Aufwachsen in Berlin: „Die ständige Angst blockiert“
Kinder in Berlin haben heute weniger Freiräume als ihre Eltern vor 30 Jahren. Eine Pädagogin weiß, was man ändern sollte. Ein Interview.
Kürzlich drückte in einem Gastbeitrag in dieser Zeitung eine Berliner Mutter ihren Unmut darüber aus, dass das freie Spiel für Kinder in der Großstadt kaum noch möglich sei. Kinder seien immer unter Aufsicht, beklagte die Erzieherin und Bloggerin Britta Menter in ihrem Text „Lasst die Kinder spielen“. So seien spontane Verabredungen nach der Schule für ihre Tochter kaum noch möglich, denn „Kinder in Prenzlauer Berg spielen nicht, sie gehen in Kurse. Sie lernen Geige spielen, Schach, tanzen Zumba und Ballett.“ Sie würden stets von Erwachsenen gelenkt, lernten deshalb nicht, sich selbstständig zu beschäftigen oder Konflikte zu lösen, und könnten so viele motorische wie soziale Fertigkeiten wesentlich schlechter entwickeln als frühere Generationen. Viele Leser meldeten sich und diskutierten. Auch Soziologen haben sich damit schon beschäftigt – sie bezeichnen das Phänomen als „Verinselte Kindheit“. Mit den „Inseln“ sind die speziellen Kinderwelten gemeint – wie Kinderzimmer, Kindergarten, Kinderspielplatz, Kindertheater, Kinderturnen. Mit der Kritik daran ist es aber nicht getan. Deshalb haben wir eine Diplompädagogin, die Eltern in Erziehungsfragen berät, gefragt, wie sich das Thema angehen lässt.
Frau Reimann-Höhn, ist die „verinselte Kindheit“ ein spezielles Phänomen des Großstadtbezirks Prenzlauer Berg oder kommt das anderswo genauso vor?
Diese Tendenz gibt es in ganz Deutschland. Allerdings gibt es auf dem Land viel weniger Kurse, in die man ein Kind schicken kann. Deshalb ist dies in der Großstadt auch ein größeres Thema. Natürlich erlernen die Kinder so Fähigkeiten, die sie sonst nicht lernen würden; Klavierspielen oder Fußballspielen, und sie haben ja auch noch Kontakt zu anderen Kindern. Es ist gut, Hobbys zu haben. Sich aber dauerhaft in einem geschützten Rahmen zu bewegen, ist für Kinder nicht so gut. Kinder brauchen mehr als das.
Was meinen Sie damit?
Sie lernen nicht, sich selbstständig in ihrem Alltag zu bewegen. Sie werden immer irgendwo hingebracht und verplant, treffen weniger Entscheidungen und müssen sich viel länger auf ihre Eltern verlassen, die ihr Leben für sie managen. Klar, können sie früher eine Fremdsprache, sie kennen aber nicht den Weg zum nächsten Fußballplatz, denn da werden sie ja immer hingebracht. Und wenn Kinder immer unter Aufsicht sind, kommen sie auch nicht an ihre Grenzen.
Warum sind Grenzerfahrungen wichtig?
Kindern muss auch mal was passieren, damit sie Gefahren besser einschätzen können. Wenn sie etwa alleine auf dem Speicher der Großeltern herumstromern, irgendwo eine Tür zufällt und sie sich befreien müssen. Oder wenn ein kleiner Unfall passiert und das Kind gucken muss, wie es Hilfe holen kann. Das ist aber ein Prozess, man kann das nicht künstlich in Begleitung der Eltern oder einer anderen Aufsichtsperson herbeiführen. Etwa ein Kind mit Absicht vom Baum herunterfallen lassen, funktioniert nicht. Die Kinder klären auch weniger Probleme selber, da sie gar nicht mehr in schwierige Situationen kommen.
Viele Eltern lassen ihre Kinder nicht alleine draußen spielen, weil sie Angst haben, ihr Kind könnte sich im Straßenverkehr verletzen, oder dass es entführt wird. Ist diese Angst nicht berechtigt?
Nein, sie ist nicht berechtigt. Es passieren ja nicht mehr Unfälle mit Kindern, sondern weniger. Es werden ja nicht mehr Kinder entführt, sondern weniger. Das zeigen die Statistiken. Da Eltern aber häufig nur ein Kind haben, konzentriert sich alles darauf. Dieses Kind muss nicht nur super Leistungen erbringen, es darf ihm auch nichts passieren, es wird rundum behütet. Wenn Geschwister vorhanden sind, was aber immer seltener der Fall ist, sind Eltern entspannter.
Was können Eltern gegen diese Angst tun?
Eine ganz normale Verkehrserziehung reicht aus, damit ein Kind draußen spielen kann. Aber dafür muss man mit dem Kind den Weg ablaufen, man muss über die Gefahrenstellen sprechen, und man muss ein Gefühl dafür entwickeln, wie gut ein Kind Gefahren einschätzen kann, wie vernünftig es ist. Kleine Draufgänger, die nie an der roten Ampel stehen bleiben, die kann man nicht alleine laufen lassen, die Kinder, die vernünftig sind aber schon. Eltern müssen sich aber die Mühe machen und das Kind in die Selbstständigkeit begleiten. Es auf Gefahrenquellen hinweisen, es aber auch Dinge alleine tun lassen.
Wenn man die Kinder unbehütet spielen lässt, geht man dann nicht auch das Risiko ein, dass sie ihre Zeit mit dem Smartphone, Tablet oder Computer verbringen?
Was die Medien angeht, sind Eltern natürlich ganz anders gefordert als früher. Manche Kinder können sich ja gar nicht mehr davon losreißen. Wenn die Kinder stattdessen beim Sport oder in der Ganztagsbetreuung sind, können sie natürlich nicht gleichzeitig auf ihr Smartphone starren – aber dann sind sie wiederum verplant und haben keinen Freiraum zum Spielen. Es ist ein schwieriges Spannungsfeld, in dem sich die Eltern befinden.
Wie sollen Eltern damit umgehen?
Reden, reden, reden und den Kindern Alternativen bieten. Wichtig ist, wie Eltern sich selbst verhalten. Wenn die Eltern den ganzen Tag selber aufs Handy starren, was man ja wirklich dauernd auf der Straße sieht, dann lernt das Kind, dass das ganz normal ist. Warum sollte es dann nicht selber ständig mit dem Smartphone spielen? Eltern sollten lieber zeigen, wie schön es ist, gemeinsam etwas zu unternehmen.
Und was können sie sonst noch tun?
Die Eltern sollten gelassener sein. Es kann immer was passieren, dagegen lässt sich nichts tun. Aber Eltern haben heute ja vor allen möglichen Dingen Angst. Da ist die Angst, dem Kind könnte was passieren, die Angst, das Kind könnte beruflich nicht erfolgreich sein, die Angst, es könnte nicht genug Freunde haben. Diese ständige Angst blockiert nicht nur die Eltern, sondern überträgt sich früher oder später auch auf das Kind.
Uta Reimann-Höhn ist Diplompädagogin, Lerntherapeutin und Autorin pädagogischer Sachbücher. (Informationen unter www.lernfoerderung.de und unter reimann-hoehn.de). Das Interview führte Saara von Alten.