Spießigkeit mit bodentiefen Fenstern: Die Autorin Anke Stelling hält dem Prenzlauer Berg den Spiegel vor
Anke Stelling hat ein Buch über das Leben in Prenzlauer Berg geschrieben. Sie selbst wohnt auch hier. Ein Spaziergang entlang der Widersprüche.
Auf einem Hügel am Rand des Ernst-Thälmann-Parks, umrahmt von dicht gewachsenem Grün endet der Spaziergang in einem Aufatmen. Kühl ist es hier, vier Meter über der Kreuzung Danziger/Greifswalder Straße, und auf einem Mäuerchen kann man gut sitzen. Eine Art Duschgestell steht hier, das regelmäßig Wasser abgibt. „Alle 15 Minuten“, sagt Anke Stelling. Und tatsächlich plätschert es plötzlich los. Aus mehreren Öffnungen pladdert es auf den Stein.
Auf der anderen Seite des Mauerrunds sitzt eine Frau und liest ein Buch. Sie ist nicht alt, nicht jung, nicht schick, nicht schäbig. „Sieht sie nach Prenzlauer Berg aus?“, fragt Stelling, 47, Schriftstellerin. So, wie man es sich vorstellen würde, wenn jemand sagt: Auf einer Mauer in einem Park in Prenzlauer Berg saß eine Frau und las ein Buch. Nein, oder? Man würde mehr erwarten.
Die Autorin ist sozusagen Expertin für enttäuschte Erwartungen. Und für Prenzlauer Berg, wo es sie hinzog, als sie 1991 aus Baden-Württemberg nach Berlin kam. Den Bezirk, der Synonym wurde für Gentrifizierung, für neubürgerliche Konformität bei gleichzeitigem Distinktionsgebaren. Zwei ihrer Bücher hat Stelling über die bezirkstypische Wohlstandsclique geschrieben.
Das Buch von 2015 heißt „Bodentiefe Fenster“, das neue „Schäfchen im Trockenen“. In beiden hadert eine Ich-Erzählerin, die der Autorin nicht ganz unähnlich ist, mit der Unehrlichkeit, der Scheinwahrerei, die das Erwachsenwerden in der Klassengesellschaft mit sich bringt. Es geht um Baugruppen, Erziehung, um Statussymbole und Probleme, die Freunde bekommen, wenn irgendwann unignorierbar wird, dass die einen Geld haben und die anderen nicht.
Wie genervt ist die Autorin also von Prenzlauer Berg?
Nicht sehr, wie sich schnell rausstellt. Dass heute alles anders ist als damals? Veränderung ist Leben. Dass die Veränderung in diesem Fall vor allem Homogenität ergeben hat? Ja, das falle auf. Wer hier alt sei, sei Oma auf Besuch, wer hier Ausländer ist, aus den USA. Aber trotzdem gebe es ja noch kleine Kreativitätsinseln.
Mit Stipendium zu Bio Company, ohne zu Netto
Und die Nostalgie, die einen gelegentlich befalle, wenn man da, wo früher finstere Kneipen vor sich hin moderten, heute süße Cafés mit handgemalten Menütafeln findet? Vielleicht sei die ja mehr die Sehnsucht nach sich selbst von damals, nach der eigenen Jugend, dem eigenen unfertigen Zustand von damals. Oder?
Stelling macht, anders als ihre aufgebrachten Romanheldinnen, einen versöhnlichen Eindruck. Den bei aller Konsumlust auf Nachhaltigkeit bedachten Wohlstand um sie herum nimmt sie in seiner Widersprüchlichkeit eher hin, als dass er sie aufregt. Ihre eigene Devise ist: „Wenn ich ein Stipendium habe, gehe ich zu Bio Company, ohne Stipendium zu Netto.“ So weit die Erfordernisse des Heute.
Da aber, wo wir sie getroffen haben, in der Schliemannstraße, ist es noch wie früher. Hier hat sie in der Wohnung eines Bekannten ihr Arbeitszimmer. In einer unsanierten Wohnung, ohne Kochinsel, indirekte Beleuchtung, hochwertige Armaturen. Wie eine Filmkulisse sieht die ganze Rumpeligkeit aus. Stelling nickt zufrieden, was ein Glück, so etwas hier noch zu haben. Etwas Unfertiges.
Stelling hat drei Kinder
„Nach links“, sagt sie, als wir vorm Haus stehen. Denn rechts, Richtung Helmholtzplatz, kenne sie jeder. Wegen der Kinder. Wer am selben Ort drei Kinder, inzwischen 16, 14 und zehn Jahre alt, durch Kita, Schule, Sport schleuse, lerne sehr viele Menschen kennen.
Gleich neben ihrer Büroadresse steht ein Neubau mit bodentiefen Fenstern. Bodentief und dazu nahezu zimmerbreit. Viel zu zeigen, viel zu sehen, ein Leben im Schaufenster. Ihr eigenes Baugruppenhaus, Inspiration für die Romane, zeigt Stelling nicht. Das sei die Verabredung mit den Mitbewohnern. In ihrem neuen Buch ist die Protagonistin nicht miteingezogen.
