"The One" im Friedrichstadtpalast: Willkommen im Wunderland
„The One“, die neue Show im Berliner Friedrichstadt-Palast, macht vieles anders. Statt Hochdruckbeats setzt sie auf Entschleunigung und Poesie. Und wo bitte bleibt die Girl-Reihe?
Hallo, was ist denn hier los? Die Riesenbühne des Friedrichstadt-Palasts zerbricht in zwölf Teile, dann senkt sich ein schwarzer Vorhang herab, und das Publikum wird in die Pause geschickt. Ganz ohne Girl-Reihe. Dabei ist die Formation aus 40 Tänzerinnen, die synchron ihre langen Beine schwingen, doch das Markenzeichen des Berliner Showtempels. Schon deshalb, weil keine andere Revue auf der Welt so viel perfekt paradierendes Personal aufbieten kann.
Aus diesem Grund werden die Girls in der Regel zweimal herausgeschickt: zum ersten Finale und natürlich zum großen Abschlussbild. Außer bei „The One“. Die neue „Grand Show“ des Hauses macht sowieso fast alles anders als sonst. Sie stellt förmlich das Revue-Genre auf den Kopf, jene Spielart der leichten Unterhaltung, die in Berlin seit 150 Jahren kultiviert wird, die hier einige ihrer schillerndsten Blüten trieb, in den „Donnerwetter, tadellos“Glanzzeiten des Kaiserreichs, im Vergnügungstaumel der Weimarer Republik, und, ja, auch während der Versuchsphase eines Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden.
1984 schenkte die SED-Führung ihren Bürgern das heutige Haus, als Ersatzbau für Hans Poelzigs legendäre Stalaktiten-Halle, die schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Friedrichstraße, stand. Hier war ein Glamour möglich, der dem Rest der Deutschen Demokratischen Republik abging. Alle Modernisierungsbemühungen, die seit der Wende im Friedrichstadt-Palast unternommen wurden, überstand die Girl-Reihe unbeschadet. Bis jetzt. Und selbst als die Damen sich bei der Uraufführung am Donnerstag zum guten Schluss dann doch noch formieren dürfen, wirft Regisseur Roland Welke den mit Federschmuck und Netzstrumpfhosen ausstaffierten Ladys symbolisch Knüppel zwischen die Beine. In Zeitlupe nämlich schwingen sie zunächst nur ihre Gliedmaße – was übrigens balancetechnisch vermutlich noch schwerer zu bewältigen ist als in Can-Can-Geschwindigkeit. Als dann endlich das Tempo anzieht, der Takt die gewohnte Schlagzahl erreicht, brandet erleichterter Jubel im Saal auf – woraufhin die Musik sofort wieder in Slow Motion zurückfällt.
Der Name Jean-Paul-Gaultier soll die Massen anlocken
Sehr mutig ist also diese neue Produktion des Hauses, für die Intendant Berndt Schmidt immerhin elf Millionen Euro in die Hand genommen hat, sie soll möglichst in den kommenden zwei Jahren en suite in dem 1800-Plätze-Haus laufen. Die Erfolgsmesslatte liegt bei 780 000 Besuchern. So viele kamen zu den 478 Aufführungen des Vorgängers „The Wyld“. Eine knallige, laute Produktion war das, von Thierry Mugler mit grellen Kostümen ausgestattet, die ganz auf technische Überwältigungseffekte setzte, auf druckvolle Beats und explizite Erotik.
Diesmal steht der Name von Jean-Paul Gaultier auf den Plakaten, um die Massen anzulocken. 500 Outfits hat er kreiert, und in der Eröffnungsszene sieht es dann auch so aus, als würde das hier eine Haute-Couture-Modenschau. Denn da stolzieren und posieren die Tänzer in den typischen Gaultier- Looks: Es gibt quer gestreifte Seeleute und Frauen mit Kegel-BHs, Lederkerle, lackglänzende SM-Typen und Männer im Schottenrock. In einem lange schon leer stehenden Varieté findet eine Clubnacht statt, bei der sich ein junger Mann in die glorreiche Vergangenheit des Etablissements zurückträumt – das hat zuvor eine Stimme aus dem Off erläutert. Und sie wies explizit darauf hin, dass hier keine durchgehende Geschichte zu erwarten sei. Weil Revuen nun einmal nach dem Collageprinzip funktionieren.
Was sich dann aber in den kommenden zweieinhalb Stunden in freier Assoziationsfolge vor den Augen und Ohren des Publikums entfaltet, ist pure Poesie. Und gleichzeitig die Einladung zur Entschleunigung. Im komplett neu komponierten Soundtrack folgt eine Ballade auf die andere, dazwischen erklingen Ambient- Sounds. Die Lichtstimmungen sind schattig-märchenhaft, statt der gigantischen LED-Wände, die in den vergangenen Shows die Optik dominierten, gibt es vier Fragmente aus der Stuckdecke des ehemaligen Vergnügungstempels, die über der Szenerie schweben und auf die nostalgische Ornamente mit Jugendstil-Touch projiziert werden.
Der Abend feiert die Auflösung aller sexuellen Gewissheiten
Es ist eine Fantasy-Traumwelt, die Roland Welke zusammen mit seinen sechs Choreografen entstehen lässt. Selbst die Akrobatik-Acts zielen diesmal nicht darauf ab, beim Betrachter Herzrhythmusstörungen auszulösen, sondern wollen schlicht verzaubern. Mal erinnert das an „Peter Pan“, mal an „Alice im Wunderland“, an „Harry Potter“-Filme, Jahrmarktszenen oder auch romantische Handlungsballette. Der größte Coup des Regisseurs aber ist, dass er sein teuerstes Gimmick gar nicht benutzt.
Nach der Pause ziehen sich die geborstenen Bühnenbodenelemente wie von Geisterhand in den Hintergrund zurück und geben eine riesige Wasserfläche frei. Doch während nun alle Besucher darauf warten, dass im grünlich schimmernden Nass eine wilde Schaumparty mit Wet- T-Shirt-Contest losgeht, bleiben die Tänzerfüße trocken. Der gesamte zweite Teil der Revue bezieht seine Spannung daraus, dass hier eben nicht herumgespritzt wird, dass sich keine Fontänen aus der Tiefe erheben, dass kein Wasserballett stattfindet. Stattdessen tollen niedliche Neopren-Gnome an der Waterkant herum, Hauptdarsteller Roman Lob ringt am Ufer mit einer Horde Aliens, die aussehen wie aus Gunther von Hagens Plastinat-Museum entsprungen.
Viele der Kostüme von Gaultier schließlich lösen ganz bewusst die Geschlechtergrenzen auf. Und das ist die dritte Innovation an diesem wahrlich außergewöhnlichen Abend. Denn erfunden wurde das Genre ja einst, um männliche Schaulust zu befriedigen. Im vergangenen Jahrzehnt kam es dann zu einer Gleichberechtigungsbewegung, ließen auch die Tänzer die Hüllen fallen. In seinen avanciertesten Momenten feiert „The One“ nun die Auflösung aller sexuellen Gewissheiten, das Androgyne, das Rätselhaft-Zwittrige. Feminines und Maskulines verschmelzen miteinander in Couture-Kreationen von zarter Sinnlichkeit, bei denen fleischfarbener Stoff die Nacktheit ihrer Träger nur behauptet – und damit den Voyeurismus sublimiert. Eine Palast-Revolution.
Friedrichstadt-Palast, Friedrichstr. 107, Mitte, Di – Fr 19.30 Uhr, Sa 15.30 und 19.30 Uhr, So. 15.30 Uhr. Infos: www.palast.berlin.de
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