Autofreie Stadt: Der Mythos vom Segen der Fußgängerzone
Autos raus, Fahrräder rein: Mit diesem Konzept sollen Berlins Shoppingquartiere attraktiver werden. Das hofft der Senat. Und irrt sich. Ein Essay
Sonntags geht auf der Ginza gar nichts mehr. Zumindest für die Autos. Dann wird die quirlige Haupteinkaufsstraße in Tokios Innenstadt zeitweise zur Fußgängerzone. Passanten und Touristen aus aller Welt schieben sich über Bürgersteig und Fahrbahn. Es wird geguckt und kräftig eingekauft, während es von den Fassaden bunter funkelt als am New Yorker Times Square. Zwischen den Flagshipstores der globalen Marken locken auch einige lokale Einkaufspreziosen die Kunden an wie die zauberhafte Papierhandlung Kyukyodo. Überall ist es ziemlich voll, es ist sehr laut. Aber: Es ist auch ziemlich entspannt. Japan eben.
Dauerhaft zur Fußgängerzone soll künftig die Londoner Oxford Street werden, auf der derzeit noch die roten Busse im Schneckentempo vorankriechen, während auf den Gehwegen ein Gedränge herrscht, das Taschendieben gefallen dürfte. Und wer sich an einem sonnigen Sommersamstag über Münchens Kaufingerstraße schiebt, der braucht in den Menschenmassen ein immenses Maß an Resistenz gegen Platzangst. Autos haben hier schon lange keinen Ort mehr, ebenso wenig wie Fahrräder.
Ist das also der endgültige Sieg der Fußgängerzonen, dieser verkehrsberuhigten Schwester der annähernd zeitgleich nach 1945 entstandenen Idee einer autogerechten Stadt? Na, dann sperrt doch einfach die Berliner Friedrichstraße für den Automobilverkehr, lenkt die Radfahrer um und alles wird gut für die Passanten aus aller Welt und für den Einzelhandel.
Straße ohne Eigenschaften
Ach, wenn es doch nur so simpel wäre. Tatsächlich kann man schon heute zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Unter den Linden an einer roten Fußgängerampel versauern, ohne dass während der Ampelphase überhaupt ein Auto vorbeikommt. Hinter der Straße Unter den Linden wird es in Richtung Leipziger Straße endgültig ziemlich mau. Dort klingt der Mythos der Friedrichstraße weitaus glanzvoller, als die Wirklichkeit aussieht, Luxusboutiquen hin, Lafayette her. Die Friedrichstraße ist im Gegensatz zu Ginza, Oxford Street oder Kaufingerstraße keine der weltweit angesagten Einkaufsmeilen einer wirtschaftsstarken Metropole, die die Kaufkraft magnetisch anziehen.
Viel eher wirkt sie wie eine Straße ohne Eigenschaften. Warum sollte ich jetzt noch einmal zu einem der Filialisten in die Friedrichstraße fahren? Schulterzucken. Darin gleicht sie etlichen zentralen Einkaufsmeilen in Deutschland, die angesichts des boomenden Internethandels immer mühsamer um die Gunst ihrer Kunden ringen oder gar bereits ums nackte Überleben kämpfen. Das deutsche Einkaufsstraßensterben ist in vollem Gange. Einfach die Autos aus der Friedrichstraße zu verbannen wäre daher zwar eine Maßnahme, aber eben keine Lösung, die Perspektiven eröffnet.
Fußgängerzonen in der Krise
Wer Attraktivität schaffen will, der muss qualitätsvolle Angebote generieren. Das gilt für den Einzelhandel genauso wie für den umgebenden urbanen Raum. Das Beharren auf der sonntäglichen Verkaufsruhe erscheint zudem zwar sehr deutsch, ist aber angesichts der 24 Stunden Öffnungszeit des Internets leider komplett unzeitgemäß.
