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Bildung für alle: ein Lesesaal in der New York Public Library in Manhattan.
© Kool Film

"Ex Libris - New York Public Library" im Kino: Eine Schule fürs Volk

Mit „Ex Libris“ widmet der Dokumentarfilmer Frederick Wiseman der New York Public Library eine hinreißende Hommage.

Bibliotheken sind demokratische Leuchttürme im Gemeinwesen. Und das nicht nur, weil sie heute in vielen Städten zu den letzten Orten im öffentlichen Raum gehören, an denen man sich noch länger aufhalten kann, ohne etwas konsumieren zu müssen. Das Versammlungsrecht gehört zu den Grundvoraussetzungen für gesellschaftliche Partizipation. So sah das auch der Industriemagnat Andrew Carnegie, einer der wichtigsten Förderer des US-amerikanischen Bibliothekenwesens, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärte, dass die nächste Bibliothek für jede Bürgerin und jeden Bürger in Laufdistanz erreichbar sein müsse. Es entsprach dem Selbstbild der Einwanderernation, bei der letzten großen Immigrationswelle um 1910 wurden Bibliotheken zu einem wichtigen Instrument der Integration. Während der Großen Depression dienten sie auch als Gemeindezentren für die Bevölkerung.

Die altehrwürdige New York Public Library, über die der große amerikanische Dokumentarist Frederick Wiseman nun einen seiner schönsten Filme gedreht hat, wurde 1911 eröffnet. Das Hauptgebäude an der Kreuzung Fifth Avenue und 41. Straße in Manhattan ist in zweierlei Hinsicht ein Leuchtturm: als demokratischer Ort in einer zunehmend privatisierten Öffentlichkeit und als architektonisches Wahrzeichen. Mit seiner neoklassizistischen Beaux-Arts-Fassade, dem herrschaftlichem Portal am östlichen Flügel, flankiert von zwei marmornen Löwen (die in ersten „Ghostbusters“-Film vom Totengott Zuul zum Leben erweckt werden), und dem 15 Meter hohen Lesesaal, der eher an den Hof von Versailles erinnert, verkörpert der Repräsentationsbau das Bildungsideal der Gründerväter. Ein Ideal, das angesichts gesellschaftlicher und politischer Umbrüche immer wieder neu verhandelt und verteidigt werden muss.

Wiseman ist der Chronist amerikanischer Institutionen

Es ist vielleicht Zufall, dass Wiseman seinen Bibliotheksfilm zu einem Zeitpunkt herausbringt, an dem das US-Bildungsministerium mit Betsy DeVos von einer Milliardärin geleitet wird, die die Rolle von Privatschulen im amerikanischen Schulsystem durch staatliche Förderung weiter stärken möchte. Wiseman begann mit den Dreharbeiten zu „Ex Libris – New York Public Library“ lange bevor sich in den USA ein Präsident Donald Trump abzeichnete. Doch als umsichtiger Chronist der amerikanischen Institutionen besitzt er ein feines Gespür für die zyklischen Meinungskonjunkturen; in seiner 50-jährigen Karriere drehte er Filme über Kliniken, Schulen, das Militär und Gerichte. Dass er sich zuletzt häufiger vermeintlich elitären Kultureinrichtungen wie der Pariser Oper oder der Londoner National Gallery zuwendet, zeugt wohl nicht zuletzt von deren erhöhtem Legitimationsdruck im Neoliberalismus.

Der Regisseur Frederick Wiseman dreht seit über 50 Jahren Dokumentarfilme über die gesellschaftlichen Institutionen Amerikas.
Der Regisseur Frederick Wiseman dreht seit über 50 Jahren Dokumentarfilme über die gesellschaftlichen Institutionen Amerikas.
© Kool Film

„Ex Libris“ entstand 2015 nach einer jahrelangen Diskussion um den Central Library Plan, der den größten New Yorker Bibliothekenverbund mit seinen 92 Filialen „publikumsfreundlicher“ gestalten sollte: etwa durch ein Internetcafé im Hauptgebäude in Manhattan, zugunsten einer drastischen Reduzierung des Präsenzbestandes. Der Plan wurde unter dem seit 2011 amtierenden Präsidenten Anthony Marx, der im Film ausführlich zu Wort kommt, wieder einkassiert. Doch die Frage nach der „Marktfähigkeit“ der Bibliothek streift Wiseman ebenso wie die Herausforderung, sich den neuen Anforderungen der Nutzerinnen und Nutzer zu stellen.

