Demokratie und Wahlen: Aktiver Boykott
Immer häufiger werden die Stimmzettel für den stillen Protest gegen die Parteien genutzt – wirklich erforscht ist das Phänomen noch nicht.
Was tun, wenn man das Gefühl hat, dass keine Partei und kein Kandidat den eigenen Vorstellungen gerecht wird? Gar nicht erst an die Urne gehen? Sich für das kleinste Übel entscheiden? Weder, noch – das zumindest denkt Klaus Schierling. Der Mediengestalter aus Baden-Württemberg bevorzugt eine dritte Möglichkeit. Er macht seinen Wahlzettel ungültig. „Ich bin ein Verfechter der Demokratie und des Wahlrechtes“, erklärt der 42-Jährige. Doch aufgehoben fühle er sich bei keiner Partei: Zu sehr hätten sie sich vereinheitlicht, zu sehr vom Volk entfernt.
Immer mehr Wähler machen es wie Schierling – sie gehen zur Wahl, ohne zu wählen. Auf Youtube, Facebook und Co. rufen Initiativen zum Ungültigwählen auf, die sich zwar dem demokratischen Gedanken verbunden fühlen, nicht aber den Parteien. Sie wollen am demokratischen Prozess teilhaben und dennoch ein Zeichen setzen, indem sich viele explizit für niemanden entscheiden.
Die Idee findet scheinbar immer mehr Anhänger, wie zuletzt bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Dort zählten die Wahlhelfer insgesamt 26 934 ungültige Erststimmen. Das sind 3,9 Prozent aller abgegebenen Zettel und immerhin 8000 Menschen mehr, als sich für die FDP entschieden. Auch bei den diesjährigen Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Bremen waren die Werte mit 3,6 und 3,3 Prozent ungewöhnlich hoch.
Während der starke Anstieg der ungültigen Stimmen in den Stadtstaaten teilweise auf die Einführung eines neuen, komplizierteren Wahlrechtes zurückzuführen sei, müssen, nach Auffassung des Bremer Politikwissenschaftlers Lothar Probst, die Gründe für die Mecklenburger Ergebnisse woanders liegen. „Es gibt nur eine Erklärung dafür, nämlich, dass viele durch ungültiges Wählen ihren Unmut zum Ausdruck bringen wollten.“
Der Ungültigwähler ist nicht neu, dennoch wird er nur selten beachtet. Bei Europawahlen grenzen die Ergebnisse einiger Bundesländer regelmäßig an die Fünfprozenthürde – oder übersteigen sie sogar. Bei den letzten Bundestagswahlen lag die Quote bei 1,7 Prozent. Auch wenn diese Zahl auf den ersten Blick niedrig scheint, sind das immerhin 760 000 Menschen, fast genauso viele wie für die NPD gestimmt haben. Im Allgemeinen werden ungültige Stimmen auf Formfehler zurückgeführt, die besonders häufig auftreten, wenn mehrere Wahlen, und damit unterschiedliche Wahlsysteme, miteinander verbunden werden.
Lesen Sie auf Seite 2: Ungültigwählen als Ausdruck des Protests oder Zeichen von Bequemlichkeit?
Doch ungültige Stimmen im Fünf-Prozent-Bereich sind nicht allein auf das Unwissen der Wähler zurückzuführen, so zumindest sieht das Politikwissenschaftler Probst. Vielmehr könne man das Phänomen als „aktiven Wahlboykott“ bezeichnen. Empirisch belegen kann Probst das nicht. Die Stimmzettel bleiben meist unter Verschluss, nur selten werden die ungültigen Stimmen ausgewertet, wie nach den Landtagwahlen in Niedersachsen 2008.
