Nach 600-Millionen-Euro-Investition: Die lange Geschichte von Siemens und Berlin
Weltkonzern auf nassen Wiesen: Seit über 100 Jahren prägt der Weltkonzern die Stadt. Ein Rückblick.
Einer der größten Tage der Industriestadt Berlin war wohl der 1. August 1899, als die Firma Siemens & Halske am Ende eines Stichkanals zur Spree das „Kabelwerk Westend“ in Betrieb nahm – einen hochmodernen Backsteinpalast nach den Bedürfnissen der aufstrebenden Großindustrie. Es stand zwar auf Spandauer Boden, weit entfernt von Berlin, aber es begründete nicht nur den Weltruhm der Firma, sondern war auch die Keimzelle des Ortsteils Siemensstadt, der 1920 mit Spandau in Groß-Berlin aufging.
Doch an diesem Tag gab es dort nur diese riesige Fabrik auf sumpfigen Wiesen weit außerhalb der damaligen Stadtgrenzen, weit weg auch von jeglicher Verkehrsinfrastruktur. Die anfangs etwa 1200, später bis zu 40 000 Arbeiter wohnten in Spandau, Charlottenburg und vor allem aber in Berlin. Die Berliner kamen mit dem Zug über den Bahnhof Westend, um von dort zu Fuß den unbefestigten Fürstenbrunner Weg entlang zu marschieren bis zur Fähre, die sie schließlich über die Spree ins Werk brachte.
Die Spandauer kamen mit dem Schiff
Die Charlottenburger Arbeiter liefen den ebenfalls unbefestigten Nonnendamm entlang, und nur die Spandauer hatten es etwas leichter, weil das Siemens-Schiff sie vom Lindenufer direkt zur Arbeit brachte. Das war so mühsam, dass die Mitarbeiter sich trotz der bemerkenswerten Sozialleistungen des Unternehmens nach anderen, verkehrsgünstigeren Arbeitsplätzen umsahen, die im boomenden Berlin nicht schwer zu finden waren.
Es wäre vor allem an Spandau gewesen, daran etwas zu ändern, doch die Garnisons- und Festungsstadt hatte andere finanzielle Sorgen – und so war die aufstrebende Firma schließlich gezwungen, selbst in die Infrastruktur zu investieren, in Verkehrswege und Wohnhäuser für die Mitarbeiter. Siemens bezahlte und bestimmte und durfte deshalb auch nach eigenen Plänen bauen, so lange nur die Gewerbesteuern reichlich in Spandauer Richtung flossen.
Seit 1914 gibt es Siemensstadt
Die ersten Wohnhäuser an der Ohmstraße wurden am 1.April 1905 bezogen, zehn Jahre später standen in der „Siedlung Nonnendamm“ 845 moderne Wohnungen, von verschiedenen Architekten abwechslungsreich gestaltet, mit rund 90 Geschäften. Und seit 1914 heißt der neue Stadtteil auf Beschluss der Spandauer Bezirksverordneten auch offiziell Siemensstadt. Ein Gemeinwesen für maximal rund 15 000 Einwohner war entstanden, nahezu komplett privat finanziert. Geboren wurde damals auch die schon fast familiär verbundene Gemeinde der Siemensianer, die dem Unternehmen und seinen Sozialeinrichtungen oft über ihr ganzes Berufsleben verbunden blieben, mit ihren Kindern und Enkeln auch weit darüber hinaus.
Davon ist heute nach unzähligen Schließungen, Umstrukturierungen und Werksverlagerungen nicht mehr allzu viel zu spüren, Werkleiter und Konzernobere kamen und gingen in großer Zahl. Das Berliner Siemens-Gefühl litt schon, als das Unternehmen seine Zentrale 1948 sicherheitshalber nach München verlegte und Erlangen zum neuen Großstandort nach Berliner Muster ausbaute. Dieser Schritt war nur die Konsequenz der Kriegswirren, denn die Firma hatte schon 1942 damit begonnen, komplette Produktionszweige in den Westen Deutschlands zu verlagern.
Die Blütezeit reicht bis in die 60er Jahre
Dennoch blühte der Ortsteil in bescheidenem Rahmen wieder auf und wuchs nach dem Krieg mit dem neuen Stadtteil Charlottenburg-Nord zusammen. 1961 wurde an der Nonnendammallee das erste deutsche Einkaufszentrum in Betrieb genommen, ein dezentrales Symbol des Wirtschaftswunders. Bis weit in die Sechziger profitierte der Ortsteil von der Wirtschaftskraft und den sozialpolitischen Grundsätzen des Unternehmens. Und hofft nun heute, nach Jahrzehnten des Niedergangs im Berlin nach der Wende, auf neue Blüte, wiederum verbunden mit dem Namen Siemens.
Werner von Siemens, der geniale Forscher, war schon sieben Jahre tot, als Siemensstadt geboren wurde. Doch er hat auch viele andere Spuren in der Stadt hinterlassen, seit er 1847 zusammen mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske in der Schöneberger Straße in Kreuzberg die „Telegraphen-Bau-Anstalt von Siemens und Halske“ gründete, die ab 1872 nach Charlottenburg expandierte, bis der Boom der Nachrichten- und Elektrotechnik schließlich keine andere Wahl ließ als den Umzug nach draußen. Jeder, der mit dem Auto über die Rudolf-Wissell-Brücke fährt, kann die Silhouette des gewaltigen Komplexes an der Nonnendammallee sehen – daran wird sich auch kaum etwas ändern, wenngleich viele der stillgelegten Bauten längst von Fremdfirmen genutzt werden.
Eine ganz andere Spur der Siemens-Dynastie führt nach Lankwitz, wo es nicht zufällig die einzige Siemensstraße der Stadt gibt. Um die Ecke in der Calandrellistraße steht die „Siemens-Villa“, die als Herrenhaus Correns um 1915 herum erbaut wurde, ein mächtiges Anwesen mit etwa 80 Zimmern.
Wohnungen wird Siemens nicht wieder bauen
Die Witwe des Akkumulatoren-Fabrikanten Friedrich Christian Correns verkaufte es 1925 an Werner Ferdinand von Siemens, der nach dem ersten Weltkrieg ein Jahr lang im Vorstand von Siemens und Halske gesessen hatte, dann aber doch ein Leben als Musikmäzen vorzog und in seine neue Unterkunft einen Konzertsaal mit 400 Plätzen einbauen ließ. Dieser Saal wurde immer wieder für Konzerte und Plattenaufnahmen genutzt, bis das Gebäude schließlich 2010 nach dem Auszug des dort untergebrachten Deutschen Musikarchivs von den Erben verkauft wurde. Heute sind dort zwei private Universitäten untergebracht.
Wie geht es weiter mit Berlin und Siemens? Der Name ist längst nicht mehr präsent im Alltag, wenngleich er immer noch auf vielen Herden, Wasch- und Spülmaschinen zusehen ist. Die Computer-Sparte ist nach dem Ende eines gemeinsamen Unternehmens ganz bei Fujitsu gelandet, und so profitieren viele Berliner nur noch dann direkt vom Know-How des Unternehmens, wenn sie in einen Computer-Tomographen geschoben werden. Aber war nicht auch der Spandauer Hühnerwerder, auf dem das erste Kabelwerk entstand, eine Art Silicon Valley der deutschen Industrie? Und kann es so etwas nicht wieder geben? Die Hoffnungen auf den neuen Campus sind groß.