Weil das Geld fehlte, sie es nicht leihen wollte von einem der Erben, der zu ihren Freunden zählt. Weil sie die Gönnerhaftigkeit, mit der den armen Freunden die dunkle Erdgeschosswohnung angeboten wird, nicht erträgt. Stattdessen schreibt sie einen Magazinartikel und ein Buch über das Projekt und ihr Nicht-Dazugehören – und hat danach Ärger mit den Baugruppenhausfreunden, die sich verraten und vorgeführt vorkommen.
1997 ging sie nach Leipzig und kehrte 2002 zurück
Er funktioniert also nicht, der Traum vom besseren, nichtmarktkonformen Zusammenleben, zumindest nicht im Roman. Das sei aber kein Grund, es nicht immer wieder zu versuchen, sagt Stelling. Nur sollte man bitte ehrlich bleiben.
Wo die Schliemannstraße auf die Danziger Straße trifft, wird es laut und hässlich. Wir gehen Richtung Osten. Vorbei an unsanierten Gründerzeithäusern und sanierten, an 90er-Jahre-Bausünden, an einer Baulücke und Plattenbauten. Wohnraumstadien, wie zur Besichtigung aneinandergereiht.
Anke Stelling hat zweimal erlebt, was passiert, wenn der Westen in den Osten einfällt. Nach sechs Jahren Prenzlauer Berg ging sie 1997 nach Leipzig, ans dortige Literaturinstitut, besichtigte erneut Aufbruch und Umbruch und kehrte 2002 zurück, da waren 40 Prozent der Wohnungen im Bezirk saniert, standen nur noch schäbige Hinterhauswohnungen leer und Schulen.
Mutterliebe verlangt angeblich nicht, in Wahrheit aber alles
Dafür fehlten Kita-Plätze, weil die Zuziehenden wie auch Stelling Kinder bekamen. Dass sich mit den Kindern das Denken ändert und der Blick auf alles, was nicht diese eigene Familie ist, ist Dauerthema in ihren Büchern. Von der Frage, wie man die ganze Sorge um die Kleinen aushalten soll, ohne durchzudrehen („Ich wünsche mir so, dass sie alle glücklich sind. Wie kann ich sie dazu zwingen?“), bis zur Befürchtung, Mutterliebe sei vergiftet: „verlangt angeblich nichts und in Wahrheit aber alles“.
Der Plattenbau im Thälmann-Park war auch mal ihr Zuhause. Der Weg dorthin führt kurz durch die Jablonskistraße, vorbei an einem anderen Baugruppenhaus, das aussieht wie alle, weil fast überall Architekten beteiligt waren, die wussten, was gerade alle wollen.
Kurz hinter dem Haus liegt ein kleiner Kleiderstapel auf dem Gehweg. Zu verschenken. Stelling steuert darauf zu. Hemden, ein Pullover, Schuhe. Toll!, findet sie. Sie schaue immer, ob was dabei sei. Sie hebt die Hemden hoch, „frisch gewaschen“, gutes Zeug. Aber alles für Männer. Pech. Und ihr Mann sei nicht begeistert von derlei Fundstücken.
„Milieus erkennen sich“
Also wieder rüber über die Danziger Straße und rein in den Park, rauf auf den Hügel zur „Plansche auf dem Spielberg“. Hier habe sie früher auch gesessen, als ihre Kinder klein waren. Mit den anderen Müttern aus dem Riesenbau. Aber es sei nichts Gemeinsames entstanden. Man habe sich beäugt. Wer motzt seine Kinder an, wer cremt sie ordentlich ein? „Milieus erkennen sich“, sagt sie.
Im neuen Buch hat die Romanheldin gerade die Kündigung ihrer Wohnung erhalten, in der sie nur Untermieterin ist. Wohin nun mit vier Kindern und einem Mann, der als Künstler auch nur prekär verdient? Die Angst ist, dass es nur noch für Marzahn reichen wird.
Ein Absturz in die Unterschicht: falsche Fingernägel, Übergewicht, Ballonseide und Red-Bull- Imitate. Wo sie doch auch nicht hingehört! Die Andersartigkeit, die die Gesprächsaufnahme ausbremse, habe sie hier am Plansche-Spielplatz erlebt. Lange her. Heute ist er bis auf die Plansche modernisiert, die Wohnungen in der Platte sind begehrt.
Vielleicht schreibt Stelling bald einen Liebesroman
Während die Vögel piepsen und die Bäume rauschen, und außer der Frau mit dem Buch niemand zu sehen ist, wirken Wohnungsnot- und Abstiegsangstszenarien übertrieben. Aber natürlich stimmt es. Und wer nicht vorgesorgt und selbst gebaut hat, sucht Architekten, die Räume teilen sollen, damit jedes Kind ein eigenes Zimmer hat. Vielleicht gehört auch das bald zu den Ansprüchen, die überdacht werden müssen.
Im Buch kommt am Ende Ahrensfelde als möglicher neuer Wohnort vor. „Es ist okay“, lässt Stelling ihre Heldin sagen. Und: „Vielen wird es im Verlauf der nächsten Jahre genauso gehen.“
Sie selbst hat die nächsten Monate viele Lesetermine und wird dann vielleicht einen Liebesroman schreiben. Die Liebe kann sich auf etwas gefasst machen.