Kein Baustopp bei Nord Stream 2: Deutschland rechnet mit russischen Zahlen
Es wirkt abenteuerlich: Die Bundesregierung will von einem Aus für die Pipeline nichts mehr wissen - und hantiert dabei mit fragwürdigen Zahlen zum Gasbedarf.
Die Drohkulisse wird behutsam wieder abgebaut. Erst war es Finanzminister Olaf Scholz (SPD), der sich eindeutig zur Vollendung der Ostseepipeline Nord Stream 2 bekannt hat, dann warnte auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) davor, ständig das Milliarden-Projekt in Frage zu stellen.
Der vergiftete russische Regimekritiker Alexej Nawalny hat die Charité verlassen, und auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stellt das Projekt öffentlich nicht weiter in Frage. Stattdessen könnte man sich wegen des Falls Nawalny auf Einzelsanktionen gegen russische Funktionsträger verständigen.
Nord Stream 2 - hinter dem Projekt steht vor allem der russische Gazprom-Konzern - ist aber weiter durch die US-Sanktionsandrohungen gegen beteiligte Unternehmen und Klagen gefährdet, obwohl nur noch rund 150 Kilometer Pipeline zur Fertigstellung fehlen. Es sei problematisch, Projekte, "die auf mehrere Jahrzehnte angelegt sind, alle paar Monate in Frage zu stellen", sagte Altmaier jüngst dem "Handelsblatt".
Die Gegner des Projektes wie die Grünen drückten sich um die Aussage, "was ein Stopp für Nord Stream 2 für den Gasbezug aus Russland insgesamt bedeuten soll". Man müsse sich der Frage stellen, "wo das Gas denn künftig herkommen soll".
Gasbedarf 100 Milliarden Kubikmeter im Jahr?
Altmaier und sein Ministerium rücken damit die Frage in den Mittelpunkt, wie hoch der Gasbedarf Deutschlands und Europas in Zukunft sein wird – und verlässt sich bei der Abschätzung offenbar in erheblichen Teilen auf die Angaben der Nord Stream2 AG selbst. Dies ergibt sich aus der Antwort auf die Frage des grünen Bundestagsabgeordneten Oliver Krischer am 9. September im Bundestag. Krischer wollte wissen, ob der Gasbedarf für Deutschland und Europa auch ohne die zweite Nord-Stream- Pipeline zu decken sei.
Der Parlamentarische Wirtschafts-Staatssekretär Marco Wanderwitz (CDU) antwortete: "Der Planung der Nord Stream 2 AG für den Bau der Pipeline liegt ein Mehrbedarf an Erdgas in Europa von mindestens 100 Milliarden Kubikmeter (pro Jahr, Anm. d. R.) zugrunde. Für den Fall, dass die Pipeline nicht fertiggestellt wird, müssten zusätzliche Anbindungen an die bestehende LNG-Infrastruktur und ein weiterer Ausbau der LNG-Infrastruktur erfolgen sowie eine kostenintensive Modernisierung der bestehenden Transitrouten aus Russland."
Regierung übernimmt einfach Nord-Stream-2-Zahlen
Doch wie kommt die Bundesregierung auf die Zahl von 100 Milliarden Kubikmetern? Und bezieht sie sich dabei tatsächlich in der Hauptsache auf Nord-Stream- Zahlen? Krischer fragte noch einmal nach. Er wollte wissen, von wem nun die Abschätzung tatsächlich stamme. Dem Tagesspiegel liegt der Mailwechsel des Grünen mit dem Wirtschaftsministerium vor. Und daraus geht klar hervor, dass sich die Bundesregierung tatsächlich einfach ungeprüft die Gazprom-Tochter-Zahlen zu eigen macht.
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Wörtlich heißt es in dem Schreiben an Krischer: "Bei der Antwort, ‚der Planung der Nord Stream 2 AG für den Bau der Pipeline liegt einen Mehrbedarf an Erdgas in Europa von mindestens 100 Milliarden Kubikmeter zugrunde’ wurde von den nachfolgenden Szenarien der Nord Stream 2 AG in 2016 ausgegangen."
Anschließend wird vom Ministerium dargelegt, dass die Nord-Stream-Abschätzung ihrerseits auf fachlichen Prognosen beruht: "Nach Kenntnis der Bundesregierung wurde durch die Nord Stream 2 AG bei der Planung des Projektes die Frage der Entwicklung des Gasimportes nach Europa betrachtet und dabei Annahmen zur Entwicklung der Gasnachfrage, für die Eigenförderung, für den LNG-Markt und aus dem Marktstrategien der Anbieter unterstellt." Grundlage seien Szenarien zur Entwicklung des Gasmarktes der Internationalen Energieagentur, der EU und des EU-Netzentwicklungsplans 2015 Gas gewesen.
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Weiter heißt es in dem Schreiben des Bundeswirtschaftsministeriums, 2016 und 2017 seien zusätzlich von Nord Stream 2 Gutachten und Szenarien, unter anderem der EU, der Internationalen Energie-Agentur, des Instituts EWI sowie des Beratungshauses Prognos einbezogen worden. Auf dieser Basis sei die Importlücke von 120 Milliarden Kubikmeter durch die russische Gesellschaft abgeschätzt worden. Bemerkenswert bleibt, dass es bis heute keinerlei eigene Berechnungen oder Ergebnissynthesen der Bundesregierung gibt – bei einem umstrittenen, außenpolitisch wie energiepolitisch eminent wichtigen Thema.
An den Prognosen von Nord Stream 2 gibt es seit jeher Zweifel – zum Teil liegt dies in der Natur der Sache. Projektionen über Energieverbräuche haben immer einen spekulativen Charakter. Gleichzeitig steht der Absender unter dem Verdacht, Eigeninteressen zu verfolgen. Die Zweifel an der angeblichen Gaslücke sind eher gewachsen. So hat das Wirtschaftsinstitut DIW aufgrund Berechnungen eines durch Klimaschutzmaßnahmen schon bald sinkenden Gasbedarfs die Pipeline in einer Studie als überflüssig bezeichnet.
"Der Vorgang ist schon abenteuerlich", meint Krischer im Gespräch mit dem Tagesspiegel. "Man kann doch keine veralteten Daten der Nord Stream AG und damit direkt von Gazprom und Wladimir Putin zur Rechtfertigung von Pipelines verwenden." Zudem fehle die Gesamtbetrachtung. "In den Pipelines über Polen und die Ukraine gibt es noch ungenutzte Kapazitäten, die man für die Versorgung aktivieren kann." Doch die Bundesregierung will davon nichts wissen, der Baustopp ist erstmal vom Tisch.