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"Bitte nicht stören" - In Therapien können Flüchtlingen außerhalb der Unterkunft zur Ruhe zu kommen. Allerdings gibt es zu wenig Betreuungsangebote. Foto: Marcus Brandt dpa/lno
© picture-alliance/ dpa

Nach Anschlag in Ansbach: Der Traum von der Traumatherapie

Zehntausende Geflüchtete leben in Berlin, viele mit großen seelischen Nöten. Für Therapien gibt es lange Wartelisten und zu wenige Dolmetscher. Es fehlt an Geld - und Mut.

Hamid erstarrte, als das Licht anging. Der Schreck durchfuhr ihn, er drehte sich zu seinem Begleiter um und blickte ihn ängstlich an. „Hamid, was ist denn los?“, fragte der erschrocken. Und dann kam Hamid wieder zu sich, war wieder da, und sagte: „Immer wenn das Licht anging, haben sie mich zum Foltern geholt.“

Der Zwischenfall ist ein typisches Beispiel für einen sogenannten Flashback, die Erinnerung an ein Trauma, das immer wieder durchlebt wird. Zum Beispiel, wenn ein Windzug eine Tür zuschlägt und den Flüchtling an einen Gewehrschuss erinnert. Dann entsteht Todesangst im Alltag. „20 bis 30 Prozent der Flüchtlinge sind schwerst traumatisiert“, schätzt Christian Torenz, Leiter der Flüchtlingsunterkunft Osloer Straße. Es ist schon die dritte Unterkunft, in der er als Leiter arbeitet, und er erlebt die psychischen Probleme der Flüchtlinge täglich mit - erhöhte Reizbarkeit, Aggressivität, Schreie in der Nacht.

20 000 Flüchtlinge mit psychischen Belastungen

In seiner Unterkunft gibt es für solche Probleme ein Betreuungsteam aus Psychologiestudenten und Psychotherapeuten. Doch das ist die Ausnahme. „Wenn Leiter anderer Unterkünfte von der Betreuung bei uns hören, bekommen sie große Augen.“ Der Grund: In Berlin ist die psychotherapeutische Betreuung für Flüchtlinge mit Traumata und anderen psychischen Belastungen viel zu gering im Vergleich zum Bedarf.

Im vergangenen Jahr kamen knapp 80 000 Flüchtlinge nach Berlin, über 50 000 blieben in der Stadt. Nach Angaben der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer haben zirka 40 Prozent der Flüchtlinge aus Kriegsgebieten eine Traumafolgestörung. Damit kommt man für Berlin auf eine Zahl von 20 000 Flüchtlinge mit psychischen Belastungen, die Hilfebedarf haben. Hilfe gibt es aber viel zu wenig.

"Da werden Menschen verheizt"

Dietrich Koch ist Leiter von „Xenion“, einer Einrichtung für die psychotherapeutische Behandlung von Flüchtlingen in Berlin. Seine Einrichtung sei dem Andrang von Menschen, die Hilfe brauchen, nicht gewachsen, sagt er. 131 Flüchtlinge hat er momentan in Behandlung, 70 stehen auf der Warteliste. Wartezeit: ein Jahr. Seine Einrichtung könne momentan nur Härtefälle annehmen, also etwa Suizidgefährdete.

Zu Beginn der Flüchtlingskrise ging auch das nicht. Da bekamen sie 20 Anfragen pro Tag und mussten auch die besonders Betroffenen wegschicken. Auch das vergangene Jahr sei „durchweg schlimm“ gewesen. Momentan seien seine Mitarbeiter „am Verzweifeln“, viele sähen kaum noch Sinn in ihrer Arbeit, sie sitzen in Besprechungen und müssten selbst teils weinen. „Das Schlimmste ist, sagen zu müssen: Du brauchst Hilfe, aber ich kann dir nicht helfen.“

Koch erzählt Geschichten von Flüchtlingen, die zurück in Unterkünfte geschickt werden mussten, obwohl sie dort bedroht wurden. Von gläubigen Muslimen, die eigentlich keinen Alkohol trinken, dann aber drei Tage auf einen Krankenschein warteten, um ihn doch nicht zu bekommen, und am Ende stark betrunken zu Koch kamen. Er übt harte Kritik an zuständigen Senatsbehörden, die Notlagen von Geflüchteten nicht so begegnen, wie es sein müsste. „Da werden Menschen verheizt, aber wir können nichts ändern, weil die Verwaltung nicht funktioniert. Für uns ist es sinnlos, mit dem Lageso zu kooperieren, weil wir da nur unserem Geld hinterherlaufen.“

