Geschichte der Berliner Sterneküche: Der lange Weg des Eisbeins
Aus dem Einheitsbrei hinauf zu den Sternen: Die Spitzengastronomie hat im Nachwende-Berlin einige Anläufe gebraucht. Heute gibt es Vielfalt auf höchstem Niveau. Eine kulinarische Zeitreise.
Ende 1989 hatten die Berliner andere Sorgen als die Qualität ihrer Restaurants. Deshalb fanden die jährlich im Spätherbst erscheinenden Gourmet-Führer diesmal besonders wenig Resonanz. Würde nicht sowieso sofort alles ganz anders werden, das Essen und die Moral und der Rest der Geschichte? In den Guides blieb zunächst alles beim Alten, weitgehend unverändert.
Viele altgediente Berliner Feinschmecker werden sich noch erinnern an die damals tonangebende Viererbande der besternten Spitze: Siegfried Rockendorf, Franz Raneburger, Karl Wannemacher, Peter Frühsammer. Alle hatten ihre Karriere um 1980 herum begonnen, beeindruckt von der Aufbruchstimmung der französischen Nouvelle Cuisine, begeistert von den Produkten, die ihnen eine immer bessere Logistik („Rungis Express“) aus aller Welt ins Haus brachte, angespornt von der blühenden Gourmet-Publizistik. Als die Mauer fiel, ahnten die vier Spitzenköche vermutlich, dass ihnen das das Geschäftsmodell durcheinanderbringen würde – aber wohl kaum, wie sehr.
1989 war Berlin alles andere als ein Gourmet-Ziel. Das hatte natürlich vor allem historische Gründe: Die Küche des deutschen Nordostens war immer arm und bodenständig, bereichert nur durch den hugenottischen Einfluss, der in der Kaiserzeit als Pariser Luxus zurückkehrte. Im 1907 eröffneten Adlon gab es nicht nur Privatbäder und fließend warmes Wasser, sondern auch einen Pariser Küchenchef, Jules Bodart, der legendäre Gelage im französischen Stil inszenierte.
Nach dem Ersten Weltkrieg lebte diese Szenerie noch einmal auf, es mangelte der Berliner Oberschicht weder an Austern noch an Champagner – aber angesichts der traditionellen Übermacht Frankreichs war die Entwicklung einer eigenständigen kulinarischen Identität in der Edelküche kein Thema. Weiter unten kümmerten sich die Ärmeren ohnehin nicht um Feinheiten der Kulinarik. Für sie hatten August und Karl Aschinger schon 1892 die erste ihrer berühmten Stehbierhallen eröffnet, in denen Erbsensuppe und Bratkartoffeln nach alter Berliner Art aufgetischt wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann in den Ruinen alles wieder von vorn. Das Restaurant „Aben“, berühmt für französische Küche, wurde fast genau am historischen Ort wieder eröffnet und war dabei, als 1966 die ersten Michelin-Sterne vergeben wurden, ebenso das „Maitre“, das von Henry Levy betrieben wurde. Bei dem in Berlin gestrandeten Franzosen traf sich in den späten 70er Jahren jene Handvoll Genießer, die Spaß an der französischen Nouvelle Cuisine hatten. Levy war ein stilbildender Inspirator, der sich aber sogar die Sahne aus Paris einfliegen ließ, weil es hier mit den Produkten haperte; Ende 1975 brachte er es zum zweiten Stern und schloss damit zur deutschen Elite auf.
Die Stadt war aber nicht interessiert – und als Levy 1982 das Restaurant in der Meinekestraße schloss, hinterließ er ein bitteres Resümee: Wenn es nur die Berliner Gäste gäbe, dann wäre in der Stadt nicht einmal Platz für ein einziges Gourmet-Restaurant. Nun ließe sich dieser Satz sicher auf die meisten großen Städte der Welt übertragen, in denen es fast immer die Touristen sind, die die Gastronomie blühen lassen. Aber Berlin war in seiner notorischen Muffligkeit in Fragen guten Essens etwas Besonderes, die Bier- und Buletten-Metropole eben.
