Weltzeituhr am Alexanderplatz in Berlin: Der Ort, an dem die Zeit still steht
Die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz steht niemals still - und ist trotzdem Ort der Entschleunigung. Seit letzter Woche steht sie offiziell unter Schutz.
Da gibt es diese Filmszene am Anfang in „Matrix“. Eine Gruppe Polizisten stürmt in das Hotel, um Hackerin Trinity festzunehmen. Sie steht mir erhobenen Händen, den Rücken den Beamten zugewandt, an der Wand. Als ihr der Polizist mit dem Schlagstock eins überziehen will, geht alles ganz ganz schnell: Trinity dreht sich um, schlägt zu, springt hoch. Setzt zum Tritt an. Trinity bleibt in der Luft stehen, friert ein für einen Moment. 360 Grad dreht sich die Kamera um sie herum. „Bullet-Time“, so hat sich Warner Bros. diesen Effekt patentieren lassen.
Da gibt es diese Szene auf dem Alexanderplatz. Die Menschen rennen, hetzen, stürmen über den Platz. Einer nach dem anderen verschwindet in einem der Shoppingtempel, die über dem Alex wachen und die Passanten gierig verschlingen. Jagen wieder heraus, mit voll bepackten Einkaufstüten von Primark und Saturn. Schieben sich im Laufschritt eine Bratwurst in den Rachen, während sie flüchtig den Moment mit ihren Smartphone-Kameras und Selfiesticks festhalten. Bis die Menschen in den Sog kommen, wo sie langsamer werden. Stehenbleiben, einfrieren für einen Moment. Im Sog der Urania-Weltzeituhr. Ganz langsam, 360 Grad pro Minute, dreht sich das stählerne Planetensystem an der Spitze der Uhr auf dem Alex.
Es wirkt magisch. Als hätte jemand mit einer unsichtbaren Fernbedienung auf Zeitlupe geschaltet. Zwei Arten von Menschen fängt die Uhr ein. Die einen, die ruhig stehen bleiben und staunen: „Es ist unglaublich, wie jeder Mensch die gleiche Zeit hat und doch eine andere. Dieser Ort verbindet uns irgendwie alle“, sinniert Gerhard Bach, der aus Wien kommt und zum ersten Mal in Berlin ist. Er ist hergekommen zur Uhr, weil die Verwandten kürzlich erst nach Hanoi gezogen sind. Er wollte eben nachsehen, wie spät sie es da haben. Momo Moradi, 27, ist Produktdesigner und deswegen hier. Er bewundert das Werk des Designers Erich John, der die Uhr zum 20. Jahrestag der DDR, 1969, präsentierte. Ja, die gibt es, Gerhard Bach und Momo Moradi, die Neugierigen, die Stauner.
Die Menschen warten: Auf Freunde, Gras oder die große Liebe
Und dann ist da die weitaus größere Gruppe, die seit jeher vor der Uhr verweilt. Die, die warten. Warten auf Menschen, Dinge, warten auf das Leben und werfen dabei immer wieder einen Blick nach oben. Auf die Uhr.
Chinedu Donatus, 27, steht da. Der Hotelfachmann wippt unruhig auf seinen Zehenspitzen auf und ab. „Ich warte auf die Mutter meiner Ex“, er atmet tief durch. „Letzten Monat ist meine Beziehung kaputtgegangen, ich muss das irgendwie wieder kitten. Ich liebe dieses Mädchen, Lola, und will sie um alles in der Welt zurück.“ Ein paar Meter weiter kauert Bob, 20, aus Estland, an die Fassade eines Modehauses gelehnt. Sein hellblaues Hemd ist abgewetzt und der rechte Ärmel verdreckt. Er sieht müde aus und bekifft. Vor ihm steht ein kleiner Pappbecher, in dem amüsierte Touristen immer wieder ein paar Cents klingeln lassen. „For Weed“ hat er auf das Pappschild gekritzelt, dass an seinem Schienbein lehnt.
Da ist die Friseurin Mandy, die bis eben auf ihre Freundin Sabrina gewartet hat, sich aber immer noch nach dem perfekten Mann – am besten einen Billionär – sehnt. Der polnische Student Kamil, der mit seiner Klarinette den „Fluch der Karibik“-Titel-Song trällert und endlich „unendlich happy“ sein will. Die Abiturientin Paulina, die darauf wartet auszuziehen. Am besten nach Irland oder Schottland, weil es da nicht so heiß ist. Und Alireza, der iranische Software-Entwickler, der seinen Kumpel Momo in Berlin besucht, will endlich eine Rückmeldung für seine Stellenbewerbung in Kanada haben. Alle weilen sie da, angehalten von der unsichtbaren Fernbedienung. Während sich das Planetensystem auf der Uhr langsam weiterdreht. Dieser bewegte Ruhepol.
Endlich unter Denkmalschutz
Vergangene Woche wurde die Uhr in die Liste der „schützenswerten Gebäude“ des Landes aufgenommen. Weil sie ein Zeugnis von „geschichtlich überragender Bedeutung ist“, wie Senatsbaudirektorin Regula Lüscher begründet. Weil sie die Geschichten so vieler Menschen miteinander verbindet. Vielleicht auch, weil sie es geschafft hat, die ruhelos ratternden Räder der Menschen, die über den Alex hetzen, für einen Moment anzuhalten, die schon Tucholsky 1920 im Gedicht „Total Manoli“ so beschrieb: „Die meisten Menschen haben heute ein kleines Rad, such dir mal wen in ganz Berlin, der das nicht hat.“ Und vielleicht auch deswegen, weil die Urania-Weltzeituhr Bullet-Time-Effekte hervorrief, als Warner Bros. sich noch für den Kinohit „Bonnie und Clyde“ feiern ließ.