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Prinzenbad
© Kitty Kleist-Heinrich

Kreuzberg: "Im Prinzenbad habe ich mir eine Schelle eingefangen - zu Recht"

Als Jugendlicher war Sternekoch Tim Raue in einer Straßengang und drangsalierte die Bademeister. Heute ist er ihrer Meinung: Kids brauchen Grenzen.

Vom Ghettokid zum Sternekoch: Herr Raue, warum waren Sie bei den „36Boys“?

TIM RAUE: Ich bin am Schlesischen Tor in Kreuzberg aufgewachsen und damals, Ende der 80er, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben die anderen die Schuhe ausgezogen oder du. Ich war der einzige Deutsche in der Gruppe. Es ging darum, sich durchzusetzen, auch gegen die anderen Gangs. Und das Territorium zu verteidigen. Unseres ging vom Hermannplatz bis zur Kurfürstenstraße.

Wer gehörte zur Konkurrenz?

TIM RAUE: Es gab unter anderem am Ku’damm die Giants und in Wedding die Black Panther. Mit denen haben wir uns die Stadt aufgeteilt. Jeder hatte seine Freizeiteinrichtungen und Schwimmbäder.

Gab’s Vorbilder?

TIM RAUE: Klar, vor allem aus Amerika. Der Film „Colours – Farben der Gewalt“ hat uns geprägt. Uns ging es ähnlich: Wir hatten keine Vision, keine Perspektive, die uns unsere Eltern mit gaben. Uns blieb die Identifikation mit unserem Stadtteil. Mein einziger Stolz war, mich mit der Gruppe zu profilieren. Und wenn die verbale Auseinandersetzung nicht klappt, wählst du die nonverbale.

Klingt brutal.

TIM RAUE: Absolut. Aber es gab auch Grenzen. Wenn wir Mist gebaut haben, ob im Tabakladen oder im Schwimmbad, haben wir uns anschließend eine gefangen und es nicht mehr gemacht.

Wurde auch im Prinzenbad ausgeteilt?

ERHARD KRAATZ: Sanftheit wird als Schwäche ausgelegt. Das war damals so und ist heute nicht anders. Früher haben wir mit den Typen, meist türkischer oder arabischer Herkunft, kurzen Prozess gemacht, dann war die Sache erledigt. Da wurde man als Respektsperson anerkannt. Das ist heute anders, da kriegen wir für eine Schelle sofort eine Anzeige.

TIM RAUE: In der Küche gibt es auch einen rauen Ton, das habe ich nie geleugnet, aber keine körperlichen Züchtigungen. Ich kann mich daran erinnern, wie ich mir im Prinzenbad eine Schelle eingefangen habe, und zwar völlig zu Recht.

SIMON K.: Die Gewaltbereitschaft ist heute extremer. Früher wurde diskutiert, notfalls Keile angedroht, aber das war’s dann. Heute wird nachgetreten, auch wenn der andere schon am Boden liegt.

Ist mehr Härte vonnöten, Herr Raue?

TIM RAUE: Zwangsläufig. Bei den Randalen am 1. Mai hatten wir am meisten Respekt vor den Polizisten aus Bayern. Von denen wussten wir, die fackeln nicht lange, die schlagen zu.

Sie sind im Schwarzen Block marschiert?

TIM RAUE: Nein, denn die Linken haben die BMWs und Mercedes abgefackelt, aber die gehörten den Brüdern und Vätern meiner Freunde. Daher gab es keinerlei Sympathien in diese Richtung.

Geht’s nicht mit weniger Gewalt?

ERHARD KRAATZ: Nur null Toleranz ist richtig – wir müssen klarmachen, wo die Grenzen sind. Es kann nicht sein, dass sich Familien nicht mehr hertrauen.

SIMON K.: Wir stellen klare Regeln auf. Ich gehe auf die Leute zu und sage: Du willst mit Respekt behandelt werden, ich auch. Das habe ich schon deinem großen Bruder gesagt und der hat’s kapiert.

TIM RAUE: Ich glaube auch, dass dieses Kräftemessen funktioniert. Etwa so: „Hör zu Serkan, ich hab’ schon deinen Bruder gesehen, wie er hier ins Becken gepinkelt hat, und mit dir mache ich dasselbe: Ich hau’ dich in die Welle rein. Also geh’ zum Pinkeln aufs Klo.“ Ich bin in der Schule antiautoritär erzogen worden, das war schwachsinnig. Man muss klare Grenzen aufzeigen, insoweit haben die beiden recht.