Im Ost-Berlin der Vorwendezeit sah das alles natürlich noch grauer aus. Zwar buchstabierte man, wenn es um kulinarisches Weltniveau ging, das Essen auch hier allemal französisch, noch heute nostalgisch nachschwingend im „Steak au four“ und im „Würzfleisch“, das ja ein Ragout fin mit DDR-Zutaten war. Doch der ewige Kampf mit der HO-Bürokratie und dem Mangel an brauchbaren Grundprodukten ließ viele Köche resignieren, und so versuchten in den späten 80ern nur ein paar Unentwegte, ihren Traum vom guten Essen wahr zu machen.
Die Bekannteste von allen: Doris Burneleit, deren „Fioretto“ in der Oberspreestraße das vermutlich weltweit einzige italienische Restaurant ohne italienische Produkte war und nicht nur das Personal der italienischen DDR-Botschaft beglückte, sondern sogar neugierige Genießer aus dem Westteil der Stadt anzog.
Noch berühmter war das Traditionsrestaurant „Ganymed“ am Schiffbauerdamm, die notorische Futterstelle der Salonbolschewisten vom nebenan gelegenen Berliner Ensemble. Viele nannten es die „Aubergine der DDR“ – wohl zutreffend, was die Spitzenposition anging, qualitativ aber kaum vergleichbar. Es existiert als französische Brasserie bis heute. Auch die aus DDR-Zeiten bekannte „Spindel“ in Friedrichshagen wurde noch bis 2015 unter neuer Regie fortgeführt.
Vergessen ist hingegen das „Aphrodite“ in der Schönhauser Allee, wo ein talentierter Koch um die Wendezeit herum versuchte, den kulinarischen Zeitgeist aufzunehmen, bis dann doch erst einmal die Pizzerien und China-Restaurants den Ostteil der Stadt aufrollten. Beachtlicher waren schon die mit viel Devisengeld gepolsterten Versuche der DDR-Oberen, Ost-Berlin mit neuen Weltniveau-Hotels auszustatten, wie man es im Palast-Hotel und erst recht im Grand-Hotel bestaunen konnte. Das Grand-Hotel hatte gleich fünf Restaurants zu ebener Erde, leistete sich zudem den Luxus eines Dachrestaurants namens „Silhouette“ mit teuer nachempfundenem Art-Deco-Schwulst und gründete in den Wendewirren sogar noch einen absurden Ableger: Das Restaurant „Peking“ im ersten Stock des Hauses Friedrich-/Ecke Leipziger Straße bot chinesische Luxusküche zu Preisen, die selbst begüterte West-Berliner ins Schwitzen brachten, mit Abalone und Hummer bis zu 240 Ostmark.
Unordnung nach der Wende
Damit war erst einmal Schluss, als nach 1990 die Hotelkonzerne mit ihren Controllern das Geschäft übernahmen. Ins Grand-Hotel stieg Maritim ein, beim Dom-Hotel am Gendarmenmarkt griff Hilton zu, das Palast-Hotel fiel an Radisson. Im Westen war schon 1988 das „Grand Hotel Esplanade“ fertig geworden, dessen Küchenehrgeiz zum Leitmotiv der kommenden Jahre wurde: Die neuen Luxushotels ergriffen nach kurzem Zögern doch die Chance, sich mit Top-Küche von der Konkurrenz abzusetzen, koste es, was es wolle.
Karl Stiehle, Direktor des Palace-Hotels und barocker Lebemann, hatte sich kurz nach der Wende das Wein- und Schnapslager der Intershops und Interhotels geschnappt und baute darauf die noch heute legendäre Weinkarte des Restaurants „First Floor“ auf. Im frisch eröffneten „Brandenburger Hof“ in Schöneberg wechselten die Küchenchefs im Jahrestakt. Beständiger lief die Entwicklung im „Intercontinental“, wo das aus alter West-Berliner Zeit übrig gebliebene Restaurant „Zum Hugenotten“ nach allerhand Umbauten mit kulinarischem Ehrgeiz auffiel, der allerdings erst viel später mit dem Umzug unters Dach ins „Hugos“ auch von Gästen und Guides honoriert wurde.
