Berliner Eltern streiten über Masern und die Impffrage: Die Stichprobe
„Unverantwortlich“, sagen die einen. „Bevormundend“, die anderen. Seitdem in Berlin ein Kleinkind an Masern gestorben ist, eskaliert der Streit zwischen Impfgegnern und -befürwortern. Mindestens 600 Menschen sind bislang erkrankt. Experten rätseln, warum die Stadt das Virus nicht in den Griff bekommt.
In der Neuköllner Dämmerung braucht es an diesem Morgen nicht viel Überredungskunst, damit die Eltern sich so richtig auslassen: über „die Pharmalobby“, über „rotzfreche Politiker“, über die „diskriminierende und verblendete Mehrheitsgesellschaft“.
Es ist Dienstag, halb acht vor dem Waldorfkindergarten Lindenbaum unweit des S-Bahnhofs Hermannstraße. Das Stichwort ist: Impfen. Die Vogel- und die Schweinegrippe seien Kampagnen der Industrie gewesen, sind einige der ankommenden Eltern sicher, die aktuelle Masernhysterie sei ebenfalls eine. „Ich impfe mein Kind nicht“, sagt eine Mutter, während sie es vom Fahrrad hebt. Sie klingt genervt. Sie allein und niemand anderes dürfe über ihre Kinder verfügen. „Ich lasse mir als Mutter keine Vorwürfe machen.“ Diejenigen, die sich nun empörten, seien Idioten.
„Ich kenne eine Frau, die war nach einer Impfung zwei Jahre arbeitsunfähig“, ergänzt ein Vater mit langen Haaren und gestreifter Hose, Geschäftsführer einer IT-Firma, wie er sagt. Er lasse sein Kleinkind nicht von einem Fuchs beißen, deswegen mache eine Impfung gegen Tetanus auch wenig Sinn, argumentiert er obwohl die Tollwut durch Tierbisse übertragen wird, Tetanus sich eher durch unzureichenden Hygiene verbreitet. Und am Tod des verstorbenen Kleinkinds seien seiner Einschätzung nach vielleicht gar nicht die Masern schuld. Zumindest wolle er dafür einen Beweis sehen.
Den lieferte fast zeitgleich der Obduktionsbericht der Charité. Demnach war der ungeimpfte 18 Monate alte Junge, dessen Tod am Montag bekannt wurde, tatsächlich an Masern gestorben.
Mindestens 600 Menschen sind derzeit in Berlin infiziert
Masern – an diesem Mittwoch werden in Berlin mindestens 600 Männer, Frauen, Kinder mit dem Virus infiziert sein. Das ist der größte Ausbruch, seit im Jahr 2001 das Berliner Infektionsschutzgesetz in Kraft getreten ist. Seitdem wird wieder heftig um das Für und Wider von Impfungen gestritten – in Hebammenpraxen, auf Spielplätzen, in Kitas, Schulen und Behörden. Teils mit dem Furor eines Glaubenskrieges.
Ärzte berichten, am Dienstag – nachdem der Tod des Kindes bekannt wurde – hätten Patienten vermehrt um Impftermine gebeten. Die meisten Praxen hätten aber ausreichend Mittel vorrätig, da sind sich Behörden und Ärzteverbände einig.
Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) hat sich für eine Impfpflicht ausgesprochen. Im Abgeordnetenhaus sagte Czaja auch, er käme aus einem Land, in dem Impfen üblich war – der DDR. Die Forderung dürfte einen Teil der klassischen CDU-Wähler provozieren. Im bürgerlichen Berliner Südwesten sind Impfraten generell niedriger als im Osten der Stadt. Noch weniger werde dort geimpft, berichten Ärzte, wo viele die Grünen wählen. Der Senator weiß, dass drei, vier, vielleicht fünf Prozent der Berliner so harte Impfverweigerer sind, dass er sie durch Appelle, wie Czaja sie in diesen Tagen wiederholt, nicht erreicht.
Eine Impfpflicht hieße: unwillige Eltern zum Spritzen zu zwingen, notfalls durch Polizei und Amtsärzte. In der Senatsverwaltung und dem Landesamt für Gesundheit und Soziales beraten Experten deshalb nicht über ein Impfgesetz, sondern darüber wie man die 20- bis 40-Jährigen dazu bringt, sich und ihren Kindern den nötigen Schutz freiwillig zu holen. Diese Generation arbeite viel, reise viel, feiere viel – zum Arzt gehe sie nur, wenn etwas Akutes anliege. Unter ihnen sind Schätzungen aus den Behörden zufolge 20 Prozent nicht geimpft.
