Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“: Die Wahrsprecherin vom Prenzlauer Berg
Die Preisträgerin der Leipziger Buchmesse: Anke Stelling hat mit „Schäfchen im Trockenen“ eine beißende Milieustudie verfasst.
Resi ist wütend. In der Hand hält sie die Kündigung ihrer Wohnung. Altbau in der Berliner Innenstadt, ein 18 Jahre alter Mietvertrag. Jetzt müssen sie raus, Resi, ihr Mann und ihre vier Kinder. Denn Resi war nur Untermieterin, der Vertrag gehörte ihrem alten Freund Frank. Der hat seine Kündigung lediglich mit einem grünen Stempel versehen. „Zur Kenntnis“ steht da. Wo hat Frank diesen Stempel bloß her? Hat er ihn extra anfertigen lassen, um nicht ein persönliches Wort an seine alte Freundin richten zu müssen, während er sie und ihre Familie auf die Straße setzt?
Die Kündigung ist der Ausgangspunkt für eine 260 Seiten lange Wutrede, die Anke Stelling ihre Protagonistin Resi in dem Roman „Schäfchen im Trockenen“ halten lässt, für den sie am Donnerstag den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik erhielt. Wie schon Stellings Buch „Bodentiefe Fenster“ von 2015 ist der Roman die Studie eines ganz bestimmten Milieus: Mittvierziger, die einst mit linken Idealen aus Süddeutschland nach Berlin kamen und jetzt im Prenzlauer Berg Baugruppenhäuser mit vanillefarbenen Fassaden für sich und ihre Familien errichten.
Das Mittelschichtsdasein ist reine Performance
Resi fehlte damals das Geld, um beim Bauprojekt ihrer Freunde mitzumachen. Ihre Eltern hatten kein Abitur, im Gegensatz zu ihren Freunden wird sie nie erben. Noch dazu ist sie erfolglose Autorin, ihr Mann Sven erfolgloser Künstler. Resi schreibt ihre Romane auf einem altersschwachen Notebook in der kleinen Kammer bei der Küche, raucht dabei Kette. Mittags isst sie heimlich „Unterschichtenmittagessen“, Dosenravioli und Tütensuppen, deren Verpackungen sie ganz unten im Müll versteckt. „Ich bin eine Wandlerin zwischen den Welten, eine Mutter, die ihre Armut verbirgt“, schreibt sie.
Das Mittelschichtsdasein ist reine Performance. Trotzdem ist die Angst, nicht mehr dazuzugehören, groß. Die Platte in Marzahn ist das Schreckensbild, das Resi immer wieder zeichnet. Sie kann aber auch nicht damit aufhören, das Leben ihrer Clique im Prenzlauer Berg kritisch zu beleuchten in ihren Artikeln und Romanen. „Gut: Es geschafft zu haben. Bis hierher gekommen zu sein, seine Schäfchen im Trockenen zu wissen – zumindest jedes im eigenen Zimmer, in der Kita oder an der Wunschschule, die der Einzugsschule aus diversen Gründen vorzuziehen ist,“ schreibt sie. „Mies: Diese Art von gutem Leben eine Misere zu nennen.“
Resi kommt von Parrhesia, dem griechischen Wort für Redefreiheit, wie Anke Stelling in Interviews gesagt hat. Resis Drang, die Wahrheit zu sagen, hat sie erst die Freundschaften und dann auch die Wohnung gekostet, denn die alten Freunde fühlen sich verraten. Doch für Resi ist das kritische Beleuchten ihrer Verhältnisse die einzige Möglichkeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen. „Auch die Welt der Brotboxen und Doodlelisten, Kontoauszüge und Komposteimer, Adventskalender und Läusemails muss eine Hinterseite haben, und ich werde nicht aufhören, mich zu drehen und alles zu verwirbeln, damit sie vorkommt, damit ich selbst noch vorkomme in dem Leben, das mein einziges ist“, schreibt sie. „Klingt pathetisch? Ist mir egal“.
Resi will gnadenlos ehrlich mit ihrer Tochter sein
Anke Stelling schreibt über ein Milieu, das sie genau kennt. Geboren 1971 ist sie nach dem Abitur von Stuttgart nach Berlin gezogen, dann zum Studium an das Literaturinstitut nach Leipzig und mit der Geburt ihres ersten Kindes wieder zurück nach Berlin. Sie hat geheiratet, zwei weitere Kinder bekommen und mit einer Genossenschaft ein Haus im Prenzlauer Berg gebaut. In „Bodentiefe Fenster“ betrachtete sie das Leben im Gemeinschaftshaus aus der Sicht einer, die dazugehört. Während Stelling dort mit subtilem Witz und einem schleichend einsetzenden Unwohlsein spielte, ermöglicht die Außenseiterperspektive in „Schäfchen im Trockenen“ mehr unmittelbare Wut angesichts der ungerechten Verhältnisse.
Niemand hat Stellings Protagonistin je darüber aufgeklärt, wie unmöglich es ist, ohne finanzielle Rückendeckung eine Familie zu haben und sich selbst zu verwirklichen. Die eigene Mutter hat ihren Kummer stets heruntergeschluckt. In dem Tagebuch, das Resi von ihr geerbt hat, steht nur ein Satz: „Wieder viel zu viel gegessen.“ Resi will es besser machen, ihrer ältesten Tochter Bea alles erzählen und dabei gnadenlos ehrlich ein. Denn es schmerzt, der Tochter nicht den ersehnten Fjällräven-Rucksack kaufen zu können und als einzige Familie im Umkreis wieder nur zu Hause zu bleiben in den Herbstferien. Wie ist Resi nur auf die wahnsinnige Idee gekommen, vier Kinder zu bekommen? Weiß man doch, dass die teuer sind. Dieses „weiß man doch“ muss Resi sich auch von ihrer Freundin Frederike anhören, als sie sich über die kostspieligen Klassen- und Kitafahrten beschwert. Sie hat es längst selbst verinnerlicht.
Anke Stelling nimmt das neoliberale Mantra, jeder sei seines Glückes Schmied, in ihrem Roman auseinander und hält der Mittelschicht in deutschen Großstädten mit ihren Hybridautos und samtbezogenen Kindersitzen den Spiegel vor. Sie betreibt dabei kein herkömmliches Prenzlauer-Berg-Schwaben-Bashing. Es geht vielmehr um die Erkenntnis, dass die soziale Klasse trotz idealistischer Vorstellungen der Jugend natürlich eine Rolle spielt, um die Scheinheiligkeit der Mittelschicht, die diese unterschiedlichen Voraussetzungen verschweigen will. Es geht auch um die unrealistischen Ansprüche, die vor allem Frauen an sich stellen, die perfekte Mutter, Ehefrau und Freundin zu sein, sich im Job zu verwirklichen und dabei nie müde, wütend oder hungrig zu werden. Am Ende geht es um die Selbstermächtigung einer Autorin, das Wort zu ergreifen, auch wenn niemand hören will, was sie zu sagen hat. „Schäfchen im Trockenen“ ist eine Lektüre, die wehtut, und gerade deshalb ein großer Gegenwartsroman.
Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen. Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. 272 Seiten, 22 Euro.