Neue Serie „Landgang“: Der kreative Spirit der neuen Berliner Stadtflucht
Berliner entdecken das Landleben – und bringen neuen Schwung in vernachlässigte Dörfer. Eine neue Serie nimmt die "urbanen Dörfer" unter die Lupe.
Berlin hat an sieben Tagen 24 Stunden geöffnet und überflutet einen als Metropolenmensch mit derart viel Abwechslung, dass man zwischendurch kaum noch Zeit findet, zur Ruhe zu kommen. Und oft nicht richtig bei sich ist.
In Brandenburg ist vielerorts statt Verkehrsrauschen nur das Rauschen der Blätter zu hören, und vielleicht noch Hähnekrähen. Plötzlich ist man mit sich selbst ganz ungewohnt allein.
Der Gegensatz könnte größer nicht sein, und doch ziehen sich beide Lebenswelten zunehmend an. Da sind die Großstädter, die die Nase voll haben von weiter steigenden Mieten, den oft übervollen Zügen, dem vielfach rücksichtslosen Verhalten anderer. Und da sind die Landbewohner in abgelegenen, oft dem Verfall preisgegebenen Regionen in den (nicht mehr ganz so) neuen Bundesländern – sie bieten aber auch viel Luft und Weite für neue Lebensformen und Projekte. Und Kommunen, die offen sind für innovative Gründerinteressenten: Leerstand als Lehrstand.
„Dörfer und Kleinstädte erleben einen schleichenden Bevölkerungsschwund und die Bevölkerung altert stark“, bestätigt die aktuelle Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und der Initiative Neuland 21. Einige Landkreise im südlichen Brandenburg, in Sachsen-Anhalt oder in Thüringen dürften bis 2035 noch einmal ein Viertel ihrer heutigen Bevölkerung einbüßen. Da wachsen schon Bäume aus Hausruinen, da sind alte, aber wunderschöne, fast verfallene Fachwerkhäuser mit Graffiti beschmiert. Ein Jammer.
Immer mehr kreative Pioniere zieht es in den ländlichen Raum
Und ein Lockruf. Immer mehr Berliner zieht es mit kreativen Ideen nach Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und in andere Bundesländer. Sie entwickeln als digitale Pioniere Co-Working-Spaces in alten Höfen, bringen als Groß-Wohngemeinschaft neues Leben in alte Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Oder retten denkmalgeschützte Ruinen mit viel Engagement – und viel eigenem Geld sowie Fördermitteln vorm Verfall.
Angestellte mit Homeoffice-Vereinbarungen arbeiten vom Refugium zwischen Kartoffelacker und Storchennest aus für die Firma in der Hauptstadt. Landlust-Gründer wollen Zimmer an Digitalarbeiter vermieten, die von überall aus tätig sein können. Muss nur der W-Lan-Empfang stimmen, doch nicht nur das.
Denn während sich manch einer aus dem Ballungszentrum als Retter der Peripherie aufschwingen mag, verschränken andere auf dem Lande erstmal skeptisch die Arme: Einen Bio-Betrieb gründen wollen, aber noch nie eine Mistgabel in der Hand gehabt! Schon wieder so eine „Berliner Boulette“, die meint, uns Alteingesessenen erklären zu können, wo der Bauhammer hängt! Erst treiben sie als bestverdienende Hipster die Mieten in Berlins Szenekiezen hoch, und nun rollen sie in dicken Autos mit B-Kennzeichen so gar nicht klimabewusst in unsere Heimat!
Ohne vorsichtiges Annähern, ohne Miteinanderreden wird kein Landvorhaben gelingen, diese Erfahrung hat mancher gemacht. Denn als sogenannter Familien- oder Arbeitswanderer trifft man draußen plötzlich Nachbarn am Grill, die sich geradeheraus zur AfD bekennen.
Weil sie sich selbst vom Staat vergessen fühlen. Weil sie darüber den Kopf schütteln, wenn junge Geflüchtete aus der Unterkunft im Dorf mit dem Shuttlebus herumgefahren werden, die Alten aus dem Dorf aber – schlecht zu Fuß am Rollator – nicht einmal mit einem Bus zum nächsten Arzt ein paar Dörfer weiter kommen. Immerhin: Man redet hier freiweg über den Zaun.
„Landgang – neues Leben auf dem Dorf“
In unserer neuen Serie „Landgang“ wollen wir neue „urbane“ Dörfer besuchen, den kreativen Spirit der neuen Stadtflucht erspüren. Wie funktioniert die erträumte Work-Life-Balance als Pendler, als Umzügler auf dem platten Land? Welche Förderinstrumente gibt es, etwa für soziale Projekte, welche fehlen?
Welche Erfahrungen haben Neu-Genossenschaftler etwa auf dem Hof Prädikow gemacht, was zeichnet ein „Workation Retreat“ wie das „Coconat“ in Bad Belzig auf einem ehemaligen Gutshof aus? Wo werden schon fehlende Kitas und Schulen, Tischlereien oder Ateliers auch zum Wohle der einheimischen Bevölkerung innovativ begründet? Bewähren sich Probewohnen-Projekte als Rettet-das-Dorf-Initiative?
Beim Geld hört oft die Freundschaft auf: Wie lässt sich eine Gemeinschaft mit passenden Vertragswerken absichern? Welche Mobilitätsangebote werden gebraucht, um schlecht erreichbare Regionen attraktiver zu machen? Welche Rollen können Ehrenamtler bei allem übernehmen?
Die Donnerstagsseite „Menschen helfen“ zu bürgerschaftlichem Engagement will mit der neuen, in loser Folge erscheinenden Serie „Landgang – neues Leben auf dem Dorf“ Orientierungshilfe bieten, Umdenken anschieben, das Miteinander fördern, Vorbildhaftes vorstellen. Für die strukturschwachen Regionen kann es nämlich wertvoll sein, nicht an den finanziell meistbietenden Interessenten zu vergeben, sondern an jenen, der die meisten die Gemeinschaft belebenden Ideen mit Pull-Effekten im Rollkoffer mitbringt.
Erfahrungen, Erlebnisse, Anregungen zur neuen Serie? Dann bitte eine Mail an: annette.koegel@tagesspiegel.de, Betreff: Landgang.
Annette Kögel