Debatte um Flüchtlinge: Die Welt zu Hause in Berlin?
Besonders viele Asylbewerber kommen in Berlin an. Senator Mario Czaja (CDU) ließ deshalb sogar Turnhallen belegen. Bezirkchefs protestieren, Anwohner schimpfen. Die Debatte um Flüchtlinge eskalierte in fünf Schritten.
Plötzlich ist die Welt tatsächlich in Berlin zu Hause. Und seitdem streiten Politiker, Beamte, Anwohner, Linke und Rechte: Über die Syrer, Iraker und Afghanen, die aus Angst vor Terror, Armut und Korruption fliehen. Die Männer aus Libyen, die Gaddafi einst aus Nigeria holte und die nach dessen Sturz vertrieben wurden. Die Frauen aus Eritrea, einer Diktatur am Horn von Afrika, die in Kähnen über das Mittelmeer geschifft wurden. Die Kinder, oft Roma, aus Kosovo und Bosnien.
Flüchtlinge in Berlin: Es werden erstmal mehr - auch weil wohl nicht alle Familien aus der Ost-Ukraine dauerhaft von Kiew und Moskau untergebracht werden können. In Berlin landen ohnehin mehr Flüchtlinge als in den meisten anderen Bundesländern. Für jedes Bundesland gilt je nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl eine Aufnahmequote. Weil die meisten Flüchtlinge aber in Großstädten ankommen, erwartet der Senat mehr als die formal zugewiesenen fünf Prozent: Fast 25.000 Männer, Frauen und Kinder dürften 2015 in Berlin ankommen.
Derzeit 25.000 Flüchtlinge in Berlin - die meisten in Sammelheimen
Gemessen an der Einwohnerzahl ist das zwar weniger als in Schweden und Belgien, aber bald mehr als während der Jugoslawien-Kriege in den 90ern. Und so wird heftig debattiert: Wo wohnen die Flüchtlinge? Wie lange bleiben sie? Was ist mit Arbeit?
Derzeit leben fast 25000 Flüchtlinge in Berlin - in Wohnungen oder Hostels, bei Freunden oder Verwandten, vor allem aber in Heimen, inzwischen auch in Turnhallen. Dazu kommen zum Teil obdachlose Roma aus Rumänien und Bulgarien, die als Bürger der Europäischen Union (EU) zwar Aufenthaltsrecht haben, aber als "Armutseinwanderer" argwöhnisch betrachtet werden. Weshalb der Argwohn? Wieso nutzt der Senat eigentlich Turnhallen? Und warum haben Politiker derselben Partei dazu nicht die gleichen Absichten?
1. Konzeptlosigkeit
In fünf Schritten hat sich die Debatte um Asylbewerber in Berlin zugespitzt. Noch 2012 sympathisierten nicht nur Linke mit einem Protestmarsch junger Flüchtlinge nach Berlin. Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg entstand ein Zeltlager, die nahe Gerhart-Hauptmann-Schule wurde besetzt, am Brandenburger Tor gab es einen Hungerstreik. Wegen Konzeptlosigkeit aller Beteiligten kippte die Stimmung. Die Flüchtlinge bauten keine Selbstverwaltung auf, im Görlitzer Park dealten Bewohner der besetzten Schule mit Drogen, ein Gambier tötete im Rausch einen Marokkaner. In Talkshows, Parlamenten und Dienststellen heizte das die Debatte an.
2. Asyl ja, aber nicht in meinem Kiez
Einer aber schwieg: Klaus Wowereit (SPD). Der Regierende Bürgermeister überließ das Thema bis zu seinem Rücktritt 2014 anderen. Was zum zweiten Eskalationsschritt beitrug: Denn diese anderen - Senatoren und Bezirksräte - streiten seitdem darüber, wer wo welche Flüchtlinge unterzubringen hat: Asylrecht, gern, aber warum ausgerechnet in meiner Straße ein Heim? Geeignete Gebäude fanden sich eher in weniger privilegierten Kiezen, gut situierte Stadtteile blieben lange unbehelligt. In Hellersdorf gelang daraufhin der NPD, eine Bürgerversammlung zu dominieren. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) machte Druck - und legte sich in den West-Bezirken mit den Bürgermeistern seiner Partei an. Der Abstand wird zwar kleiner, noch aber leben mehr Flüchtlinge in Lichtenberg als in Steglitz-Zehlendorf.
3. Islamisten - auch in Berlin
Drittens: Nicht unerwähnt bleiben sollten die Bilder der Massaker des "Islamischen Staates" - die aus Syrien und Irak, aber auch aus Tunesien, Ägypten, Libyen und Algerien um die Welt gingen. Auf dem Mittelmeer warfen islamistische Flüchtlinge von einem Schlepperboot christliche Männer und Frauen ins Wasser - Hilfesuchende ermordeten andere Hilfesuchende. Vergessen ist auch nicht der Augusttag 2014, an dem tschetschenische Salafisten in einem Berliner Heim syrische Christen angegriffen haben (ähnliche Attacken gab es 2015 wieder). Sie trugen dazu bei, dass die Furcht vor Fremden wächst. Anders als die Pegida-Märsche in Sachsen bleiben rechte Massenproteste in Berlin aber aus. Rund um die Flüchtlingsunterkünfte der Stadt spendeten Helfer vielmehr Klamotten und gaben Deutschstunden. Die Behörden, so scheint es, sind ohnehin überfordert.
