zur allerersten Ballettstunde", sagt sie mit einem Lächeln, sie ist zufrieden. "Ohne Eltern geht es einfach nicht, damals wie auch heute."

Ballerinas unter sich. Der tänzerische Nachwuchs kann sich bei Ballettlehrerin Szilvia Wolf einiges abgucken.
Ballerinas unter sich. Der tänzerische Nachwuchs kann sich bei Ballettlehrerin Szilvia Wolf einiges abgucken.
© Thilo Rückeis

Wolf zieht ihre rote Lesebrille auf, die an einer goldenen Kette um den Hals hängt. Beugt sich vor, um ein Album zu öffnen, die Brille rutscht bis auf die Nasenspitze, und eine Eintrittskarte der Budapester Oper fällt ihr in den Schoß: "Als Mädchen war ich viel im Ballett, diese Karte ist sogar signiert, von einem Idol." In einer Milchbar verdiente ihre alleinerziehende Mutter kaum genug, um den Unterricht der Tochter zu zahlen. "Die Karten waren teuer, aber das machte nichts", sie lacht, und ihre Augen betten sich in Fältchen. "Mit meinen Freunden wartete ich bis zur Pause, wir versteckten unsere Jacken und gingen mit den Zuschauern zurück in die Vorstellung."

Das Glück der kräftigen Knie

Nach der Schule trainierte sie zwei Mal die Woche. Mit elf Jahren tanzte sie an der Oper vor. "Die Jury warf einen kurzen Blick auf mich und es war vorbei – Knie zu kräftig", erinnert sie sich. "So kam ich an die namhafte Jeszenszky-Endre-Balettiskola, und das war mein Glück." Dort bekam Szilvia Wolf eine umfangreichere Ausbildung. Neben Tanz lernte sie Gesang, trat in den Rundfunkchor ein und nahm Klavierunterricht.

Heute erinnert sich Wolf an keinen Moment des Zweifels, dass Ballett der richtige Weg sei. Nur das Klavierspielen wollte sie aufgeben, durfte aber nicht. "Eines Tages kam ich zornig heim, setzte mich ans Klavier und konnte spielen und so meine Emotionen loslassen", sagt sie. "Es kommt der Punkt, an dem eine Aktivität nicht mehr Hobby ist, sondern zur Identität gehört. Und das gibt viel."

Ihre Zeit beim Friedrichsstadt-Palast war hart für Szilvia Wolf

Mit 16 entschied sie sich, Profitänzerin zu werden. Nach dem Abitur hieß das, jeden Tag zu trainieren. Wenn Wolf nicht im Studio war, putzte sie Speisesäle, um bei der Finanzierung zu helfen. "Über ein Kulturabkommen kam ich in die DDR", erzählt sie. Wolf sprach kein Deutsch, und so begann eine schwierige Zeit. "Ich war wie ein Rennpferd, das den Startschuss hört, aber nicht aus der Box kann." Szilvia Wolf lebte in der Provinz, resignierte und "wurde von Sahnetorte verführt. Doch ich erinnerte mich an mein Ziel, und bekam die Kurve."

"Das erste Mal als Berufstänzerin auf der Bühne – da war ich stolz. Wir tanzten ,Hänsel und Gretel‘. Ich, im weißen Trikot und Schleier, war eine Fee. Graziös sollte es sein, vor allem war es aber wackelig und nervös", sagt sie. Die Nervosität schwand, und Wolf setzte sich ein neues Ziel: aus den Theatern der Kleinstädte raus und auf die Weltbühnen. 1969 tanzte sie bei großen Häusern vor. Auch beim alten Friedrichstadt-Palast.

13 Jahre Showbusiness

Mit der Anstellung in diesem Haus brach eine harte Zeit an. Die Bühne bediente nicht nur Klassik, sondern auch die Moderne. Wolf musste viel dazu lernen. Dennoch fühlte sie sich im Friedrichstadt-Palast schnell zu Hause, die Angestellten wurden zur Familie. "Wir haben mit internationalen Stars gearbeitet, Artisten aus aller Welt kennengelernt und Freundschaften geschlossen. Film- und Fernsehauftritte kamen hinzu. Besonders Liveauftritte wie im ,Kessel Buntes‘ waren aufregend. Durch den Ruf des Hauses waren wir international gefragt", erinnert sich Wolf. "Diese Zeit ist eine Schatzkiste mit Erfahrungen, aus der ich auch heute bei meiner Arbeit als Lehrerin und Choreografin schöpfe."

Leben für den Tanz. Die spätere Ballettlehrerin beim Aufwärmen.
Leben für den Tanz. Die spätere Ballettlehrerin beim Aufwärmen.
© Privat

Als der alte Friedrichstadt-Palast baufällig war, wurde der Betrieb zwar eingestellt, doch das Ensemble blieb erhalten. Es ging auf Tournee im Land, Polen und Russland. 1974 bekam sie ihre Zwillinge, und als sie 1982 in Tänzerrente ging, war es noch zu früh für einen Auftritt im neuen Palast, der 1984 öffnete.

Nach 13 Jahren Showbusiness war sie müde und wollte andere Prioritäten setzen. "Ich war drei Jahre zu Hause. Die brauchte ich, um mich vom Bühnenstress zu regenerieren und auf die Familie zu konzentrieren." Szilvia Wolf wusste von Anfang an, dass es eine kurze Karriere wird, und konnte nach 16 Jahren Bühne ohne großen Trennungsschmerz aufhören. "Viele wurden ins neue Haus übernommen, blieben als Garderobieren, Regieassistenten oder Inspizienten." Kollegen wechselten, wurden wie Angelina Jankova Choreografin am Konzerthaus oder eröffneten wie Christine Ebersbach eine Tanzschule.

Ballett als roter Faden

Heute ist es mehr als 25 Jahre her, dass Szilvia Wolf ihre Tanzschule in Biesdorf gründete. Sie lebt ihr Leben im Ballett weiter, nur dass nun sie den Nachwuchs ausbildet. Mit vier Jahren beginnen die Jüngsten, bei ihr zu lernen. Einige tanzen zum Vergnügen, andere streben eine professionelle Karriere an. Jedes Jahr stehen alle gemeinsam in der Adventszeit am Gendarmenmarkt auf der Bühne.

Szilvia Wolf blickt auf erfüllte 70 Jahre zurück: "Ich habe das Glück, viele schöne und spannende Lebensabschnitte gelebt und dabei Ballett als roten Faden zu haben."

Lilith Grull

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