Nachtigallen in Berlin: Die Meistersinger vom Treptower Park
Mit kunstvollen Liedern werben männliche Nachtigallen um weibliche Gunst. Nicht einmal der Lärm einer S-Bahn-Trasse kann sie abschrecken - sie singen einfach umso lauter.
Jedes Jahr im Frühjahr gehen sie wieder los, die Gesangs-Battles im Treptower Park. Anders als bei den einschlägigen Casting-Shows im Fernsehen kann man die Kontrahenten allerdings nicht sehen. Denn sie verstecken sich im Gebüsch und singen mitten in der Nacht.
Die Juroren wissen nachher dennoch alles über die Sänger, was sie neben deren musikalischem Talent für ihre Entscheidung brauchen: Größe, Alter, Erfahrung, Hilfsbereitschaft. Sie erkennen das, ohne je einen Blick auf den Kandidaten geworfen zu haben – allein am Gesang. Das haben Berliner Wissenschaftler herausgefunden. Sie erforschen nicht etwa menschliche Musiktalente, sondern Nachtigallen auf Partnersuche. Die Sänger sind rivalisierende Männchen, die Juroren sind die Weibchen. Und das Gebüsch im Treptower Park ist die Bühne.
Schon lange haben Biologen gerätselt, warum Nachtigallen, diese kleinen unscheinbaren Vögelchen, so unfassbar vielseitig singen, und warum sie dies nachts tun. Sie beherrschen bis zu 260 verschiedene Strophen und trällern vor allem zwischen zwei und vier Uhr. Die meisten Vögel beginnen damit erst, wenn der Morgen graut. Der Buchfink etwa begnügt sich mit maximal fünf Strophen.
Dem menschlichen Ohr bleiben viele Details verborgen
Allmählich kommen die Forscher den Nachtigallen auf die Schliche. Ein Team um die Ornithologin Silke Kipper erforscht die Nachtigallen im Treptower Park seit über zehn Jahren. Bislang arbeitete sie an der Freien Universität Berlin und führt ihr Projekt hier weiter, obwohl sie vor Kurzem zur TU München gewechselt ist. 30 Männchen und einige Weibchen haben ihre Mitarbeiter beringt – dazu eine weitere Gruppe Nachtigallen in Golm westlich von Berlin.
Jedes Jahr, wenn die Vögel aus ihrem Winterquartier südlich der Sahara zurückkehren, suchen die Forscher sie wieder auf, um ihren Gesang mithilfe von Parabolantennen aufzunehmen. Mit speziellen Computerprogrammen analysieren sie die Lautfolgen und Tonhöhen des Gesangs und stoßen dabei auf viele erstaunliche Details, die dem menschlichen Ohr oft verborgen bleiben – offensichtlich aber nicht den Nachtigallweibchen.
Ein gestandenes Nachtigallmännchen beherrscht rund 180 verschiedene Strophen, jeweils wenige Sekunden lange Lautfolgen, auf die stets eine Pause folgt, um dann eine andere Folge zu trällern. Etwa alle fünf Minuten baut es in die melodiösen Pfeifstrophen Folgen mit schnarrenden, tieferen Tönen ein, sogenannte Brummellaute. „Wir nennen das auch Bassstrophe“, sagt Kipper. Wenn man längere Zeit hinhöre, könne man erkennen, dass sich die Strophen wiederholen.
Wer variantenreicher singt, hilft öfter bei der Brutpflege
Allerdings werden nicht alle hintereinanderweg und dann wieder von vorn gesungen: „Mit Netzwerkanalysen haben wir entdeckt, dass der Reihenfolge gewisse Muster innewohnen. Bestimmte Strophen etwa werden immer zusammen gesungen. Und das Interessante ist, dass diese Muster bei älteren, erfahreneren Männchen geordneter erscheinen. Sie verfügen sozusagen über ausgefeiltere, regelhaftere Satzkonstrukte. Darauf fahren die Weibchen ab.“ Letzteres haben die Forscher herausgefunden, indem sie Weibchen kurzfristig in einer Voliere festgesetzt und ihnen den Gesang verschiedener Männchen vorgespielt haben. „Bei dem Vortrag älterer Männchen piepsten, hüpften und flatterten sie eindeutig mehr herum – sie waren aufgeregter.“
Nicht nur das Alter hören die Weibchen heraus, sondern zusätzlich die Größe und Fitness eines potentiellen Partners: „Diese Eigenschaften korrelieren mit der Häufigkeit und Präzision der Pfeifstrophen“, sagt Kipper. In den Bassstrophen dagegen ist offenbar eher der Paarungsstatus eines Männchens kodiert. Sie klingen bei jedem Männchen gleich. Computeranalysen offenbaren jedoch von Männchen zu Männchen winzige Unterschiede in Tonlängen und -höhen, die sich zudem im Laufe der Saison verändern. Die Vögel verraten sogar, wie intensiv sie sich später an der Brutpflege beteiligen wollen, so die neuste Erkenntnis, veröffentlicht im Juni dieses Jahres: „Männchen mit besonders variantenreichem Repertoire füttern die Jungen im Nest deutlich häufiger als der Durchschnitt, der bei 16 Mal pro Stunde liegt. Wir haben die Weibchen zwar nicht gefragt, ob sie diesen Zusammenhang erkennen, sind uns aber ziemlich sicher."
