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Die Nachtigall bezaubert alleine mit ihrem Gesang. Mit besonders schnellen und hohen „Schluchztönen“ verdrehen Männchen den Weibchen den Kopf.
© imago/Ardea

Berlin ist die Stadt der Nachtigall: Diese Vögel singen laut für Sex

Sie tun es nachts, sie tun es laut – Nachtigallen werben mit bis zu 500 Strophen um Partner. In Berlin gibt es besonders viele. Ein Buch beschreibt den Sound.

Es ist ruhiger als sonst in diesem Frühjahr in Berlin – mit Ausnahme der Hecken: Seit einigen Tagen kehren die Nachtigallen aus ihren Winterquartieren zurück in die Hauptstadt. Hier singen sie nachts in einer Lautstärke und Varianz, die einen verzücken muss, sofern man nicht gerade schlafen will.

Wen die Nachtigall stört, der sollte vielleicht aufs Land ziehen, wo sie seltener ist als in Berlin, ihrem bundesweit größten Brutgebiet. Passend zu ihrer Rückkehr ist im Rowohlt Verlag gerade die deutsche Übersetzung eines Buches zu ihren Ehren erschienen, das der US-amerikanische Philosoph und Jazzmusiker David Rothenberg während eines Sabbaticaljahres in Berlin und in den Jahren danach bei regelmäßigen Besuchen jeweils im Mai recherchiert hat: „Stadt der Nachtigallen – Berlins perfekter Sound“.

Begabte Nachtigall-Männchen beherrschen bis zu 500 Strophen

Mit Klarinette und Mikrofon hat er sich nachts in ihren Revieren herumgetrieben; es gibt auch eine CD davon und das Video einer Live-Session auf Youtube, an der eine estnische Sängerin teilnimmt und eine Nachtigall aus dem Treptower Park. Es ist ein ungewohntes Arrangement für die an Dreivierteltakt und Ufftata gewöhnten Durchschnittsmenschenohren.

Der Harvard-Absolvent Rothenberg, 57, hat schon mit anderen Tieren musiziert. Forscherinnen, auf die er in Berlin zufällig traf, verdächtigten ihn, ihre Untersuchungsobjekte durch seine Animationen verdorben zu haben. Während er auch für die Nachtigallen musizierte, singen die für ihresgleichen, genauer gesagt: für die Weibchen. „Die werden quasi vom Himmel geflötet“, präzisiert Derk Ehlert, Wildtierexperte bei der Umweltverwaltung: Sie ziehen – ebenso wie die Männchen – nachts und allein.

Da sie im Dunkeln nicht allzu gut sehen, gilt ihnen der Gesang der einige Tage zuvor zurückgekehrten Männchen als Indiz für die Qualität eines Reviers. „Die Stino-Nachtigall hat gut 120 Strophen drauf“, sagt Ehlert. „Es gibt aber auch begabtere, die 400 bis 500 Strophen beherrschen.“

Solche Ausnahmetalente fänden sich morgens durchaus in Gesellschaft mehrerer Weibchen. „Deshalb halten sich manche Stino-Männchen in der Nähe der talentierten auf, um auch ein Weibchen abzubekommen.“ Vor allem das „Schluchzen“, also die allmählich schneller werdende Reihe von Pfeiftönen, verdrehe den Nachtigallinnen den Kopf.

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Wer besonders gut singt, bewohnt nach weiblicher Nachtigallenlogik oft ein besonders gutes Revier – mit reichlich Gestrüpp sowie Insekten als Futter, wie es sich beispielsweise entlang von Kanälen und Bahntrassen, aber auch in vielen der im internationalen Vergleich eher naturbelassenen Berliner Parks findet.

Für die Familienplanung ist es essentiell, nachts laut zu singen

Zwar sind auch für andere Vögel die dunklen Stunden eher eine missliche Unterbrechung der immerwährenden Futtersuche als eine Ausschlafzeit. Aber für die Familienplanung der Nachtigallen ist es essentiell, möglichst nachts und möglichst laut zu singen – zumal sie keine Zeit zu verlieren haben: Der Weg von Südafrika ist ebenso weit wie der ab Ende August fällige Rückflug dorthin.

Bei gegenseitigem Gefallen wird nach wenigen Tagen mit dem Nestbau begonnen, weiß Ehlert. Gebrütet wird bodennah in einem Gefäß hauptsächlich aus altem Eichenlaub, das in trockenen Frühjahren wie diesem allerdings schwer zu fixieren ist.

Wenn die Familienverhältnisse geklärt sind, lässt wie bei den meisten Vogelarten die Sangesfreude rasch nach und die Versorgung rückt in den Mittelpunkt. Hinzu kommt später im Jahr der Gesangsunterricht der männlichen Nachkommen: Deren Gesang entstehe aus Vaters Vorbild, Mitgehörtem aus der Nachbarschaft und eigenen Kompositionen, erklärt Derk Ehlert. Wenn es so ruhig ist wie zu Coronazeiten, kann der nächtliche Gesang fast einen Kilometer weit zu hören sein. Rechnerisch genügen die etwa 1300 Berliner Brutreviere also, um die Stadt nahezu lückenlos zu beschallen. Tatsächlich verteilen sie sich nach Auskunft von Ehlert über alle Kieze; allein im Tiergarten gebe es mehrere Dutzend Brutreviere.

Nachtigall, Lerche...oder gar Sprosser?

Nun behaupten Halbwissende oft, die Berliner und märkischen Nachtigallen seien in Wahrheit Sprosser. Tatsächlich handelt es sich bei denen um nahe Verwandte – ebenfalls Sperlingsvögel, nur etwas dunkler und gleichmäßiger graubraun. Außerdem singen sie ihre Strophen deutlicher voneinander abgesetzt und mit mehr Wiederholungen als Nachtigallen.
Nach Auskunft von Ehlert ist die Unterscheidung denkbar einfach: Das Verbreitungsgebiet der übers östliche Mittelmeer ziehenden Sprosser befinde sich fast komplett östlich der Oder – mit ein paar Ausnahmen in der Uckermark und Vorpommern.

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Alles, was südlich und westlich davon singt, seien Nachtigallen, die die Westroute über Gibraltar nehmen, um nach zwölftausend Flugkilometern, sagen wir, ein Brombeergestrüpp am Betriebsbahnhof Schöneweide zwischen Stromschiene und Adlergestell als Ort zum Kinderkriegen zu erwählen. Und nebenbei die Menschen für ein paar Tage so zu beeindrucken, dass die ihnen Gedichte und Lieder widmen – oder wenigstens Sprüche im Stil von „Nachtigall, ick hör dir trapsen“.

Woher „Nachtigall, ick hör dir trapsen“ wirklich kommt

Dieses Berliner Original ergab sich wohl aus den Anfangszeilen zweier Strophen aus der Liedgutsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ („Nachtigall, ich hör’ dich singen“ / „Nachtigall, ich seh’ dich laufen“).
Ein Geschöpf, das sich nicht ziert, neben der S-Bahn zu brüten, kann mit solchem Klamauk kaum gekränkt werden. Und vormachen kann der Nachtigall beim Gesang ohnehin niemand was. Außer vielleicht ein Artgenosse.

Das Buch „Stadt der Nachtigallen – Berlins perfekter Sound“ von David Rothenberg ist beim Rowohlt Verlag erschienen und kostet 26 Euro.

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