Silvio-Meier-Demo und Neonazis: Durch Marzahn nach Friedrichshain
Zur Erinnerung an Silvio Meier, der 1992 von einem Neonazi erstochen wurde, wollen heute Tausende gegen Neonazis demonstrieren. Die Rechten starten ebenfalls eine Aufmarsch - und veröffentlichen einen "Steckbrief" gegen Journalisten.
Wegen des Neonaziaufmarschs in Marzahn-Hellersdorf verschiebt die linke Szene sogar ihre „Silvio-Meier-Demo“ an diesem Sonnabend. Diese startet nun erst um 18 Uhr in Friedrichshain am U-Bahnhof Samariterstraße. Zuvor wollen Linke und Autonome in Marzahn-Hellersdorf gegen die rechte Demo protestieren – und das offensichtlich mit allen Mitteln. „Wir werden den 22. November für die Neonazis zum Desaster machen“, heißt es in einem Aufruf des Silvio- Meier-Bündnisses. „Erst wird ihr Aufmarsch verhindert und anschließend werden wir mit einer kraftvollen Silvio-Meier-Demonstration ein deutliches antifaschistisches Zeichen setzen“, teilte Bündnissprecher Stefan Schmidt mit.
Erstmals wird die Demo nach Kreuzberg ziehen. Nach dem üblichen Marsch durch den Friedrichshainer Kiez soll es über die Spree zum Kottbusser Tor gehen und über die Reichenberger Straße dann zum Spreewaldplatz. Durch die Ohlauer Straße, vorbei an der immer noch von einigen Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule, darf die Demo nicht ziehen. Die Polizei verlegte den Protestzug in die parallele Forster Straße. Erwartet werden 4000 Menschen, also ungefähr so viele wie in den Vorjahren.
Die Veranstaltung, die in diesem Jahr unter dem Motto „Antifa heißt Kampf ums Ganze“ steht, erinnert an eine politisch motivierte Bluttat: Im U-Bahnhof Samariterstraße war der 27-jährige Hausbesetzer Silvio Meier am 21. November 1992 verblutet, nachdem ein Neonazi auf ihn eingestochen hatte. Im vergangenen Jahr hatte der Bezirk die Gabelsbergerstraße direkt am U-Bahnhof in Silvio-Meier-Straße umbenannt. Wegen dieser blutigen Vergangenheit ist die Stimmung ohnehin aufgeladen. Dass genau an dem Tag nun Neonazis mobilisieren, spitzt die Lage noch zu.
Die Rechten ziehen von der Raoul-Wallenberg-Straße zum Alice- Salomon-Platz
Die Polizei wird mit deutlich mehr als 1000 Beamten im Einsatz sein, um beide Lager zu trennen. Am Freitag wurde auch die Route der Rechten veröffentlicht, diese ziehen von der Raoul-Wallenberg-Straße über mehrere Kilometer bis zum U-Bahnhof Hellersdorf zum Alice- Salomon-Platz.
Nach Polizeiangaben erwarten die Veranstalter unter dem Motto „Gegen Asylmissbrauch den Mund aufmachen“ 300 Teilnehmer. Die linke Szene spricht dagegen von „einem der größten Aufzüge der rassistischen Rechten seit Jahren in Berlin und Brandenburg“, zu dem vermutlich 1000 Menschen kommen – und zwar von NPD, anderen militanten Neonazis und „rassistischen Anwohnern“ An neun Orten entlang der Route wurden Gegendemonstrationen angemeldet. Wie in anderen Bezirken ist in Marzahn-Hellersdorf eine Containersiedlung für Flüchtlinge geplant. Die NPD nutzt diese Situation aus und versucht, Bürgerinitiativen zu unterwandern.
Neonazis veröffentlichen "Steckbrief" mit Fotos und Namen von Fotojournalisten
Im Vorfeld der Demonstration haben Neonazis eine Art Fahndungsplakat mit den Porträts und Namen von 18 Foto-Journalisten verbreitet, die teils auch für den Tagesspiegel und andere Berliner Tageszeitungen tätig sind und die Proteste gegen neue Asylheime dokumentieren. Über den Steckbrief steht: „Achtung Antifa Fotografen“. Erstmals tauchte es am Donnerstagabend auf einer Seite von Gegnern eines neuen Flüchtlingsheims im Köpenicker Allende-Viertel auf. Auch die Kennzeichen von Autos von Journalisten wurden nach dem Protestzug am Montagabend in Marzahn-Hellersdorf von Neonazis intern verbreitet.
