zum Hauptinhalt
Einige findet es misslich, dass der Reaktor als Argument gegen Flugrouten herhält. Immerhin wird nun wieder über Sicherheit diskutiert.
© dpa

Flugroute über den Wannsee gekippt: „Die Wannseer verschließen die Augen vor der Gefahr“

Über den Reaktor im Südwesten der Stadt streiten die Anwohner seit Jahrzehnten. Weil viele ihn gefährlich finden. Jetzt sind seinetwegen die Flugrouten über den Wannsee gekippt worden – und trotzdem ist die Freude verhalten.

Aus dem geöffneten Dachfenster strömt neblig-trübe Winterluft ins Haus. Der Blick trifft auf kahle Bäume, die nichts vom vermeintlichen Katastrophenrisiko in zwei Kilometern Entfernung erahnen lassen. Das Risiko gefährde ihre Gesundheit und die ihrer Kinder, sagt Ines Breuer, die ihren richtigen Namen lieber nicht nennen will. Es ist der Forschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums in Wannsee.

Ein Forschungsreaktor am Rande der Stadt, aber auch direkt neben einem Wohngebiet. „Die meisten Wannseer verschließen die Augen vor der Gefahr“, sagt Breuers Lebensgefährte. Und die Physiker würden immer nur beschwichtigend von einer „Neutronenquelle“ sprechen. Ines Breuers Mutter hatte früher ihren Nachbarn gefragt; der arbeitete im Helmholtz-Zentrum und antwortet auf besorgte Fragen immer nur: „Nein, ihr müsst euch keine Sorgen machen.“

Und nun kommt das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg und hebt alle Beschwichtigungsformeln aus den Angeln. Das Risiko eines Flugzeugabsturzes oder eines terroristischen Anschlags sei von den Flugroutenplanern nicht bewertet worden, deshalb sei die Flugroute über den Wannsee rechtswidrig. Ein Schlag ins Kontor der Deutschen Flugsicherung. Und am Wannsee knallen die Sektkorken, könnte man vermuten. Doch von Feierstimmung ist am Donnerstagmorgen wenig zu spüren.

Es ist eben schon seit Langem so, dass Flugzeuge direkt über den Reaktor fliegen. Nur nicht so viele wie in Zukunft geplant. Die aktuellen Flugrouten von Tegel und Schönefeld-Alt werden durch das Urteil nicht aufgehoben. Flugroutengegnerin Marela Bone-Winkel aus Nikolassee, die zu den Protestpionieren zählt, begrüßt den Richterspruch vor allem als strategischen Erfolg. Erstmals in Deutschland sei eine Flugroutenklage durchgekommen.

Das erste Protestplakat gegen die Flugrouten hängt an der Straße zum Helmholtz-Zentrum an einem Gartenzaun. Auf mehrmaliges Klingeln lugt ein grauhaariger Kopf aus dem Fenster und sagt: „In Wannsee sind alle froh darüber.“ Mehr müsse man dazu aber nicht sagen. In der Bäckerei sitzt Irmgard Wittenberg, 87, in einem Schlangenlederimitatmantel und trinkt ihren Morgenkaffee. Sie wohnt 300 Meter Luftlinie zum Reaktor und zählt auf, wer in der Nachbarschaft so alles an Krebs gestorben sei in den Jahrzehnten, die zurückliegen. „Die sollen den Reaktor sonstwohin stellen.“ Auch auf den neuen Flughafen und die zugehörigen Flugrouten könne sie gut verzichten.

