Gas aus Russland: Welche Folgen ein Baustopp von Nord Stream 2 hätte
Bundeskanzlerin Angela Merkel erwägt einen Baustopp der deutsch-russischen Pipeline. Wäre das verkraftbar? Oder ginge Deutschland das Gas aus? Eine Analyse
Ein „abschließendes Urteil“ hat sich Angela Merkel noch nicht gebildet, soll sie am Montag in der Sitzung der Unionsfraktion laut Teilnehmern gesagt haben. Aber dass die Bundeskanzlerin einen Baustopp für das mit Abstand wichtigste und größte deutsch-russische Projekt Nord Stream 2 überhaupt erwägt, ist eine rasante Entwicklung. Auch Merkel ist schließlich davon überzeugt, dass Regierungskritiker Alexej Nawalny vergiftet worden ist und darauf eine Reaktion erfolgen muss.
Der Außenexperte und Bewerber um den Parteivorsitz der CDU, Norbert Röttgen, war vergangene Woche bereits einen Schritt weiter gegangen und hatte gesagt, man müsse nicht nur über die Nichtvollendung der Pipeline, sondern insgesamt über den Gasbezug aus Russland als mögliche Reaktion auf die Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin reden.
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans sprach sich im Gegensatz dazu jüngst im Tagesspiegel klar gegen einen Baustopp von Nord Stream 2 aus. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zweifelte generell die Wirksamkeit von Sanktionen an.
Der Russland-Koordinator der Bundesregierung, Johann Saathoff (SPD), hob hervor, Erdgas werde als Brückentechnologie gebraucht. Beim Verbrennen von Gas entsteht weniger CO2 als beim Verbrennen von Kohle. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt lehnte einen Stopp des Projekts ab.
Hängt Deutschland am Gas aus Russland?
Im Regierungslager wird die Frage also quer durch die Parteien diskutiert. Aber was wären eigentlich die Konsequenzen eines Baustopps? Wäre das verkraftbar, oder geht Deutschland und Europa dann bald das Gas aus? Mit rund 55 Milliarden Kubikmetern jährlicher Kapazität – so viel wie Nord Stream 1 – liefert die Pipeline durch die Ostsee auf direktem Weg von Russland bei voller Auslastung immerhin etwa halb so viel Gas, wie Deutschland verbraucht. Die Pipeline ist zu etwa 95 Prozent fertiggestellt.
Experten sind sich weitgehend einig, dass ein Baustopp trotzdem nicht bedeutet, dass das Gas auszugehen droht – aber auch Nachteile hätte. Der Leiter des Energie- und Klima-Programms des Zentrums für Europäische Politikstudien in Brüssel (CEPS), Christian Egenhofer, sagte, die Abschätzungen der Initiatoren von Nord Stream 2, die einen stark wachsenden Erdgasabsatz bedienen wollen, seien „sehr optimistisch“. „Das CEPS und viele andere Szenarien rechnen zwar mit einer steigenden Gasnachfrage, aber nur noch für einige Jahre.“
Ab 2030, womöglich auch etwas früher, werde der Erdgasverbrauch in der EU und auch in Deutschland aufgrund der Klimaschutzbemühungen wohl fallen. „Die Gas-Brücke ist also bei aller Vorsicht hinsichtlich Prognosen vermutlich eine sehr kurze Brücke."
Nord Stream 2 wäre eine zusätzliche Transportoption
Auch der Geschäftsführer des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), Hubertus Bardt, sieht den möglichen Verzicht auf Nord Stream 2 nicht als energiewirtschaftliche Katastrophe. „Prognosen über die Nachfrageentwicklung sind schwierig. Sogar erhöhte Importe aus Russland können mit den aktuellen Transportkapazitäten bedient werden. Nord Stream 2 wäre eine zusätzliche Transportoption.“
In der Vergangenheit sei zudem die Brückenfunktion von Erdgas eher überschätzt worden, ist auch Bardt überzeugt. Gerade der Strommarkt habe sich mit den erneuerbaren Energien schneller gewandelt, als dies viele für möglich gehalten hätten.
Ein Gutachten des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI) kam im April zu dem Ergebnis, „dass Nord Stream 2 das Gasangebot in Europa erhöht und somit die Preise für den europäischen Konsumenten reduziert“.
Je kürzer die Pipeline, desto niedriger die Kosten
Auch die beiden von Tagesspiegel Background Energie & Klima befragten Experten sehen durchaus Vorteile durch Nord Stream 2, „vor allem für Deutschland“, wie Egenhofer betonte. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der direkte Import aus Russland über eine vergleichsweise kurze Pipeline die günstigste Versorgungsvariante“, sagte er. Je kürzer die Pipeline desto niedriger die Kosten, so die Faustregel.
Die vergleichsweise kurze Pipeline mache also russisches Gas günstig. Zweitens sinke das Transitrisiko, da Drittländer wie die Ukraine aus dem Spiel seien. Und schließlich erführe Deutschland als Drehscheibe für die Weiterverteilung nach Europa eine ökonomische und energiepolitische Aufwertung. „Diese drei Punkte sind der Grund, warum Nord Stream 2 aus dieser Perspektive durchaus als genialer Schritt gelten kann.
Ob es außenpolitisch klug war, steht angesichts der Bewertung in Osteuropa freilich auf einem ganz anderen Blatt“, so Egenhofer. Seit Jahren wird Deutschland von Ländern wie Polen und der Ukraine massiv kritisiert.
Bardt vom IW betonte, je schneller Europa dekarbonisiere, desto relevanter werde der Zugriff auf hohe Erdgasimporte. „Wenn in einer Übergangszeit nicht genügend Speicher zur Verfügung stehen, spielt Gas eine wichtigere Rolle für eine stabile Stromerzeugung. Auch im Wärmemarkt gewinnt Erdgas an Bedeutung, wenn Ölheizungen ersetzt werden.“
Er lenkte den Blick zudem auf die energiepolitischen Aspekte des Projekts. Es sei fraglich, „ob wir uns einen Gefallen tun, die jahrzehntelang währende Energiepartnerschaft mit Russland offensiv in Frage zu stellen – ein endgültiges Ende für Nord Stream 2 würde dies zweifelsohne tun“.
Auch andere Importquellen seien nicht makellos - „nicht all unser Gas kann aus Norwegen und den Niederlanden kommen, Öl ohnehin nicht“. Die Partnerschaft mit Russland beruhe zudem auf gegenseitiger Abhängigkeit. „Europa benötigt die Rohstoffe, Russland die Zahlungsströme. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist grundsätzlich eher stabilisierend.“ mit dpa/rtr