Einzelfallentscheidung: Was ein kritischer Kinderarzt empfiehlt
Doch muss der Staat handeln? In seiner Wohnung am Kurfürstendamm lehnt sich der Doktor auf seinem Küchenstuhl nach hinten, verschränkt die Arme, sucht lange nach der richtigen Antwort. Als er sie gibt, flüstert Karl-Reinhard Kummer beinahe. „Muss er nicht“, sagt der weithin bekannte Kinderarzt.
In der morgendlichen Stille seiner Charlottenburger Wohnung hat der Doktor durchaus den Lärm vernommen, den die Politiker machen. Und der Lärm missfällt dem Fachmann für Kinderkrankheiten, die plötzlich keine Kinderkrankheiten mehr sein sollen, weil ihr Verlauf nicht immer harmlos ist. Die Impfskeptiker stehen mal wieder in der Kritik. „In diesem Klima kann man alles behaupten“, sagt Karl-Reinhard Kummer. „Es geht auch mir nicht darum, Masern kleinzureden, sie sind ein schwerer Infekt, aber seit sie politisch auf null gefahren werden sollen, gilt der Einzelfall bereits als Misserfolg.“ Der Staat müsse aber nicht 100 Prozent fordern, wo die Bereitschaft zur Teilhabe bereits hoch sei.
Er ist für eine "individuelle Impfentscheidung"
Kummer ist Teil eines Netzwerks von Alternativmedizinern, die für eine „individuelle Impfentscheidung“ eintreten. In seiner Karlsruher Praxis hat er intensive Beratungsgespräche mit den Eltern angestrengt, weil nur die bewusste Entscheidung für oder gegen eine Impfung den gesundheitlichen Erfolg bringe, glaubt er. Von dem Plan, alle Kinder einfach „blind durchzuimpfen“, hält er nichts. Und da kann der leise, weißhaarige Herr auch durchaus mal mürrisch blicken. Es ist vorgekommen, erzählt Kummer, dass er als Arzt auch Kinder geimpft habe, die mit einem Infekt zu ihm kamen. Die Eltern wollten es so. „Aus Inkonsequenz habe ich mich herumkriegen lassen.“ Dabei sind Spätfolgen einer solchen Impfung nicht auszuschließen. Die wachsende Zahl an „Western-Lifestyle-Krankheiten“, wie er sie nennt, bei denen aus unerfindlichen Gründen das Immunsystem gestört ist, könnten durchaus Sekundärschäden einer solchen falschen Impfung sein. „Keiner kennt das Wechselspiel zwischen Impfstoff und Körper und ob der Organismus darauf eingeht oder nicht“, sagt er.
Dabei steht die Wirksamkeit des Impfens außer Frage. Sie lässt sich anhand statistischer Erhebungen belegen. So gilt die Pockenkrankheit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Geißel der Menschheit, heute als ausgerottet. Die Pockenimpfung wurde 1967 nach einem Beschluss der Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit Pflicht. Der letzte Fall trat zehn Jahre später auf, seitdem gibt es die Krankheit nicht mehr. Denselben Effekt erhofft sich die WHO von der vorbeugenden Masernimpfung. Seit die Bundesregierung der WHO 2006 das Versprechen gab, Masern in Deutschland auszurotten, gilt die Krankheit als Seuche, sagt Kummer. Mit dem Effekt, dass sich die Verhältnismäßigkeit verschoben habe.
Schon heute ist die Impfquote unter Kindern hoch: Mehr als 90 Prozent der Berliner Erstklässler sind zweimal – also besonders sicher – geimpft worden. Gesundheitsexperten meinen allerdings, dass sie mindestens 95 Prozent betragen müsste, damit die Gesellschaft sich selbst schützt, damit sich das Virus nicht so leicht in Schulen, Heimen und Zügen verbreiten kann. Solange die Quote niedriger liege, könne es immer wieder zu Masernwellen wie jetzt in Berlin oder vor einigen Jahren in Nordrhein-Westfalen kommen.
Zwei Überzeugungen ringen miteinander
Karl-Reinhard Kummer weiß das alles. Wenn er angesichts solcher Zahlen den Kopf schüttelt, dann nicht, weil er den Zahlen an sich misstraute, sondern weil die gesundheitspolitische Weichenstellung auf einen Vorbeugungstotalitarismus hinausläuft. „Es liegen hier zwei Gesundheitsauffassungen im Streit“, sagt Kummer. „Die eine sagt, dass Gesundheit dadurch gewährleistet werde, dass Krankheiten durchlebt werden. Die andere hält Gesundheit für machbar.“
Letztere teilt er natürlich nicht. Der Plan sei vermessen. Die Ökonomen unter den Gesundheitsexperten wüssten nichts über die Folgekosten ihres Plans, wie sich eine künstliche Masernimmunität auf die nächste Generation auswirke. Als Maserninfekte noch nicht unterdrückt wurden, hätten die Menschen einen viel wirksameren Schutz gegen die Krankheit aufgebaut, als sie das heute täten. Er würde deshalb abwarten. Sollte ein Kind bis zum zehnten Lebensjahr Masern nicht bekommen haben, müsse man es impfen. Denn, so sagt Kummer, von da an werden die Komplikationen unkalkulierbar. Alles eine Frage der Abwägung.