Lediglich die Ladenöffnungszeiten auszuweiten führt jedoch ebenfalls nicht zwangsläufig zu Leben in der Stadt und zu Umsätzen in den Kassen. Alles, was nicht über eine wirkliche A-Lage in einer kaufkräftigen Innenstadt verfügt, wird es in den kommenden Jahren sehr schwer haben. Die drohenden Gewitterwolken der aufziehenden Rezession werden zusätzlich dazu beitragen, die Probleme zu verschärfen. Nach dem Tod vieler Kaufhäuser beschleunigt sich die Krise von Shopping-Malls und Fußgängerzonen.
Aber vielleicht hilft ja der entspannte Blick in die angesagte Bergmannstraße? Tatsächlich sind an warmen Sommertagen die Tische auf den Gehwegen vor den Restaurants dort gut besucht. Generationsübergreifend wird mit digitalem Navigator über das Trottoir flaniert, englische Sprachbrocken schwirren durch die Szenerie. Globalisiertes Großstadtflair im Zeitalter des „Homo touristicus“. Dabei erweist sich die Straße selbst als gestalterischer Flickenteppich aus Lenkungsmaßnahmen, die parkende und fahrende Autos fernhalten sollen.
Eine ungute Berliner Tradition
Stattdessen zieren die mittlerweile legendären verschmuddelten gelbgrünen Punkte die Fahrbahn, während hässliche weiß-rote Poller die Kreuzungsränder ebenso zumüllen wie die narbenartigen Metallschienen, die die Bordsteine überwuchern und zu den ästhetisch fragwürdigen gelben Parklets führen. Dazu kamen vor einigen Wochen noch die Felsbrocken vor der Marheineke-Markthalle. Immerhin haben solche Findlinge ja eine gewisse Tradition in der eiszeitlichen Endmoränenlandschaft Berlins. Spaß beiseite, zum Glück wurden die Steine mittlerweile wieder abgeräumt.
Friedrich- und Bergmannstraße sind Symptome einer unguten Berliner Tradition. Sie stehen für einen Aktionismus ohne Gestaltungsfähigkeit bei gleichzeitigem Ausfall eines funktionierenden gesamtstädtischen Planungskonzepts. Es fehlt ein Konzept, das Verkehr und Wohnen, Handel und Arbeit ganzheitlich denkt, anstatt lediglich punktuelle Eingriffe vorzunehmen. Der rasende Stillstand der Berliner Stadtplanung wird seit Jahren durch eine politische „Not in my backyard“-Mentalität gefördert. Die ist allerdings in Dahlem ebenso fehl am Platz wie in Kreuzberg oder jedem anderen Ort auf der Welt.
Die Stadt neu denken
Viel wichtiger wäre stattdessen ein grundsätzliches Neudenken des Erfolgsmodells Stadt. Doch das wird in Berlin geradezu fahrlässig behindert. Seit ihren Anfängen vor knapp 5000 Jahren balancierte die Idee der Stadt nämlich auf dem schmalen Seil zwischen Dauerhaftigkeit und Transformation. Ein schwieriges Kunststück. Zumal in Umbruchzeiten, in denen sich die Funktionen von Stadt tiefgreifend verändern, während das Internet dem innerstädtischen Einzelhandel das Kundenwasser abgräbt. Daher sind unkonventionelle Strategien gefragt. Ohne kluge Anreize keine Kunden. So simpel ist die Logik.
Ein städtisches Gesamtkonzept ist daher unverzichtbar, um einen Rahmen zu definieren, bei dem sich gestalterische Eingriffe und wirtschaftliche Maßnahmen ergänzen, um Aufenthaltsqualität sowohl für die Anwohner, die im Quartier arbeitenden Angestellten als auch für Kunden zu schaffen. Lokale Eingriffe müssen sich in dieses übergeordnete Verkehrs- und Wirtschaftskonzept einpassen. Das macht die Friedrichstraße dann zwar noch nicht zur Ginza. Es verhindert aber, dass willkürliche Einzelaktionen zu Frustration und Schwächung von Stadt und Standort insgesamt führen.
Jürgen Tietz
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