Die erfolgreichen Macher vom „Logenhaus“ versuchten, das ganz große Rad zu drehen und gründeten ein Restaurant mit der Versprechung, jedem Gast die Reservierungsbestätigung noch am selben Tag schriftlich nach Hause zu bringen; das Internet war nun mal noch nicht so weit. Und im „Grand Slam“ in Grunewald schlug zu Beginn der 90er Jahre ein kommender Großer auf: Johannes King, den es später nach Sylt in den „Söl’ring Hof“ verschlug.
Platzhirsch zwischen Kartoffeläckern
Parallel versuchten die kochenden Platzhirsche, ihre Stellung zu behaupten. Vier Michelin-Sterne: Das war so der übliche Stand in West-Berlin über die Jahre – vier waren es schon bei der ersten Vergabe 1966 gewesen, und daran änderte sich nicht allzu viel. Zwei von ihnen gehörten seit 1988 Siegfried Rockendorf. Als in der Wendezeit der Küchenchef als Kreativkünstler entdeckt wurde, übernahm Rockendorf die Spitzenposition, mit Gerichten, die aus heutiger Sicht in ihrer Simplizität konservativ wirken, damals aber unübertrefflich schienen. Rehrücken mit Essigkirschen und Balsamico-Sauce, Hummer mit Spargel und Kamillenwürze, Steinbutt auf Beaujolais-Mangold. Doch in dieser Zeit war schon die ausschließliche Nutzung frischer Produkte bester Qualität ein Statement.
Rockendorf war aber auch der erste Berliner Koch, der das in Süddeutschland aufkommende Interesse an regionalen kulinarischen Traditionen aufnahm und beispielsweise bereits Anfang der 80er für die Zeitschrift „Essen & Trinken“ ein modernes Eisbein entwickelte, total entfettet, mit dem Sauerkraut als Füllung im Fleisch, einer elegant sahnigen Senfsauce und einem Püree aus frischen Erbsen statt des althergebrachten Trockenerbsenpürees. Dass daraus zunächst nichts folgte, lag daran, dass globale Trends wie die in Amerika erfundene Fusionsküche und Länderküchen wie Thai oder Mexikanisch einfach stärker waren.
Bester Kunde bis zum Abzug: der französische Stadtkommandant
Nach der Wende suchte Rockendorf sein wirtschaftliches Heil überhastet in der Diversifizierung. Er gründete Ableger in Grunewald, bei Leysieffer am Kurfürstendamm und in einer besonders gottverlassenen Ecke zwischen den Kartoffelfeldern von Waidmannslust. Doch während alle auf den großen Boom hofften, trat in der ersten Hälfte der 90er Jahre das Gegenteil ein – der Hauptstadtbeschluss von 1991 blieb zunächst ohne konkrete Folgen, und viele Stammkunden der Luxusgastronomie verließen die Stadt. Rockendorf bekam das ganz konkret zu spüren, als die Franzosen in der Nachbarschaft, gute Stammgäste um den Stadtkommandanten herum, ihren Kram einpackten. Der Meister hoffte dennoch auf den dritten Stern, ließ es krachen mit Trüffeln und Champagner. Und verlor – ohne Begründung – 1994 sogar den zweiten.
Alle wurstelten, kaum einer reüssierte. Wie wenig Wertschätzung die feine Küche Mitte der 90er in Berlin genoss, zeigt ein Detail: Als das Adlon 1997 mit maximalem Pomp eröffnet wurde, war ein Gourmet-Restaurant überhaupt nicht eingeplant worden. Das wurde dann erst drei Jahre später mühsam im ersten Stock implantiert, zu Lasten der Küchenfläche.
Etwas weitsichtiger zeigte sich der Immobilieninvestor Walter Mengeu, der als spendabler Gast bei den Spitzenköchen beliebt war und ihnen nun Konkurrenz zu machen versuchte. Mitten in der Flaute, 1997, gründete er das „Vau“ in der Jägerstraße, kulinarisch beaufsichtigt vom Hamburger Top-Koch Josef Viehhauser. Der machte einen talentierten Aufsteiger ausfindig, Kolja Kleeberg, der im Restaurant „Am Karlsbad“ munter österreichisch-mediterran kochte und nun reif für Größeres schien.