Dort zeigte sich, dass bei 84,3 Prozent der ungültigen Stimmen entweder der Wahlzettel durchgestrichen wurden oder die Kreuze fehlten. Ein starkes Indiz für bewusste Verweigerung, doch Beweise gibt es keine. „Der Ungültigwähler ist der am wenigsten erforschte Wähler“, sagt Probst. Doch er weiß: „Alles, was in Richtung fünf Prozent geht, muss politisch ernst genommen werden, denn das sind klare Zeichen für eine zunehmende Entfremdung zwischen Wählern und Parteien.“
Im Gegensatz zu den Nichtwählern verschwinden die Stimmen der Ungültigwähler nicht einfach in der Statistik, sondern schrauben die Wahlbeteiligung hoch, ohne dass sie den Parteien zugute kommen. Doch das war es auch schon, Einfluss auf den Wahlausgang haben ungültige Stimmen keinen. Denn mit Ausnahme Berlins werden ausschließlich die gültigen Stimmen berücksichtigt. Probst steht dem Entwerten der Stimme daher skeptisch gegenüber: „Der Effekt des Ungültigwählens ist nicht nachhaltig, sondern verpufft.“ Auch die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis- Merzbach ist keine Befürworterin dieser Wahltaktik. „Es ist vielleicht besser, als zu Hause zu bleiben. Allerdings zeugt es von Bequemlichkeit und ist aus meiner Sicht sinnlos und wirkungslos. Man taucht zwar in der Statistik auf, aber man sendet keine politische Botschaft.“
Das sieht Ungültigwähler Schierling anders. Es sei doch bequemer, irgendwo ein Kreuzchen zu machen oder gar nicht erst zur Wahl zu gehen. Seine Stimme bewusst ungültig zu machen, sei eher ein Anzeichen, dass man sich intensiv mit der Sache auseinandergesetzt habe. „Denn, grob ausgedrückt, welcher Trottel steht schon sonntags auf und marschiert zum Wahllokal, nur um einen Zettel völlig sinnlos zu beschmieren?“
Lesen Sie weiter warum Parteiverdrossenheit nicht gleich Politikverdrossenheit ist.
Menschen wie er, die nicht an Politik-, sondern an Parteienverdrossenheit zu leiden scheinen, gibt es viele. In Internetforen wie www.ungueltigwaehler.de finden sich Hunderte Einträge frustrierter Wähler. „Haui“ beispielsweise denkt, dass Ungültigwählen eine gute Alternative zum Nichtwählen sei, „um seinen Unmut über die gesamte Politik und alle Politiker auszudrücken“. Und Michael Tödtmann konstatiert: „Nicht eine der Parteien verdient mein Vertrauen, geschweige denn meine Stimme.“ Er wisse, dass Ungültigwählen keinen direkten Einfluss habe, ein hoher Anteil ungültiger Stimmen sei aber eine Ohrfeige für die Parteien.
Schierling ist klar, dass ungültige Stimmen normalerweise untergehen. Daher hat er das Projekt „Referendum 2011“ gegründet, mit dem er Parteien und Öffentlichkeit aufrütteln will. Auf ihrer Website ruft die Initiative unzufriedene Bürger dazu auf, ihre Stimmzettel zu entwerten und mit dem Slogan Referendum 2011 zu beschriften. „Ich möchte die Parteien nicht abschaffen oder eine Neue gründen. Vielmehr müssen die Parteien wieder auf den Boden kommen und sich den Bürgern wieder annähern“, sagt er. Das Ziel des Projekts: Bei der nächsten Bundestagswahl soll ein Drittel der Nichtwähler wieder an die Urnen gebracht werden – alle gebündelt unter demselben Motto.
„Sieben bis acht Prozent sollten reichen, um etwas auszusagen.“ Eine solch hohe Zahl ungültiger Stimmen würde in der Tat Aufmerksamkeit erregen, zumindest die der Berliner Wahlleiterin. „Ein bis zwei Prozent ungültige Wählerstimmen sind in Ordnung. Aber 3,9 Prozent wie in Mecklenburg-Vorpommern würden mir schon Kopfzerbrechen bereiten. Dem würden wir nachgehen.“ Bei den letzten Wahlen lagen die ungültigen Stimmen bei zwei Prozent.
Anna-Sophie Sieben
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität