Neuer Leiter im Haus der Wannsee-Konferenz: Arbeiten mit der Ambivalenz des Ortes
Seit Mai leitet Hans-Christian Jasch das Haus der Wannsee-Konferenz, in dem vor 72 Jahren die "Endlösung der Judenfrage" besprochen wurde. Für ihn ist das Haus "ein Ort der Täter" und ein "Lernort" zugleich - eine Ambivalenz, die durchaus positiv sein kann.
„Wie hätte ich mich unter den Bedingungen einer NS-Diktatur verhalten?“ Diese Frage stellt sich Hans-Christian Jasch häufig. Sie ist der Antrieb für seine Arbeit als neuer Direktor des Hauses der Wannsee-Konferenz. Vom Balkon seines Büros hat er einen beneidenswerten Blick über den Wannsee: Segelschiffe liegen im Wasser, die Blätter der Seerosen in Ufernähe schaukeln im Rhythmus der Wellen. All das lädt zum Träumen von einer friedlichen, heilen Welt ein - doch nicht für Hans-Christian Jasch. Denn was sich zu NS-Zeiten hinter den Mauern der imposanten Wannsee-Villa zugetragen hat, liegt jenseits mancher Vorstellungskraft. Hier wurde vor 72 Jahren am 20. Januar 1942 die „Endlösung der Judenfrage“ besprochen.
Das Thema lässt den promovierten Juristen und Rechtshistoriker nicht los. Seit seiner Jugend beschäftigt er sich mit den Opfern und Tätern im Nationalsozialismus. Als Schüler reiste er nach Sderot, der israelischen Partnerstadt des Bezirkes, und kam zum ersten Mal mit Holocaust-Überlebenden ins Gespräch. In den Vereinigten Staaten lernte er 1989 eine jüdische Familie kennen mit Wurzeln in Frankfurt und Berlin. „Diese Begegnungen haben meine Identität als Berliner und Deutscher sehr geprägt“, sagt er.
"Das Recht wurde in verschiedenen Systemen immer wieder instrumentalisiert"
Der 41-Jährige ist in Zehlendorf aufgewachsen und ging auf das Droste-Hülshoff-Gymnasium. Seine Großeltern lernte er nie kennen, sie starben früh. „Ich hätte sie gern noch viel gefragt“, verrät er. Die Erinnerungen und Ansichten älterer Menschen interessieren ihn. Jasch hört gerne zu, Geschichte ist sein Hobby. Dennoch entschloss er sich zu einem Jurastudium an der Humboldt-Universität. „Weil ein Jurist politisch wirken kann“, begründet er seine Studienwahl und gibt zugleich zu bedenken, dass das Recht in verschiedenen Systemen unter bestimmten Rahmenbedingungen immer wieder instrumentalisiert wurde - nicht nur im Dritten Reich.
Erste wissenschaftliche Erfahrungen auf dem Gebiet machte Jasch als Praktikant bei der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika zur Bewältigung des Apartheidunrechts. Später beschäftigte er sich in Simbabwe mit Enteignung und Rückübertragung sowie mit der Frage der „Geschichtsfestigkeit des Eigentums“.
Zurück in Berlin und fertig mit dem Studium ging Jasch in das Bundesministerium des Innern und arbeitete dort zuletzt als Regierungsdirektor. Er verfasste eine Promotion zur politischen Laufbahn von Wilhelm Stuckart, einem NS-Juristen, Vertreter des Reichsministeriums des Innern und Teilnehmer der Wannsee-Konferenz. Jahrelang wälzte er Akten und recherchierte in der Bibliothek des Hauses der Wannsee-Konferenz, die als eine der umfassendsten Sammlungen ihrer Art gilt. Außerdem führte er Interviews mit den Söhnen Wilhelm Stuckarts.
So gelang es ihm, einen Teil aus dem Leben des NS-Mannes zu rekonstruieren. „Wilhelm Stuckart war mit 31 Jahren relativ jung und überzeugt von der Sache, als er seine Karriere im NS-Staat begann“, erzählt Jasch. Er sei hochintelligent und ein ausgezeichneter Jurist gewesen; ein Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen. Weil er von dem System fasziniert war, habe er sich voll in dessen Dienst gestellt.
Das als Wannsee-Konferenz in die Historie eingegangene Treffen fand am 20. Januar 1942 auf Einladung des Chefs der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, statt. Es waren 15 Vertreter der Reichsministerien, der SS und der NSDAP anwesend. Im Wesentlichen ging es um die Frage der geplanten Deportation der europäischen Juden und die Definition des Opferkreises. Die einstige Fabrikantenvilla am Großen Wannsee war von 1941 bis 1945 ein Gäste- und Tagungshaus des Reichssicherheitshauptamtes.
Heute ist das Haus Gedenk- und Bildungsstätte
Heute ist das Gebäude eine Gedenk- und Bildungsstätte mit dem Trägerverein des Hauses der Wannsee-Konferenz „Erinnern für die Zukunft“. Es gibt eine ständige Ausstellung und Sonderausstellungen, die Bibliothek sowie Bildungsangebote. Anfang Mai übernahm Hans-Christian Jasch die Leitung und löste damit Norbert Kampe ab, der das Haus seit 1996 entscheidend mitgeprägt hatte.
„Es ist ein Ort der Täter“, erinnert Jasch. Deshalb gelte es, die Thematik besonders sensibel zu vermitteln. „Für mich ist das Haus ein Lernort“, fügt er hinzu - jeden Tag aufs Neue. Die vorhandene Ambivalenz könne produktiv wirken, denn es sei wichtig, kein einseitiges Geschichtsbild zu vermitteln. Die Ausstellung soll verstören, Neugier wecken, Fragen provozieren und als Demokratisierungskatalysator wirken. „Wir müssen uns fragen, wie wir uns in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft positionieren.“
Künftig soll es im Haus der Wannsee-Konferenz auch neue Bildungsangebote geben, etwa für Angehörige der Funktionseliten aus Justiz, Polizei und Verwaltung. Am Beispiel der Rolle der Justiz und Verwaltung im Dritten Reich sei es möglich, die heutige Verantwortung juristischer Berufe für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schärfen. Außerdem will Jasch die neuen Medien verstärkt einbeziehen. Es könnte schon bald eine App vom Haus der Wannsee-Konferenz geben.
Vor Jasch liegt eine Menge Arbeit. Das Regal in seinem Büro ist noch relativ leer; genügend Platz für neue Aktenordner. Ein Blick aus dem Fenster genügt und er ist wieder mittendrin in seinem Thema. Nebenan steht die Villa des Malers Max Liebermann, dessen Frau Martha sich vor der Deportation nach Theresienstadt das Leben nahm, und gegenüber ist das Strandbad Wannsee, wo ab den 1930er Jahren das Baden für Juden verboten war.
Die Autorin ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für die Evangelische Wochenzeitung "dieKirche". Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.