Der Angst vieler Kritiker begegnet sie meistens rational - mit Zahlen

Seitdem die Flugrouten bekannt wurden, demonstrieren Anwohner in und um Berlin ausdauernd.
Seitdem die Flugrouten bekannt wurden, demonstrieren Anwohner in und um Berlin ausdauernd.
© Paul Zinken

Ina Helms seufzt am Telefon. Sie ist die Pressesprecherin des Helmholtz-Zentrums. In den vergangenen Jahren hat sie dieselben Sätze immer wieder sagen, dieselben Debatten immer wieder führen müssen. Sie atmet tief ein und sagt dann: „Also noch einmal ganz von vorne…“ Dass die Flugrouten nun doch nicht über Wannsee führen dürfen, könnte den Forschern eigentlich egal sein. Doch in der Begründung werden ganz klar Sicherheitsbedenken genannt, die mit „ihrem“ Reaktor zu tun haben. Gerade jetzt, wo der Protest etwas abgeklungen war, nach all der Aufregung um Fukushima und dem Anfang 2012 bestandenen Stresstest. Jetzt flammt die Debatte wieder auf. Vielleicht ist es ein Omen, dass der Reaktor ausgerechnet BER II heißt.

Spätestens seit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986 wird um die Anlage in Wannsee erbittert gestritten. Mit Genehmigung der amerikanischen Schutzmacht war der Reaktor 1958 in Betrieb genommen worden. 1971 kam es zu einer ersten Krisensituation. Der Reaktor auf der Anlage, die damals noch Hahn-Meitner-Institut hieß, geriet außer Kontrolle, er ließ sich nicht mehr runterkühlen. 1972 wurde der Betrieb eingestellt. Der Nachfolger, der Berliner Experimentierreaktor BER II, um den es jetzt geht, ging 1973 an den Start. Nach dem 11. September 2001 geriet zudem die Gefahr von möglichen Terroranschlägen in den Fokus.

Auf ihrer Homepage versucht die Helmholtz-Gesellschaft, direkt Antworten auf naheliegende Fragen zur Reaktorsicherheit zu geben. Überhaupt setze man auf Öffentlichkeitsarbeit, sagt Helms. Auch deswegen stellt sie sich am Donnerstagabend im Zehlendorfer Rathaus ein weiteres Mal den Kritikern des Reaktors. Dabei nimmt sie nicht gern an Podiumsdiskussionen teil. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dies kein Format für sachliche Informationen ist“, sagt sie. Sie versucht, die Menschen mit Zahlen zu beruhigen. Zahlen, die klar besagen, dass die Strahlung rund um den Reaktor nicht höher ist als die Grundstrahlung. Dass der Reaktor gar nicht zu vergleichen sei mit einem Atomkraftwerk. Erstens produziere er keinen Strom, außerdem habe er nur eine Leistung von zehn Megawatt, ein Kraftwerk etwa 4000 Megawatt.

Im Rathaus trifft sie auch wieder auf Alf Jarosch. Sie kennt ihn von früheren Diskussionen. Ihr Blick bleibt stur nach vorn gerichtet, als Jarosch seine Bedenken vorbringt. Sie weiß, was er sagen wird. Gegen den Reaktor kämpft er schon seit Jahren. „Für die Flugroutengegner ist das natürlich ein Erfolg“, sagt Jarosch. Auch er ist gegen mehr Fluglärm, schließlich wohnt er in Zehlendorf. Doch er will den Reaktor nicht, wie einige andere, als Feigenblatt benutzen, um lästigen Fluglärm loszuwerden. Er hat wirklich Angst.

Sie sprechen von "Restrisiko"- ein Hasswort

Ein Justizbeamter hängt bei der Gerichtsverhandlung über die Flugrouten eine Karte auf.
Ein Justizbeamter hängt bei der Gerichtsverhandlung über die Flugrouten eine Karte auf.
© dpa

„Als Anwohner habe ich mich natürlich anfangs auf die Informationen aus der Politik verlassen. Darauf, dass das Risiko einer Kernschmelze ,physikalisch’ ausgeschlossen ist.“ Eben auf jene Zahlen, die das Helmholtz-Zentrum veröffentlicht. Irgendwann wollte er selber nachforschen. In einer Bibliothek stieß er dann auf eine Studie, die das Zentrum selbst veröffentlicht hatte. Darin fand er den Satz, der ihn endgültig politisierte: „20 Minuten nach Trockenfall des Reaktors kommt es zur Kernschmelze“, habe dort gestanden. Heute ist Jarosch 62 und in der Piratenpartei. Er ist Gebietsbeauftragter für Steglitz-Zehlendorf, in der Partei entspricht das einem Kreisvorsitzenden. Und als ehemaliger Architekt weiß er ebenso gut mit Zahlen zu jonglieren wie Helms, sagte als Sachverständiger im Abgeordnetenhaus zu eben jenem Reaktor und dessen Gefährlichkeit aus, wälzte Akten. „Der Stresstest hat doch klar ergeben, dass diese Anlage gegen einen Flugzeugabsturz gar nicht gesichert werden kann“, sagt er. Der Reaktor sei ja nur ganz klein, kriegt er dann zu hören.