"Eine extreme Erfahrung": ein Masernpatient berichtet
Viktor Schmidt hat nie abgewogen. Eigentlich hat er über Masern nie nachgedacht, gibt der 35-jährige PR-Manager, der eigentlich anders heißt und der jetzt in einem Café in Wedding sitzt und einen Ärmel seiner Strickjacke hochschiebt, zu. Fast ungläubig blickt er auf seinen Arm: „Es ist alles wieder verschwunden. Nichts mehr zu sehen. Dabei war der Ausschlag vor ein paar Wochen überall. Mein ganzer Körper fühlte sich verändert an. Ich konnte kaum schlafen.“ Der Mann mit dem sorgfältig getrimmten Vollbart ist Weihnachten an den Masern erkrankt: „Das war die schlimmste Krankheit, die ich je hatte, eine extreme Erfahrung“, sagt er. „Ich habe mich noch nie vorher so schwach gefühlt.“
Es begann mit einer Grippe. Dachte er zumindest. Nach drei Tagen, als er sich kaum noch bewegen konnte und sein Fieber auf fast 41 Grad gestiegen war, rief er zum ersten Mal im Leben einen Notarzt. Der verschrieb ihm ein Antibiotikum. Am nächsten Tag ging es ihm noch schlechter und der Ausschlag begann. Auf Masern kam er da immer noch nicht: „Ich dachte, die Wahrscheinlichkeit, diese Krankheit in Deutschland zu kriegen, ginge gegen null.“ Schließlich ging er mitten in der Nacht ins Krankenhaus. Dort sei es vor allem um die Frage gegangen, ob der Ausschlag eine allergische Reaktion auf das Antibiotikum sein könnte. Zwar testete man ihn auch auf Masern – schickte ihn aber, ohne das Ergebnis abzuwarten, nach Hause. „Erst als ich zwei Tage später anrief und nachfragte, sagte man mir, ich habe die Masern. Die hatten das Ergebnis erst mal verschlampt.“
Zwei Wochen dauerte die Krankheit
Kurz darauf meldete sich das Gesundheitsamt bei ihm und wollte wissen, mit wem er Kontakt gehabt hatte – so sieht es der Seuchenplan des Landes vor. „Zum Glück war das über Weihnachten nur meine Familie, und die waren alle geimpft oder hatten Masern schon gehabt.“ Nach zwei Wochen war er genesen.
Wo er mit dem Virus in Kontakt gekommen ist, weiß er nicht. Und auch nicht, „ob ich als Kind nur einmal oder gar nicht gegen Masern geimpft wurde. Den Impfpass aus der Kindheit habe ich nicht mehr und meine Eltern konnten sich nicht erinnern.“ Sie erzählten ihm aber, der Kinderarzt sei kein Freund des Impfens gewesen. Seitdem er wieder gesund ist, hat er viel zum Thema gelesen: „Ich hätte die Impfung nachholen sollen.“
Das rät auch Marlen Suckau. In einem selbst für die Berliner Verwaltung ungewöhnlich spartanischen Büro sitzt die 45-Jährige an einem Tisch vor einem Innenhoffenster. Suckau ist die ideelle Gesamtinfektionsschützerin der Stadt, die Chefin der Seuchenbekämpfung, die Frau, der Senator Czaja in diesen Tagen blind vertrauen muss: Die Fachärztin für Hygiene und Umweltmedizin leitet im Senat das Referat, bei dem die Zahlen aus den Bezirken einlaufen, sie behält den Überblick, vor allem muss sie sagen, was man künftig besser machen kann. Über mögliche Kampagnen wird sie im Juni sprechen, wenn in der Berliner Urania die Nationale Impfkonferenz ausgerichtet wird.