Nach nur einem halben Jahr leuchtete der Stern auf und begründete so etwas wie eine neue Ära: Die Küche der Nachwendezeit öffnete sich vorsichtig auch nach Österreich und Italien, man füllte gern gehobene Ravioli, und Kolja Kleeberg erregte Aufsehen mit einem schlicht geschmorten Schulterscherzl, Rindfleisch nach modernisierter Wiener Tradition.
Dann war es der Millenniums-Rummel, der die Branche aufweckte und nicht nur den Umbau des Adlon zwecks Gründung des „Lorenz Adlon“, heute „Lorenz Adlon Esszimmer“, antrieb, sondern auch Erfolgsgastronomen aus anderen Ecken des Landes anzog. Einer von ihnen war der Münchener Bauunternehmer Fritz Eichbauer, der 1971 das „Tantris“ gegründet und dort einem talentierten Nachwuchskoch namens Eckart Witzigmann eine Bühne geboten hatte.
In Berlin ging er die Sache etwas bescheidener an und eröffnete in der Kronenstraße das Gourmet-Bistro „Portalis“. Den größten Wurf wagte die Adelsfamilie Hardenberg aus Celle, die in die Trümmer eines gescheiterten Projekts einstieg und an der Ecke Wilhelmstraße/Unter den Linden das luxuriöse „Margaux“ aufmachte. Hinterleuchteter Onyx im Stil der Zeit, teure Kunst, feinste Tischausstattung, dazu Michael Hofmann, ein Witzigmann-Schüler, in der Küche – was sollte da schiefgehen?
Viele andere Köche und Wirte versuchten ebenfalls, vom Sog der Jahrtausendwende zu profitieren. Die Gründerwelle spülte Markus Semmler nach oben, der sich in Cecilienhof in Potsdam erste Lorbeeren erworben hatte und nun auf dem Weg über das Schlosshotel Vierjahreszeiten in die Stadtmitte vordrang. 1999 eröffnet er die „Mensa“ am Lützowplatz, ein Jahr später das „Stil“ im Stilwerk mit Ralf Zacherl in der Küche. In der Oranienburger Straße schien plötzlich das „Adermann“ auf, und der Name Tim Raue wurde immer öfter auch außerhalb der Stadt genannt.
Auch kulinarisch wurde es unübersichtlicher: Aus Spanien drang die Kunde der umwälzenden Küchenrevolution von Ferran Adrià, die später irreführend als „Molekularküche“ bekannt wurde. Für sie gab es aber in Berlin weder Fans noch geeignete Küchenchefs, und nur einzelne Elemente daraus schafften es auf die Teller. Aber auch ohne sie wurden die Gerichte von Jahr zu Jahr immer komplizierter, denn das wirtschaftliche Überleben eines Restaurants hing zunehmend davon ab, dass der Küchenchef eine eigene, klar erkennbare Handschrift entwickelte, die er im Zweifel in bunt überladenen Tellern suchte.
Die WM brachte die Wende
Die Handschrift, nicht die Kompliziertheit, wurde dann auch zum Erfolgsrezept von Tim Raue, der lange in verschiedenen Berliner Restaurants unterwegs war und jeden Stil kochen konnte, der aber als gebürtiger Berliner auch immer die regionale Tradition im Blick hatte – zum Beispiel bei seinem berühmten Senfei mit roten Beten und Kaviar.
Doch sein internationaler Durchbruch kam erst, als er sich vor gut zehn Jahren ganz darauf konzentrierte, die großen asiatischen Küchen zu durchdringen und auf einen persönlichen Nenner zu bringen, mit Süße, Schärfe, dichter Würze befeuert wie bei seinem Klassiker, der Peking-Ente in drei Gängen. Als er noch nicht auf eigene Rechnung kochte, ging auch mal eine aus Japan eingeflogene Melone für 200 Euro durch die Küche, aber solche Exaltationen sind inzwischen doch der wirtschaftlichen Vernunft gewichen. Längst kann Raue seine typische Aromatik ebenso erfolgreich auf deutsche Küchentraditionen übertragen wie auf französische.
