Schlechte Masern-Vorsorge in Berlin: Die Impfmüden aus Prenzlauer Berg
In Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow leben die meisten Impf-Verweigerer. Die Zahl der Erkrankungen steigt weiter an. Am Donnerstag erscheint der aktuelle "epidemiologische" Bericht.
„Die Zahl der Erkrankten steigt stündlich“, sagt Neuköllns Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU). 104 Masern-Patienten wurden seinem Gesundheitsamt zuletzt gemeldet, vor zwei Tagen waren es noch 91 Fälle, im vergangenen Herbst wurden nur 14 Fälle bekannt. Einige Experten sprechen von einer Masern-Epidemie, die Senatsverwaltung für Gesundheit bevorzugt den Begriff „Ausbruch“.
Insgesamt zählt die Gesundheitsverwaltung derzeit 622 Erkrankungen in Berlin, wobei die reale Zahl wegen Verzögerungen im Meldeverfahren schon deutlich höher liegen dürfte. Am Donnerstag erscheint der aktuelle „epidemiologische Wochenbericht“ des Landesamtes für Gesundheit und Soziales.
Marzahn-Hellersdorf hat die höchste Impfquote
Daten gibt es auch zu den Impfraten bei Schulkindern, allerdings wurden sie zuletzt 2013 erhoben, als es schon mal einen größeren Masernausbruch gab. Im Bezirksvergleich liegt Friedrichshain-Kreuzberg mit 84 Prozent „durchgeimpfter“ Erstklässler weit hinten, gefolgt von Pankow mit 88 Prozent. Die beste Quote weist Marzahn-Hellersdorf mit 94,1 Prozent aus. Angestrebt wird offiziell eine Quote von 95 Prozent.
In Pankow hat das Gesundheitsamt genauer hingeschaut. In den Quartieren Prenzlauer Berg Nordwest und Helmholtzplatz lag die Quote der Kinder ohne ausreichenden Impfschutz bei annähernd 20 Prozent. Das kann anhand der Schuleingangsuntersuchungen relativ präzise ermittelt werden. „Unsere Erhebungen belegen auch, dass ein höherer Sozialstatus mit einer niedrigeren Durchimpfungsrate einhergeht“, sagt Jugend-Stadträtin Christine Keil.
Der Vergleich auf Bezirksebene ist allerdings zu grob und bestätigt nur teilweise die Einschätzung, dass bildungsbürgerliche Eltern mit westdeutschen oder West-Berliner Wurzeln häufiger zur Impfmüdigkeit neigen. In den ehemaligen Ost-Berlin Bezirken sind die Quoten besser, dort wirkt die Impftradition der DDR nach.
Asylbewerber sind besonders häufig betroffen
Falko Liecke kann sich für Neukölln keinen Reim auf die relativ hohe Zahl von Masernfällen machen. Die Erkrankungen verteilen sich über den ganzen Bezirk. Nord-Neukölln mit seinem hohem Migrantenanteil sei nicht stärker betroffen als die südlichen, eher bürgerlich-traditionell geprägten Stadtteile. In den Sammelunterkünften für Flüchtlinge habe man gute Erfahrungen mit Impfaktionen gemacht, deshalb gebe es dort keine erhöhten Infektionsraten. Berlinweit sind Asylbewerber jedoch weit überproportional betroffen, besonders aus der Region Bosnien-Herzegowina.
Alarmierend findet Liecke, dass allein in Neukölln 13 Kinder unter einem Jahr erkrankt sind. Sie können nicht gegen Masern geimpft werden. Liecke weist auf die hohe Ansteckungsgefahr hin. In einem Mehrfamilienhaus hätten sich vier Nachbarn nur durch „normale Treppenhauskontakte“ infiziert. Der CDU-Politiker tritt deshalb für eine Impfpflicht ein.
Neigen Grünen-Wähler zur Impfverweigerung?
Die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann, will die Impfgegner nicht mit der pharmakritischen Tradition des grün-alternativen Wählerklientels in Zusammenhang bringen. Eher schon mit der relativ hohen Zahl von Waldorf-Kindergärten und -Schulen im Bezirk. In ihrer eigenen Familie gebe es eine positive Haltung zum Impfen. Als Politikerin werbe sie dafür. Auch eine Impfpflicht lehnt sie nicht kategorisch ab. „Ich bin da hoch-ambivalent.“ Auf jeden Fall sollte über neue Impfkampagnen nachgedacht werden. „Das Ermahnen und Aufklären reicht nicht mehr.“
Wer sich nicht klar ist, ob er als Kind geimpft wurde oder die Masern durchlitten hat, könne sich ohne erhöhtes Risiko quasi auf Verdacht impfen lassen, sagt die Amtsärztin von Charlottenburg-Wilmersdorf, Claudia Kaufhold. Nur durch eine erhöhte Impfrate könne die weitere Ausbreitung der Masern verhindert werden. Über die genauen Ausbreitungswege der verschiedenen Erregertypen gebe es noch keine Erkenntnisse. Das Robert–Koch-Institut komme mit der Bestimmung der eingesandten Proben nicht mehr hinterher.
„Der Ausbruch geht weiter“, sagt die Sprecherin der Gesundheitsverwaltung, Constance Frey. Das gehe aus dem neuen epidemiologischen Bericht hervor.
Thomas Loy