Von seinen politischen Kollegen wurde er deshalb immer belächelt, wie er sagt. Selbst von den Grünen. Die haben in die BVV nun einen Antrag eingebracht, die Anlage mit zusätzlichen Wassertanks zu sichern. Alf Jarosch macht diese „Verharmlosung“ wütend. „Als würde es helfen, einen Eimer Wasser extra danebenzustellen“, sagt er. Der Antrag wird fast einstimmig angenommen. Jarosch ist frustriert, weil seine Bedenken über die Jahre nicht ernst genommen wurden. Auch nicht, als er sich dem Anti-Atombündnis Berlin/Potsdam anschloss, Artikel schrieb, auf die Gefahren aufmerksam machen wollte. Dass ihm das Urteil nun ein Stück weit Recht gibt, müsste ihm eigentlich eine Genugtuung sein. So richtig kann er sich dennoch nicht freuen. „Für die Anti-Atomkraft-Bewegung ist das kein Sieg“, sagt er.

Der Atom-Forschungsreaktor wurde vergangenes Frühjahr wieder hochgefahren.
Der Atom-Forschungsreaktor wurde vergangenes Frühjahr wieder hochgefahren.
© Thilo Rückeis

Er findet es misslich, dass der Reaktor als Argument gegen Flugrouten herhält. Immerhin werde nun wieder über Sicherheit diskutiert. Sein Anliegen bleibt nach dem Urteil das gleiche. Sein Hasswort auch: „Restrisiko“. Nach Fukushima müsse wirklich niemand mehr mit Wahrscheinlichkeiten argumentieren.

Ina Helms versucht es trotzdem: „Rechnerisch kann die Wahrscheinlichkeit, dass eine Maschine auf spezielle Punkte in der Anlage stürzt, nicht als Null angegeben werden. Nur deswegen gibt es überhaupt die Notfallpläne.“ Zwei Jahre ist es her, dass neue Katastrophenpläne Aufregung auslösten. Da gaben die Behörden bekannt, dass die Anwohner innerhalb eines Radius von vier Kilometern präventiv mit Jodtabletten eingedeckt werden sollten. Dieses Vorhaben wurde wieder aufgegeben, stattdessen plant man nun, Polizei, Feuerwehr und sogar Taxifahrer im Fall einer erhöhten radioaktiven Belastung mit der Verteilung der Tabletten zu betrauen. In einem Radius von 2,5 Kilometern müsste evakuiert werden. Das Areal wäre im Falle einer Kernschmelze auf Jahrzehnte nicht zu bewohnen. Aber so eine Kernschmelze sei eben fast unmöglich, sagt Helms. Das ist das Wort, dass die Anwohner auf die Barrikaden bringt: „fast“.

In Wannsee gehört Sigrid Knoblich zu jenen, die den Zahlen der Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum glauben. Die kommen und lassen sich in ihrem kleinen Friseurladen die Haare schneiden. „Die sagen, man muss keine Angst haben.“ Am Zaun vor ihrem Geschäft hängt eines der Protestplakate, obwohl sie auch Flugrouten nicht furchtbar schlimm findet. Schließlich würden Flugzeuge schon immer ihr Viertel, das „schöne kleine Dorf Stolpe“, überfliegen. Frau Knoblich sagt: „Ich staune, dass sich einige so aufregen.“

Mitarbeit Annika Kiehn

Zur Startseite