Konzentrationslager im "Dritten Reich": Terror von Anfang bis Ende
Der Historiker Nikolaus Wachsmann stellt das System der Konzentrationslager in all seinen Aspekten dar. Eine Rezension.
Beim Wort „Konzentrationslager“ denkt man augenblicklich an Auschwitz. Man denkt an die Todesfabriken, die Krematorien, die Berge von Brillen und Koffern. Man hat die KZ im Osten angesiedelt, in Polen, außerhalb Deutschlands, und was hierzulande zu sehen und nicht zu leugnen war, Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, hat man von den Vernichtungslagern getrennt gedacht: Der Völkermord ereignete sich anderswo. Das ist falsch, aber so funktioniert das Gedächtnis, es sortiert, um die Geschichte erträglicher zu machen.
Die Geschichte, das ist die Gesamtheit der Lager, das gesamte System, „die Ordnung des Terrors“, wie der Soziologe Wolfgang Sofsky vor Jahren seine bahnbrechende Studie betitelt hat. Und das ist das, was der in Cambridge ausgebildete und in London lehrende Münchner Historiker Nikolaus Wachsmann in seinem 984 Seiten starken Buch „KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ in seiner Gesamtheit erfasst, eine Synthese der unüberschaubar zahlreichen Einzelstudien zu den KZ und ihrer Verortung innerhalb des Herrschaftssystems des Nationalsozialismus.
„KL“ ist die offizielle Abkürzung des NS-Regimes
Wachsmann verwendet die Abkürzung „KL“, weil sie die offizielle des NS-Regimes ist und sich so in allen Akten findet; das härter klingende „KZ“ kam erst nach dem Krieg auf. Das sei als Hinweis auf die unbedingte Faktentreue Wachsmanns verstanden. Und doch ist sein Buch keine bürokratische Auflistung des bürokratisch verwalteten Mordens; zahllose Augenzeugenberichte, oft nur kleinste Zitate, letzte Spuren von Ermordeten, geben dem Buch eine humane Dimension, ohne die die Schilderung der Fakten abstrakt bliebe. Es gilt das zynische Wort Stalins, der selbst ein noch umfassenderes Lagersystem aufrichtete: „Ein Toter ist eine Katastrophe, tausend Tote sind eine Statistik.“ Damit genau das nicht die Perspektive sei, allen Zahlen zum Trotz, lässt Wachsmann die Opfer zu Wort kommen und hat die letzte Nachricht eines in Auschwitz Ermordeten vom September 1944 als Motto vorangestellt: „Möge die Welt wenigstens einen Tropfen, ein Minimum dieser tragischen Welt, in der wir lebten, erblicken.“
Angefangen hat das KL-System in Dachau, improvisiert nach der „Machtergreifung“. Politische Gegner kamen in „Schutzhaft“, manche wurden erschlagen, zu Tode geprügelt. Genau da begann die Entfesselung der Gewalt, die keine Sanktionen zu fürchten hatte, und die in den späteren Lagern keine Grenze mehr kannte. Doch das Lagersystem war nicht von Anfang an beschlossen. SS-Chef Himmler musste Hitler 1935 die Erlaubnis abringen, Dachau auf Dauer beizubehalten. Einmal begonnen und in seinem Nutzen für das Regime erkannt, kamen ab 1936 eigens errichtete, nicht mehr wie Dachau irgendwo untergebrachte Lager hinzu, und vor allem bekamen sie eine wirtschaftliche Dimension. So hatten die Steinbrüche von Mauthausen und Flossenbürg das Material für die NS-Prachtbauten zu liefern.
Auschwitz wurde zum Zielort der anlaufenden Deportationen aus West- und Mitteleuropa
Gleichwohl stand die Ausbeutung der Häftlinge stets im Widerstreit mit der erklärten Absicht, sie schnellstmöglich umzubringen. In Auschwitz, dem bei Weitem größten Lager, kamen 1,1 Millionen Menschen ums Leben, davon 870 000 gleich nach Selektion an der „Rampe“. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wird der Völkermord zur umfassenden Realität; in schneller Folge entstehen die Todeslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Wiewohl mit dem KL-System verflochten, bilden die Todeslager eine eigene Gruppe unter dem Befehl des SS-Führers in Lublin, Odilo Globocnik. „In den frühen Jahren des Zweiten Weltkriegs hatten die Konzentrationslager am Rand der antijüdischen NS-Politik gestanden; die Gegenwart drehte sich hauptsächlich um Ghettos und Zwangsarbeitslager, und die Zukunft um tödliche ,Judenterritorien’“, schreibt Wachsmann: „Anfang 1942 waren weniger als 5000 von den 80 000 KL-Insassen Juden.“ Dann aber kamen Wannsee-Konferenz und „Endlösung“.