Zugleich erheben die Fotografen, die bei den Protesten gegen Flüchtlingsheime in Marzahn-Hellersdorf, Köpenick und Buch tätig waren, schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Auch die Journalistengewerkschaft dju von Verdi schaltete sich sein. Grund sind mehrere Übergriffe von Neonazis auf die Fotografen, die sich bei den Aufmärschen vor den Augen der Polizei ereigneten. Teilnehmer des Aufmarsches sollen Journalisten bedroht und in ihrer Arbeit behindert haben, dabei riefen sie – wie in Videoaufnahmen dokumentiert - lauthals: „Deutsche Presse auf die Fresse.“ Polizeibeamte sollen sich trotz mehrerer Hinweise nicht eingegriffen und die Pressevertreter nicht ausreichend geschützt haben.
Die Polizei wies die Vorwürfe zurück. Zu den Übergriffen am Montag in Marzahn-Hellersdorf hieß es, der Polizei sei bekannt „dass es in Zusammenhang mit derartigen Demonstrationen in der Vergangenheit“ und auch in Marzahn „zu Streitgesprächen beziehungsweise Meinungsverschiedenheiten zwischen Demonstranten und Medienvertretern kam“. Dass Medienvertreter bedroht worden seien, sei den Beamten vor Ort gegenüber nicht angezeigt worden. „Generell gilt, dass gezielte Angriffe von Versammlungsteilnehmern gegen außenstehende Dritte, eben auch Pressevertreter, polizeilich unterbunden und nach Möglichkeit strafrechtlich verfolgt werden“, erklärte der Sprecher.
In einem Brief hat sich nun dju-Landesgeschäftsführer Andreas Köhn direkt an Innensenator Frank Henkel (CDU) und Polizeipräsident Klaus Kandt gewandt. Darin beklagt er Übergriffe auf Fotografen am Montag in Marzahn-Hellersdorf. Das „hohe Gut der Pressefreiheit und die damit verbundene Unversehrtheit von Pressevertretern“ scheine „kein Anliegen der Berliner Polizei“ zu sein, kritisiert Köhn. Er bezieht sich auf Aussagen von Beamten bei dem von Neonazis durchsetzten Protestzug gegen neue Flüchtlingsunterkünfte. Die Beamten sollen Journalisten gesagt haben: „Wir raten Ihnen auf Distanz zu gehen, da wir Ihre Sicherheit nicht gewährleisten können.“ Die sei im höchsten Maße inakzeptabel, erklärte Köhn.
Mit Blick auf den am heutigen Samstag angekündigten Protest der rechten Szene gegen die Asylunterkunft in Marzahn-Hellersdorf mit erwarteten 1000 Teilnehmern schreibt Köhn an Henkel und Kandt: Er erwarte „den Schutz der grundgesetzlich verankerten Pressefreiheit und deren Vertreter durch ihre Behörde“. Das auf Facebookseiten von Asylheim-Gegnern verbreitete Fahndungsplakat mit Fotos von Pressefotografen „lässt nichts Gutes ahnen“. Es dürfe nicht zulassen werden, dass „mit Hilfe von Steckbriefen zu Anschlägen auf die Pressefreiheit und ihre Vertreterinnen und Vertreter aufgerufen wird“.
In der Tat gehen die Berliner Neonazis nach einem bekannten Muster vor. Die auf dem Steckbrief mit 18 Journalisten verbreiteten Fotos stammen teils aus der sogenannten Feindesliste des „Nationalen Widerstand Berlin“ (NW Berlin). Auf der Internetseite des NW Berlin rief die militante Neonaziszene Berlins über Jahre offen zu Gewalt gegen Gegner auf. Nach einer Reihe von Anschlägen auf Politiker, gegen Rechts engagierter Bürger, Büros demokratischer Parteien, eine Jugendeinrichtung der Falken in Neukölln und eine Asylunterkunft kam, schritten die Sicherheitsbehörden 2012 ein. Per Rechtshilfeersuchen an die USA wurde die Seite von NW Berlin im Netz gelöscht. In den 200 Einträgen der Liste waren Journalisten, Gewerkschafter, engagierte Bürger, linke Aktivisten, Politiker und Treffpunkte der linken Szene verzeichnet, samt Fotos und Adressen. Offen drohten die Neonazis auf der Seite ihren Gegnern, mit der Liste benannten sie für die rechtsextreme Szene potenzielle Ziele für Angriffe. Einer der Köpfe hinter NW Berlin war der Berliner NPD-Landeschef Sebastian Schmidtke, jetzt spielt er auch bei den Protesten gegen neue Flüchtlingsunterkünfte eine zentrale Rolle.
Die Neonazis agieren zwar nicht mehr unter dem Signum „NW Berlin“, sind aber weiter aktiv. Und sie gehen wieder offensiv gegen ihre Gegner, Journalisten und Mitglieder von Willkommens-Initiativen für Flüchtlinge, vor - auch bei den Protesten am Montag in Marzahn. Zehn Neonazis aus dem Umfeld des NW Berlin sollen laut Augenzeugen allein dafür abgestellt gewesen sein, um Journalisten zu behindern und zu bedrängen.