Ist das nicht ein Widerspruch? Die Schwimmmeister sagen, dass es vor allem türkisch- und arabischstämmige Jungs sind, die Ärger machen, und Sie haben Ihre Jugend mit ihnen verbracht.

TIM RAUE: Es geht nicht darum, jemanden an den Pranger zu stellen, aber es nützt auch nichts, an den Tatsachen herumzudrehen. Zu meiner Zeit waren es meist junge Migranten, die Ärger machten.

ERHARD KRAATZ: Das ist immer noch so!

TIM RAUE: Man sollte sich aber fragen, wie das kommt! Wir haben die Leute in den 60er und 70er Jahren ins Land geholt, seitdem sich selbst überlassen und es verpasst, Ihnen Angebote zu machen. Statt zu agieren, reagieren wir nur. Das ist wie beim Fußball: Wenn du dich hinstellst und wartest, dass der Ball kommt, dann kann nichts klappen.

Würden denn strengere Verbote etwas ändern?

TIM RAUE: Ich glaube nicht. Wenn du versuchst, alles zu verbieten, wo verbietest du sie hin? In welche Ecke willst du sie drängen? Wenn du ihnen alles nimmst, was sollen sie dann noch haben? Sie haben ja schon fast nichts, kein intaktes Elternhaus, keine Zukunft, und sie können die Sprache nicht fließend, weil sie sie nicht lernen. Das trifft aber mittlerweile auch auf genügend Jugendliche aus deutschen Familien zu.

ERHARD KRAATZ: Die Kids müssen in der Kita und der Schule Deutsch lernen. Es kann nicht sein, dass hier die dritte Generation vorm Schild steht und nicht versteht was los ist. So entsteht eine Parallelgesellschaft.

Ist die Sprache der Schlüssel?

TIM RAUE: Nicht allein. Ich war ja selber Ausländer und würde nirgendwo hingehen, wo ich die Sprache nicht beherrsche. Aber jeder von uns muss etwas dafür tun. Die Kids brauchen Perspektiven.

Diese versuchen Sie Jugendlichen zu vermitteln, wenn sie von ihrem Werdegang berichten ?

TIM RAUE: Ja und ich möchte ihnen mitgeben, dass es um Willensstärke geht. Leider ist es oftmals schon schwierig, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mangelnde Konzentration führt dazu, dass man sich durch Lautstärke Gehör verschaffen muss. Erst ein autoritäres Verhalten führt oft dazu, dass ich meine Botschaft übermitteln kann.

Wenn Sie die Wahl haben: Nehmen Sie dann noch einen Auszubildenden von einer solchen Schule?

TIM RAUE: Im Zweifel ja. Ich nehme lieber einen aus Wedding oder Kreuzberg als einen Klugscheißer mit Zweier-Zeugnis. Man kann in der Küche etwas werden und viel Geld verdienen. Aber das schafft man nur mit Leidenschaft und Hingabe. Glücklicherweise bin ich in der Lage, dass ich mir aussuchen kann, wer zu mir kommt. Das können die beiden Herren nicht – ich beneide sie nicht.

In den Bädern gibt es jetzt mehr Sicherheitsleute, Zivilfahnder sollen ihre Runde drehen: Zahlt sich das aus?

ERHARD KRAATZ: Ich denke schon. Wir merken das vor allem daran, dass wir in dieser Saison wieder deutlich mehr Familienkarten verkaufen.

Man konnte in der letzten Zeit den Eindruck haben, beim Prinzenbad handelte es sich um einen Bürgerkriegsschauplatz.

SIMON K.: So schlimm ist es nicht. Mittlerweile gibt es Stress in allen Bädern. Und hier ist es vergleichsweise ruhig. Die Kids testen aus, wie weit sie gehen können. Wir kontern mit Hausverboten. Aber Gangs, wie die 36Boys, identifizieren sich mit dem Bad und wollen keinen Ärger.

TIM RAUE: Heute gibt es aber diese großen Gangs mit ihren Leitwölfen nicht mehr. Da kannst du nicht einen ansprechen und sagen: „Sieh’ zu, dass deine Leute Ruhe geben, sonst ist Stress angesagt.“ Wenn unsere Gang-Oberen gesagt haben, bei diesem oder jenem Laden wird nicht mehr geklaut, dann war das so. Dann haben wir den Apfel bezahlt und noch Trinkgeld dagelassen oder im Prinzenbad auf den Bademeister gehört.

Klingt nach einer anderen Welt.

TIM RAUE: Mag sein. Die Bademeister werden mit dem Problem in einer Art und Weise konfrontiert, wie ich mir das in meinem Leben nicht wünsche.

Das Gespräch führte Matthias Oloew

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