Die Jungs stehen auf der Bühne. Die Mädels entscheiden, wer ihnen zusagt
Wie praktisch, dass die Weibchen zur Beurteilung all dieser Kriterien oft direkt vergleichen können. Sehr häufig singen nämlich zwei benachbarte Männchen gleichzeitig in einer Art Frage- und Antwortspiel. Wobei sie sich die Hälfte bis drei Viertel ihres Strophen-Repertoires sogar teilen. Ein Tier legt eine Tonfolge vor und der Nachbar wiederholt sie. „Die Frage bis dato war, ob es sich dabei um ein Duett oder ein Duell handelt“, erläutert Silke Kipper. Die Forscher glauben inzwischen, dass es sich eher um einen Gesangswettstreit handelt – ganz ähnlich denen in Casting-Shows: „Die Jungs stehen auf der Bühne und singen abwechselnd. Und die Mädels entscheiden, wer es besser gemacht hat, beziehungsweise, wer ihnen mehr zusagt.“
Dabei gibt es durchaus unterschiedliche Ansprüche: So wäre denkbar, dass ein Weibchen, das neu in der Gegend ist, ein erfahrenes Männchen mit geordnetem Satzbau bevorzugt, weil sich dieses im Treptower Park bestens auskennt. Ein Weibchen hingegen, das dabei keine Hilfe braucht, bevorzugt vielleicht fitte, große Partner mit ausgeprägten Pfeifstrophen.
Anhand des Gesangs findet also jeder Topf seinen Deckel. Und zwar immer nachts. Warum, hat der Schweizer Ornithologe Valentin Amrhein bei Studien im Süd-Elsass aufgeklärt: „Weil die Weibchen es so wollen!“ Nachtigall-Damen besuchen die Reviere der Männchen zwischen zwei und vier Uhr, um sich Partner zu suchen. Darum präsentieren sich die Männchen auch zu dieser Zeit. Hat eines eine Partnerin gefunden, verstummt es nachts und zwitschert nur noch morgens, um sein Revier zu verteidigen.
So laut wie eine Kettensäge in einem Meter Entfernung
Am Lärm der Stadt stören sich die Nachtigallen anscheinend nicht sonderlich. Sie halten sich sogar besonders gern direkt an S-Bahn-Trassen und Straßen auf und singen dann einfach lauter: Bis zu 95 Dezibel konnten die Forscher bereits messen. Das ist so laut wie eine Kettensäge in ein Meter Entfernung. Kein Wunder, dass die Nachtigallen sich nicht einmal von Open-Air-Konzerten im Treptower Park vertreiben lassen. Entscheidend ist für sie die Ausstattung der Landschaft mit guten Singwarten und Nistmöglichkeiten. Hecken und Gebüsche brauchen Nachtigallen dafür, und da hat Berlin mehr zu bieten als die meisten anderen Städte. Darum gilt die Hauptstadt auch als Hauptstadt der Nachtigallen.
Trotz aller Lärmtoleranz könnte der nächtliche Balzgesang eine Art ökologische Nische darstellen. Denn wenn es rundherum still ist, können die Weibchen die feinen Unterschiede im Gesang besonders deutlich hören. Bleibt dennoch die Frage: Wozu 180 Strophen, wenn es, wie beim Buchfink, auch drei für die Partnerwahl tun? „Wir wissen es noch nicht genau“, sagt Silke Kipper. „Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass in den Strophen wirklich vielerlei Informationen stecken. Die Männchen anderer Vogelarten senden diese Informationen vielleicht auf anderen Kanälen.“ So trage ein Buchfink-Männchen zum Beispiel ein farbenprächtiges Federkleid, das ebenfalls gewisse Signale birgt. Entsprechend weniger differenziert muss es singen.
Das Nachtigallmännchen dagegen ist genauso unscheinbar braungrau wie das Weibchen. Womöglich packt es also all seine Qualitäten in den Gesang. Es wäre also quasi der Paul Potts unter den Singvögeln – oder Andreas Kümmert.