Angesichts solcher neuer Mitbewerber war es kein Wunder, dass den altgedienten Meistern langsam die Luft ausging. Kein Mensch musste mehr für gutes Essen an den Stadtrand fahren. Raneburger und Frühsammer resignierten, auch Rockendorf hatte sein kleines Imperium nach und nach aufgeben müssen. 2000 versuchte er ein Comeback in der Passauer Straße gleich hinter dem KaDeWe und verblüffte die Presse bei der Eröffnung mit einem ehrgeizigen Ziel: drei Michelin-Sterne. Dass es bei einem blieb, den er mitgenommen hatte, war nicht seine Schuld: Ende 2000 starb er im heimatlichen Bad Sachsa, nur 50 Jahre alt.
Doch auch die jüngere Generation tat sich wirtschaftlich weiterhin schwer: Die östliche Innenstadt blieb abends meist menschenleer, sieht man vom ewig überfüllten „Borchardt“ einmal ab, die hoffnungsprallen Prognosen erwiesen sich als weit überzogen. Markus Semmler scheiterte krachend, ebenso Josef Viehhauser, der mit einem eigenen Projekt im Haus der Bundespressekonferenz in die Pleite fuhr. Das Margaux-Abenteuer zog den Hardenberg’schen Celler „Fürstenhof“, mit dem es wirtschaftlich verbunden war, in die Tiefe, mit der Folge, dass Michael Hoffmann dort fortan auf eigene Rechnung weiterkämpfte; das „Adermann“ verschwand trotz Stern. Als besonders symbolhaft galt der Rückzug der für luxuriöse Prachtentfaltung bekannten Four-Seasons-Gruppe, die das Schlosshotel Grunewald aufgab und an den Gendarmenmarkt zog – bis sie 2004 auch dort abtrat und dem unbekannten „Regent“ Platz machte. Die Stadt hatte damit die Bestätigung, dass sie für die Weltliga noch nicht reif war.
Die Wende kam, natürlich, mit der Fußball-WM 2006 und dem Touristenboom, den sie in Gang setzte. Passend dazu schenkte der Michelin der Stadt Ende 2007 endlich wieder ein Zwei-Sterne-Restaurant, nämlich das „Fischers Fritz“ im Hotel Regent – und fortan ging es, rein zahlenmäßig gesehen, immer weiter bergauf. Allerdings nicht für alle: Von den elf Restaurants, die Ende 2007 einen Stern trugen, sind sechs wieder verschwunden, und nur zwei davon, „First Floor“ und „Vau“, haben immerhin bis 2016 durchgehalten. Doch die Basis war da: In Grunewald tauchte Peter Frühsammer wieder auf, überließ das Kochen aber seiner neuen Frau Sonja, Tim Raue zog ins bombastische „Ma“, nebenan bekochte sein Schützling Björn Panek das „Gabriele“ (und verschwand ein Jahr später nach Hongkong).
Entscheidend war aber, dass einige Banken wieder den Mut schöpften, ins Risiko zu gehen und neue Restaurants ohne Hotelbetten im Hintergrund zu finanzieren. So bekamen Köche wie Stefan Hartmann und Daniel Achilles („Reinstoff“) ihre Chance, später konnte Sebastian Frank das „Horvath“ kaufen und dort zum zweiten Stern aufstreben. Und selbst Boris Radsczun und Stefan Landwehr, die mit ihrem höchst erfolgreichen „Grill Royal“ das „Borchardt“ als Muss-Treffpunkt der Wichtigen und Bedeutenden abgelöst haben, betreiben nun – eher per Zufall – ein Sterne-Restaurant mit Zug nach oben, den „Pauly Saal“.