Zunächst aber sagt Suckau: Es sei Ziel der WHO gewesen, Masern auszurotten – nun frage sich die internationale Fachwelt, warum sie sich ausgerechnet in Deutschland verbreiten. Während die nationalen Experten interessiert, warum insbesondere Berlin die Infektion nicht in den Griff zu bekommen scheint. „Eine einfache Antwort gibt es nicht“, sagt Suckau. „Die Mobilität in der Stadt hat sicher dazu beigetragen.“ Massenhaft zogen Menschen nach Berlin – vor allem eben jene nach 1970 Geborenen, oft aus Westdeutschland, bei denen Impflücken besonders groß sind. „Und bislang“, sagt Suckau, „fruchten Appelle nicht so gut.“
Die ersten Ausbrüche traten in Flüchtlingsheimen auf
Dass die ersten Ausbrüche vor ein paar Monaten in Flüchtlingsheimen auftraten, ist bekannt. Viele Asylbewerber aus Bosnien, oft Roma, sind wegen des Bürgerkrieges in den 1990ern nicht geimpft worden. „Wir wissen doch, wer die Seuche eingeschleppt hat“, brüllte am Dienstag ein wütender Anrufer ins Ohr eines Bezirksamtmitarbeiters. Und der Empörte ist nicht allein, viele zeigen auf die Flüchtlingsheime. Inzwischen aber sind 80 Prozent der Betroffenen keine Asylbewerber. Im Gegenteil, aus Heimen berichten Mitarbeiter, dass gerade Syrer – einst ein weitgehend säkularer, funktionierender Polizeistaat – öfter geimpft seien als die deutschen Nachbarn. Und überhaupt: Unter den oft türkischen Einwandererfamilien der Stadt sind Vorbehalte selten, Anti-Impf-Kampagnen fast unbekannt.
Das berichtet auch eine Großmutter, die am Dienstagmorgen in Neukölln ihr Enkelkind zur Kita bringt. „Verrückt und unverantwortlich“ seien die Impfverweigerer, schimpft sie und erzählt von ihrer Freude, ja Erleichterung, als ein Arzt vor Jahrzehnten in ihrem anatolischen Dorf auftauchte. Natürlich habe sie ihre eigenen Kinder damals impfen lassen. Es sei überheblich und dumm, Kinder „wegen der Politik“ in Gefahr zu bringen.
Vorsicht, Gefahr! Wie die Wissenschaft das Thema behandelt
Marlen Suckau redet dennoch nicht lange über die Idee einer Impfpflicht. Vielmehr schlägt sie vor, was sich rechtlich und politisch besser durchsetzen lässt: Impfungen sollen zur Voraussetzung für Jobs in Schulen, Kitas, Heimen und Kliniken werden. Dies könne man in den Arbeitsverträgen festhalten. Dann hätten auch die Grünen nichts dagegen.
Noch gibt es keine Pflicht, obwohl die meisten Kliniken ihre Angestellten von sich aus haben impfen lassen. Fragt man aber bei großen Kita-Trägern, ist zu hören, es sei „gegen das Grundgesetz“, wenn man sich in solche Fragen einmische oder ungeimpfte Kinder nicht aufnehme. Die Kita einer Elterninitiative in Schöneberg ist wohl die Ausnahme: Sie hat einen solchen Passus trotzdem in ihren Betreuungsvertrag aufgenommen: „Die Masernimpfung ist so früh wie möglich vorzunehmen und durch Vorlegen des Impfpasses nachzuweisen. Eine Zuwiderhandlung kann zum Ausschluss aus dem Kinderladen führen.“ Den Namen der Kita möchte die Verantwortliche nicht in der Zeitung lesen, „weil wir uns rechtlich nicht abgesichert haben, ob so etwas überhaupt geht. Wir haben damit auf Eltern reagiert, die sich regelrecht gebrüstet haben, ihre Kinder nicht impfen zu lassen.“
Der Mensch ist auf Gefahr gepolt
Warum manche Menschen Impfungen ablehnen, hat die Psychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt untersucht. Der Mensch ist von der Evolution auf Gefahr gepolt, sagt sie. Deshalb gehe der Sinn des Impfens in einer Gesellschaft verloren, die die Gefahr gebannt hat. Da die meisten Kinderkrankheiten zurückgedrängt worden seien, hätten die Menschen ein verschobenes Risikobewusstsein. Plötzlich bekämen Details wie eine dramatisch erzählte Geschichte über Impfschäden dasselbe Gewicht wie das Urteil eines medizinischen Experten, der den Nutzen mit Studien untermauere.
In dieser Unübersichtlichkeit reagiert der Mensch nach einem sehr alten Muster. Er sagt sich, es ist besser, nichts zu tun, als durch eine Impfung möglicherweise negative Folgen auszulösen. Die Krankheit, das wäre Schicksal. Für eine Impfung muss man selbst Verantwortung tragen.
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.