Was die Erklärung des Holocaust angeht, folgt Wachsmann der heutigen Lehrmeinung. Der Holocaust war „die Kulmination eines dynamischen mörderischen Prozesses, vorangetrieben von zunehmend radikalen Initiativen von unten wie von oben“. Mit der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 wurde die „Endlösung“ zur Leitlinie erhoben; sei es durch sofortige Tötung oder „Vernichtung durch Arbeit“. Allerdings wurde am Wannsee überraschenderweise nicht über Konzentrationslager gesprochen. Das folgte erst Tage später, offenbar nach einem spontanen Wutanfall Hitlers. Daraufhin notierte der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich: „Juden in die Kl.s.“ Auschwitz wurde zum Zielort der anlaufenden Deportationen aus West- und Mitteleuropa.
Doch bis dahin ist es eben kein gerader Weg. Immer wieder weist Wachsmann auf die Bedingtheit der Entwicklung hin. Ende 1937 beträgt die Zahl der Häftlinge 7746 – gegenüber rund 100 000 Gefängnisinsassen –, schwillt im Jahr darauf auf 50 000 an, um bis Kriegsbeginn auf 21 400 abzusinken. Die bloßen Zahlen belegen die Verschränkung mit dem Krieg, und, mit dessen für die NS-Führung immer schlechterem Verlauf, die Verschränkung mit der Kriegswirtschaft und der Rüstungsproduktion. Mitte Januar 1945 erreicht die Häftlingszahl mit 714 000 ihren Höchststand. Die letzte überschlägige Zahl von 550 000 Häftlingen Anfang April 1945 lässt in ihrer Abnahme das Ausmaß des vollends entgrenzten Terrors in den Zwangsfabriken und auf den Todesmärschen erahnen.
Gegenüber dem Terror per se steht die wirtschaftliche Dimension des Lagersystems im Hintergrund. Wachsmann kommt in verschiedenen Kapiteln darauf zu sprechen. Daraus ergibt sich eine eigene Geschichte der Ausbeutung innerhalb einer Geschichte der zunehmenden Einflussnahme der SS auf die Wirtschaft. Allerdings verfolgten „Himmler und andere SS-Führer keine wirkliche Langzeitstrategie und zeigten wenig Neigung, in eine Produktion größeren Stils einzusteigen“ – „mit einer Ausnahme: den Häftlingswerken in Dachau“. Erst Ende der dreißiger Jahre kam es zu einer „weit aggressiven ökonomischen Strategie“, angeführt von Oswald Pohl.
„Das KL-System war ein großer Werte-Wandler“
Man muss in dem streng chronologisch aufgebauten Buch mehrere Sprünge machen, um die Aktivitäten dieser wenig bekannten Führungsfigur zu verfolgen. Als Leiter des mittlerweile eingerichteten Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes (WVHA) der SS bekommt Pohl im Frühjahr 1942 die Zuständigkeit für die KL und plant, innerhalb der Lager Rüstungsbetriebe zu etablieren. Da kommt ihm der just ernannte Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer, in die Quere: Er setzt die Beschäftigung von Häftlingen in privaten Betrieben durch, und nun entsteht ein dichtes Netz von Außenlagern. Das führt unmittelbar zu der Frage, ob die deutsche Bevölkerung von den Lagern und den Häftlingen gewusst habe. „Da immer mehr Außenlager sich über das Land ausbreiteten“, schreibt Wachsmann, „war eine riesige Zahl von Deutschen Zeuge der in ihrem Namen begangenen Verbrechen geworden“. Andererseits schränkt er ein: „Während viele normale Deutsche eine allgemeine Kenntnis vom Massenmord an europäischen Juden im Osten hatten, hörten sie hauptsächlich von Massakern und Erschießungen, nicht von Lagern. Die meisten Deutschen haben von Auschwitz erst nach Kriegsende erfahren.“
Erfahren schon, es aber lange Jahre nicht wirklich begriffen. „Das KL-System war ein großer Werte-Wandler“, schließt Wachsmann sein Buch. „Seine Geschichte ist eine Geschichte dieser Wandlungen, die brutalste Gewalt, Folter und Mord zur Norm machte.“ Das, und nicht die oft behauptete „Modernität“ des Lagersystems, steht im Mittelpunkt von Nikolaus Wachsmanns Erkenntnisinteresse. 2,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden von der SS in die Lager getrieben, 1,7 Millionen kamen darin um. Ihnen gibt Wachsmann eine Stimme. Und mehr noch. Sein monumentales Werk macht deutlich, wie zentral, wie unerlässlich der Terror für das NS-Regime war, von 1933 an bis in die letzten Stunden seines Untergangs.
– Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Siedler Verlag, München 2016. 984 Seiten, 39,90 Euro.
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