3200 Geflüchtete mit starkem Trauma

Xenion ist eine von zwei Haupteinrichtungen in Berlin zur Behandlung traumatisierter Flüchtlinge. Hinzu kommen einzelne ambulante Einrichtungen von Krankenhäusern oder Fachärzten. Aber das alles reicht nach Sicht von Experten nicht aus. Dabei gibt es seit Anfang des Jahres eine vom Lageso eingesetzte Clearingstelle der Charité, um zumindest psychische Erkrankungen zu diagnostizieren. Der Bedarf sei sehr hoch, sagt Malek Bajbouj, einer der Leiter der Stelle. Nicht alle Flüchtlinge mit psychischen Belastungen brauchen eine langfristige, intensive Therapie. Nur zwanzig Prozent von den Diagnostizierten hätten eine posttraumatische Belastungsstörung, vier Fünftel davon dringenden und langfristigen Behandlungsbedarf, sagt Bajbouj. Demnach bleiben 3200 Geflüchtete mit einem starken Trauma.

Den anderen Betroffenen kann etwa durch niedrigschwelligere Behandlungen oder Gespräch geholfen werden, sagt Monika Hebbinghaus, Sprecherin der Senatssozialverwaltung. Außerdem haben Studien ergeben, dass bei vielen Betroffenen Traumaerfahrungen mit der Zeit verblassen.

"Dolmeterscherkosten nicht ausreichend geregelt"

Andere aber brauchen Therapien. Hat ein schwer belasteter Flüchtling einen der wenigen Therapieplätze gefunden, stellt sich die Frage nach dem Dolmetscher. Die Kosten dafür werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Zwar bezuschusst die Senatsverwaltung, das reicht aber nicht. Xenion sei auf Spendengelder angewiesen.

„Therapeuten lassen sich von Eigeninitiativen abschrecken, weil die Übernahme von Dolmetscherkosten nicht ausreichend geregelt ist“, sagt Katharina Müller vom Flüchtlingsrat. Das Problem hat auch Annika Huhn erkannt. Sie hat mit sechs anderen angehenden Psychotherapeutinnen das Projekt „Prothege“ gegründet, in dem sie ab August Kurzzeittherapien für 16 Flüchtlinge anbieten. Sie finanzieren das Ganze über Crowdfunding.

"Müssen weiter dranbleiben"

Viele Betroffene nutzen zudem aus Scham oder wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht die Betreuungsangebote. Koch geht deswegen mit seinem Team von Xenion in die Unterkünfte und auf die Flüchtlinge zu. Die Probleme dort würden größer. Sein Eindruck: „Man merkt, es kocht etwas hoch.“

Die Bundespsychotherapeutenkammer schätzt, dass 2015 bundesweit gerade nur ein Prozent der Bedürftigen eine Behandlung erhielt. „Wir müssen weiter dranbleiben“, sagt Hebbinghaus. Inzwischen hat in Berlin die Hälfte der Unterkünfte mit mehr als 500 Personen sogenannte Med-Punkte, wo Betroffene sich von Ärzten beraten und untersuchen lassen können.

Gewaltexzesse sind Ausnahme

Trotz der angespannten Betreuungssituation müsse man aufpassen, die Dinge nicht zu dramatisieren, sagen Fachleute. Der Leiter der Clearingstelle Bajbouj betont, gerade vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse wie dem Terroranschlag eines schwer traumatisierten Flüchtlings in Ansbach, dass es zu Gewalt durch Traumatisierte erst komme, wenn eine bestimmte Vermengung von persönlichen Erfahrungen, Charaktereigenschaften und Perspektivlosigkeit zusammenkämen.

Schwere Depression hingegen sei gewalthemmend, weil der Antrieb fehle. Gewalterfahrung könne sowohl hemmend als auch fördernd auf die eigene Gewaltbereitschaft wirken, diese sei aber noch von vielen anderen Faktoren wie dem sozialen Umfeld und äußeren Einflüssen abhängig. Psychotherapeut Koch meint: „Extreme Gewaltexzesse sind absolute Ausnahmefälle.“

Von Janosch Siepen

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