4. Ausgedünnte Behörden
Dieses vierte Problem - die überlasteten Behörden - greift die Opposition regelmäßig auf. Der Senat habe fahrlässig Personalmangel entstehen lassen. Tatsächlich arbeitete das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) bald mit Dauerüberstunden seiner Angestellten. Die Betreiber von Heimen werden vom Lageso für Instandhaltung und Flüchtlingsversorgung bezahlt und sollen zudem kontrolliert werden. Weil aber der Druck steigt und es an Anbietern mangelt, nahm das klamme Amt jeden, den es kriegen konnte. So wurde eine Firma beauftragt, die ihre Heime nicht nur unzureichend betreut haben soll, sondern in der zudem der Patensohn des Lageso-Präsidenten tätig war.
5. Turnhallen statt Häuser
Das fünfte der großen Probleme, die fehlenden Räume, wird trotz aller Lageso-Überstunden bleiben. Die in Berlin befindlichen Bundesimmobilien kann der Senat nicht beschlagnahmen, Privateigentum ist ohnehin geschützt. Deshalb hievte das Lageso in sieben, acht Turnhallen kürzlich Feldbetten, woraufhin Trainer und Freizeitsportler mit dem Segen ihrer Stadträte protestierten. "Vereins- und Schulsport erfüllen gesellschaftliche Aufgaben - auch und gerade bei der Integration von Migranten", sagt Silvester Stahl. Der Soziologe der Fachhochschule für Sport und Management Potsdam forschte jahrelang auch zu Einwanderung. "Die Zweckentfremdung von Sporthallen sollte deshalb mit Augenmaß erfolgen. Wenn die Lasten gerechter verteilt werden sollen, ist auch die Solidargemeinschaft der Sportvereine gefragt, etwa bei der Überlassung von Hallenzeiten an andere Vereine."
Was tun?
Was also tun? Senator Czaja lässt 2015 fünf Wohncontainerdörfer errichten, in Köpenick ist ein sechstes schon bewohnt. Die Stätten sind sauber und praktisch, erinnern aber nicht zufällig an Kasernen: Flüchtlinge sollen gar nicht heimisch werden - wofür der Senat nichts kann, denn darauf hat sich die Bundespolitik schon vor Jahrzehnten festgelegt. Die meisten Asylanträge werden nach sieben, acht Monaten abgelehnt. In Berlin bekamen 2014 nur 26 Prozent der Bewerber eine Aufenthaltserlaubnis. Einige erhalten außerdem wegen fehlender Papiere oder akuter Katastrophen in der Heimat einen Duldungsstatus, allerdings ohne Arbeitserlaubnis. Wessen Asylantrag abgelehnt wird, kann abgeschoben werden.
Pflegedienste und Kliniken brauchen Einwanderer...
Fairerweise sollte man anerkennen, dass viele Asylbewerber eher vor Armut geflohen sind, als vor politischer Verfolgung wie die Tracks aus dem Kosovo in diesem Februar zeigen. Und dass viele Antragsteller dauerhaft einwandern, am liebsten Staatsbürger werden wollen. Dagegen spräche nichts. Betriebe, Forscher und Berufsverbände fordern ohnehin, endlich dem Fachkräftemangel zu begegnen. Kliniken suchen Schwestern, Heime brauchen Altenpfleger.
Doch eine Schwester aus Algerien, die wegen der hiesigen Berufsordnungen gar bereit ist, sich noch mal schulen zu lassen, wird zwar gebraucht. Kein Pflegedienst könnte sich aber darauf verlassen, dass die Kollegin nicht doch abgeschoben wird. "Zuwanderung wird aus demografischen und ökonomischen Gründen notwendig bleiben, damit der hiesige Lebensstandard gehalten wird", sagt Sozialforscher Stahl. "In vielen Branchen fehlen auch Arbeitskräfte ohne hohe Qualifikationen. Die Unterscheidung zwischen Elitemigranten und Kosten verursachenden Flüchtlingen greift zu kurz."
... und die brauchen Sprachkurse, Verbindlichkeiten, Wohnungen
Noch gilt, wer Bundesbürger werden will, muss als anerkannter Flüchtling acht Jahre im Land gelebt haben. Wenn aber gewollt sein sollte, dass aus Asylbewerbern, die sich in Heimen und Ex-Schulen mit Messern angreifen, Einwanderer werden, die Deutsch lernen und (um bei diesem Beispiel zu bleiben) in Kliniken arbeiten, der braucht ein Konzept. Der braucht Wohnungen, Sprachkurse, Verbindlichkeiten.
Mit ihren kurdischen Eltern floh Evrim Sommer 1981 nach Berlin: "Hätte ich in einer Sammelunterkunft gelebt, nicht in einer Schöneberger Wohnung, hätte ich sicher nicht so schnell Deutsch gelernt und auch kein Gespür für diese Gesellschaft entwickelt." Sommer arbeitete als Übersetzerin, studierte Sozialwissenschaften und ist heute Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
Ein neues Einwanderungsgesetz wird so schnell nicht kommen. Im Berliner Lageso wird immerhin geprüft, wie sich Berufsabschlüsse aus dem Ausland schneller anerkennen lassen. In Brandenburg gibt es übrigens Orte, die fast nur noch von Ärzten aus Polen und der Slowakei - und vielleicht bald aus Syrien? - versorgt werden.