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Hier leben, hier wählen. Untersuchungen belegen, dass Eingebürgerte genauso von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wie alle anderen Wahlberechtigten.
© Kai-Uwe Heinrich

Türken bei der Wahl: Die Zeit ist reif fürs Mitbestimmen

Mit oder ohne deutschen Pass: Was bewegt türkischstämmige Berliner, zur Wahl zu gehen, und was hält sie davon ab?

In einem Café in meiner Nachbarschaft erzählt mir die Besitzerin, dass sie selbst nicht wählen könne. Sie habe keinen deutschen Pass, weil sie sich von ihrem türkischen nicht trennen mag. Sie gehört zu den rund 500 000 echten Ausländern, die zwar seit Jahrzehnten anerkannte Berliner sind, aber trotzdem nicht wählen dürfen. Ihr Sohn könnte allerdings, interessiert sich aber nicht für Politik. Was ihn von anderen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund damit nicht sonderlich unterscheidet. „Ich sage es ihm immer wieder, dass er wählen gehen soll, er zuckt aber nur mit den Schultern“, sagt die Cafébesitzerin. Im Gegensatz zum Sohn beschäftigt sich die Mutter mit den politischen Themen der Stadt: Von den fehlenden Kita-Plätzen, den steigenden Mietpreisen, der Ausbildungsplatzsituation und den schlecht bezahlten Arbeitsplätzen. Und sie spricht davon, dass es bisher niemand fertiggebracht habe, dafür zu sorgen, dass sie endlich einen Doppelpass bekomme. „Ach ja“, ruft sie noch hinterher: „Ich werde meinen Sohn schon noch zum Wählen bringen, wozu hat er denn sonst einen deutschen Pass?“

Meine nächste Station ist Kreuzberg. In der Adalbertstraße und der Oranienstraße hängen eine paar verlorene Plakate. Die Schlauchbinder, die zur Befestigung der Werbetafeln dienen sollten, geben schon merklich nach. Alles wirkt ein wenig schief und improvisiert. Ein türkischstämmiger Kandidat der CDU, der durch Law-and-Order-Parolen die traditionellen Wähler türkischen Ursprungs ansprechen möchte, hängt neben der Piratenpartei und einer Gruppierung, die mit dem Slogan „Fahrräder brennen nicht“ wohl eher auf einen Nachwuchspreis bei „Jugend forscht“ spekuliert als auf Wählerstimmen. Es herrscht eine friedliche Spätsommerstimmung in Kreuzberg. Keine Diskussionen, keine Spannung. Wen man auch anspricht, winkt freundlich ab. Von „ist doch egal was man wählt“ bis „um enttäuscht zu sein, reicht mir schon mein eigenes Leben, da brauche ich keine Politik“.

Untersuchungen belegen, dass Eingebürgerte in gleichem Umfang von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wie alle anderen Wahlberechtigten. Die Türkischstämmigen waren immer eine feste Größe für SPD und Grüne. CDU und FDP konnten in diesem Umfeld nie nennenswert punkten.

Türkischstämmige Berliner verraten, wen sie wählen - und warum. Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Tahir ist Bürokaufmann in Kreuzberg, er hat keinen deutschen Pass, seine zwei Kinder wachsen hier auf. Er erzählt, dass viele seiner Freunde Künast wählen werden. Nicht, weil sie die bessere Kandidatin sei, sondern weil ein Wechsel Berlin guttäte. Für die Zukunft seiner beiden Kinder würde er gerne wählen können. Als US-Bürger oder EU-Angehöriger wäre der Doppelpass kein Thema. Er als Türke müsse sich aber entscheiden. Das sei für ihn, der seit 37 Jahren in Berlin lebt, nicht nachzuvollziehen.

Als ich am Kottbusser Tor in die U-Bahn steige, bauen sie gegenüber am Zugang zum Kreuzberger Zentrum eine Bühne auf. Antifa-Gruppen und Gewerkschaften versuchen zu mobilisieren, um durch hohe Wahlbeteiligung den Einzug der rechten Parteien zu verhindern. In Mecklenburg-Vorpommern haben gerade die Nichtwähler kräftig mitgeholfen, den Rand von ganz rechts draußen erneut ins Parlament zu holen. Mit den Klängen von Motörhead im Ohr beobachte ich noch einen Moment die Punks, die mit der Zweitverwertung von Tickets etwas von der geschäftigen Motivation zeigen, die ich heute Nachmittag hier vermisst habe.

Neukölln am Rathaus, Minirock und Kopftuch, Kinderwagen und Rollator. Eda ist 28 Jahre alt und Physiotherapeutin. Sie sagt, dass sie sogar ihren Urlaub auf den 19. September gelegt habe, um wählen zu gehen. „Wir leben in einer Demokratie und es ist die einzige Möglichkeit, etwas Einfluss auf die Politik zu nehmen“, sagt sie. Zum ersten Mal werde sie nicht SPD wählen, sondern die BIG. „Nach 50 Jahren Gastarbeiterleben ist die Zeit reif, dass die zweite Generation der Zugewanderten mit ihren Kandidaten endlich auch deren Wünsche und Forderungen in die Politik einbringen.“ Wenn Türkischstämmige sich jetzt für die BIG engagieren, hat es sicherlich auch damit zu tun, dass sie von ihrer Stammpartei SPD enttäuscht sind. Allerdings sucht man weibliche Kandidaten in dieser Partei nahezu vergeblich.

Serkan macht seine Entscheidung an Inhalten und Persönlichkeiten fest. „Ich möchte meine Chance zur Mitbestimmung nutzen“, sagt er. „Ich gestehe, dass ich mir nicht jedes Programm besorge, aber ich achte auf die Worte der Politiker und darauf, ob sie leer sind oder Substanz haben.“ Wahrscheinlich muss man ganz genau auf die Worte achten, weil dieser Wahlkampf dadurch geprägt ist, dass sich die Versprechungen der großen Parteien nur in Nuancen unterscheiden. Motivierend wirkt das auf keinen unentschlossenen Wähler – mit oder ohne Migrationshintergrund.

Als ich wieder in Charlottenburg angekommen bin, schleicht ein grauer Bus hinter mir her. Eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönt: „Lesen Sie das Wahlprogramm der Partei ,Die Freiheit‘“. Die rechte Partei bekämpft den Moscheebau und Einwanderung. Und als der Bus am Café meiner türkischen Nachbarin vorbeifährt, ertappe ich mich bei dem Gedanken, ob der Sohn der Besitzerin jetzt begreift, warum er unbedingt wählen gehen muss?

Hatice Akyün

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