Brutal lokal trifft global-asiatisch
Seitdem gilt: Mut zahlt sich aus. 2015 eröffnete der eigenwillige Billy Wagner das von Anfang an ständig ausgebuchte „Nobelhart & Schmutzig“ – mit einer für Berlin noch neuen Küche: „Brutal lokal“, wie er selbst es nennt. Die Idee beruht auf Vorarbeiten der Franzosen Michel Bras und Marc Veyrat, aber erst durch das skandinavische Küchenmanifest von 2004 wurde sie Programm. Man wollte fortan nur noch zubereiten, was rund ums Restaurant wuchs und lebte. Rene Redzepi vom „Noma“ wurde auf dieser Grundlage zum Weltstar, Kopenhagen zum Gourmet-Ziel Nummer eins.
Damit war nun erst mal in der Kulinar-Historie die Blaupause geschaffen für eine Stilistik, die zwar formal überall gleich ist, aber an jedem Ort der Welt unterschiedliche Resultate bringt, weil die Grundprodukte überall anders sind. Wagner und sein Küchenchef Micha Schäfer verwenden nur noch Zutaten von persönlich bekannten Erzeugern aus Brandenburg und Mecklenburg und haben selbst Olivenöl und Zitrone aus der Küche verbannt. Andreas Rieger vom „Einsunternull“ schlägt einen ähnlichen Weg ein, Sebastian Frank vom zweibesternten „Horvath“ pflegt den Stil ebenfalls, allerdings mit österreichischen und osteuropäischen Bezügen. Und auch viele der informellen Neo-Bistros, die längst ihre Position im Berliner Küchenwunder gefunden haben, spielen mit regionalen Elementen, verlagern ihre Küche auch immer mehr in Richtung Gemüse, ohne gleich vegetarisch zu kochen.
Tim Raues global-asiatischer Stil und die brutale Lokalität des „Nobelhart & Schmutzig“ – das sind die beiden Pole der Berliner Avantgarde. Dazwischen gibt es so etwas wie den Mainstream, der den etablierten und gereiften Genießer bei seinen Gewohnheiten abholt und behutsam mit der Berliner Ungeduld versöhnen will. Hendrik Otto vom „Lorenz Adlon Esszimmer“, der seit geraumer Zeit für den dritten Stern im Gespräch ist, verbindet also vertraute klassische oder mediterrane Grundelemente zu einem hochkomplexen, technisch anspruchsvollen Stil in Gängen wie „Tatar vom Rind / Kaviar, Sauerrahm, gepuffte Kartoffel, Klee, Liebstöckel, Schnittlauch“, rührt aber auch augenzwinkernd als Käsegang einen „Obatzten“ mit Weißbiergelee und Kümmel an. Michael Kempf vom „Facil“ setzt rustikale Elemente noch etwas markanter ein, wenn er neben die Entenleberterrine mit Mais und Whisky eine Kartoffelsuppe mit Blutwurst setzt und den Rücken vom Wollschwein mit Süßholz aromatisiert.
Vermutlich würde ein Drei-Sterne-Restaurant den Ruf der Berliner Gastronomie international weiter festigen. Aber gerade die Touristen kommen immer mehr auch wegen der unkonventionellen, erschwinglichen Küche in den zahlreichen neuen Gourmet-Bistros und wegen Avantgardisten wie Wagner oder Rieger. Generell heißt es, die Zeit der teuren Tempel sei vorbei. Doch abgesehen davon lässt sich sagen: Es gibt hier mittlerweile alles – und fast alles in bemerkenswert hoher Qualität. Wenn der Guide Michelin am 1. Dezember in Berlin seine neue Ausgabe vorstellt, wird er die Lücke, die die in diesem Jahr erloschenen Sterne von „First Floor“ und „Vau“ hinterlassen haben, sehr wahrscheinlich wieder auffüllen. Womit – das ist allemal Anlass für Spekulationen. Die Spannung ist hoch wie nie.
Der Text erschien zunächst gedruckt am 27. November 2016 in der Tagesspiegel-Beilage Mehr Berlin. Wie viele neue Sterne Berlin in diesem Jahr tatsächlich bekommen hat, lesen Sie hier.