In Amerika sind Bibliotheken von Mäzen abhängig

Die Besonderheit amerikanischer Bibliotheken besteht darin, dass sie dem Namen nach zwar öffentlich sind, aber nur teilweise mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Sie sind abhängig von Mäzenen wie dem Investmentbanker Stephen A. Schwarzman, der vor zehn Jahren die Sanierung des Hauptgebäudes mit 100 Millionen Dollar finanzierte. Auch die New York Public Library ist Rechenschaft schuldig. So drehen sich die Gespräche in der Verwaltung unter anderem um die Frage, ob man das Budget eher für populäre Unterhaltungsliteratur aufwenden sollte, die schnell zirkuliert, oder für speziellere Publikationen für den Forschungsbestand. Sind E-Books mit teuren Lizenzen wirtschaftlicher als günstige analoge Exemplare?

Wiseman ist wie immer in seinen Filmen der unsichtbare Beobachter. Er filmt Verwaltungstreffen und Publikumsgespräche (unter anderem mit Elvis Costello, Patti Smith und Ta-Nehisi Coates), Kammermusikkonzerte und immer wieder das Publikum in den Lesesälen – hinter leuchtenden Laptopmonitoren. Die Bücher selbst streift auch Wiseman nur noch beiläufig, am eindrucksvollsten in den Aufnahmen aus dem Bauch der Bibliothek: an den Fließbändern, wo die rücklaufenden Bücher im Akkord von Menschenhand sortiert werden.

In dreieinhalb äußerst kurzweiligen Stunden umzirkelt „Ex Libris“ diesen wie aus der Zeit gefallenen Organismus, arbeitet sich vom Zentrum immer wieder an die Ränder vor, wo sich die Satelliten der New York Public Library in überwiegend afroamerikanischen Vierteln wie Harlem, Sitz des Schomburg Centers for Black Culture, oder der Bronx befinden – und bis nach Chinatown. Hier sind die Aufgaben der Bibliothek noch kommunaler Art. Schwarze Schulkinder bekommen Nachhilfe in Mathe, ehrenamtliche Helferinnen bringen chinesischen Frauen und Männer mit Engelsgeduld basale Computerkenntnisse bei. „Bildung, der Zugang zu Wissen, ist die Antwort auf Ungleichheit“, heißt es einmal.

Bibliotheken sind Vorreiter der "inklusiven" Stadt

Wiseman widmet dem sich wandelnden Selbstverständnis der Bibliotheken viel Zeit, unterschlägt aber auch nicht die Fundraisingaktivitäten mit Aufsichtsrat- und Spendendinnern – bei denen dann doch wieder überwiegend nicht-weiße Angestellte die Tische decken. Mit dem deutschen Büchereiwesen ist die New York Public Library in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung kaum zu vergleichen. In einer Stadt, in der drei Millionen Menschen keinen Internetzugang besitzen, spielt die Bibliothek auch eine Vorreiterrolle bei der „digitalen Alphabetisierung“ der Bevölkerung.

Seniorentanzkurse und die Erweiterung von Laptop-Stationen an den Leseplätzen, Job-Börsen und der Verleih von mobilen Hotspots für den heimischen Internetgebrauch, die Bereitstellung von Lehrmaterial für den Nachhilfeunterricht und von Räumen mit X-Boxen für Jugendliche zum Daddeln: Mitunter sieht es so aus, als übernehme die New York Public Library all die Aufgaben, von denen der Staat sich langsam zurückzieht. Kundenbetreuung ohne Callcenter-Mentalität. Staunend sieht man dabei zu, wie ein Telefonist am Helpdesk freundlich erklärt, dass Bücher über Einhörner nicht in der Sachbuchabteilung zu finden sind, sondern unter Fantasyliteratur.

„Die Bibliothek darf nicht scheitern“, sagt eine Mitarbeiterin voller Überzeugung. Man kann den Satz auch als Warnung verstehen. Bibliotheken haben gerade nicht nur einen umfassenden Medienwandel zu bewältigen, sondern müssen sich auch als physischer Ort behaupten. Welche andere öffentliche Einrichtung gibt schon kostenlos Nachhilfe in Marxismus und gewährt Obdachlosen Unterschlupf? Wissen ist Macht. Das haben auch die politischen Kräfte verstanden, die Bildung gerne mit einem Preisschild versehen würden, um den Zugang zu erschweren.

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