Berlins 13. Bezirk: Das Hipsterdorf in der Uckermark
Gerswalde in Brandenburg ist ein Magnet für Menschen aus Berlin. Das Problem ist nur: Hier leben ja schon Leute! Kann ein Dorf gentrifiziert werden?
Es gibt diese Sommertage, da wundert sich Eva Meister. Sie steht am Gartenzaun und schaut den Ziegenwinkel hinunter, ihre Straße. Alles voller Autos, alles Berliner Kennzeichen. Sie stehen vor der Kirche, die sich ziemlich mächtig erhebt für so ein kleines Dorf. Drüben auf der Wiese rund um den Lindenplatz ebenfalls. Wenn die Leute aussteigen, tragen sie oft Gummistiefel, selbst bei Sonnenschein. Eva Meister lacht, wenn sie davon erzählt. Teuer sind solche Stiefel, 80 Euro oder so. Niemand, der schon immer in Gerswalde lebt, würde solche Gummistiefel kaufen.
Schon immer, das heißt: So wie Eva Meister. 64 Jahre alt, seit Kurzem in Rente, ihr Leben lang hat sie drüben im Schloss als Sozialpädagogin schwierige Jugendliche betreut. Meister ist der Inbegriff der kleinen, energischen Frau: wachsame Augen hinter dem lilafarbenen Brillengestell, dunkle Kurzhaarfrisur, schwarz lackierte Fußnägel. Wenn unerwartet Besuch kommt, braucht sie nur fünf Minuten. Geschirr, Kaffee, Kekse, Obst. Zack, zack, steht alles auf dem Tisch und Meister selbst auf der Veranda. Ihr Blick schweift über den makellosen Garten, das Häuschen ist in Schuss. Sie lässt sich in den Gartenstuhl fallen, eine Hummel landet auf dem Kuchenteller. Der Kaffee ist wirklich sehr stark.
Stress, Lärm, Gestank – Schnauze voll, Landflucht!
Gerswalde, Eva Meisters Heimatdorf, liegt mitten in der Uckermark und hat es zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Im Sommer fahren die Wochenendler aus Berlin über die A11 ins nordöstliche Brandenburg, holpern mit Kleinwagen und SUVs noch ein paar Kilometer über die L24. Manchmal kommen ihnen große Landwirtschaftsmaschinen entgegen, manchmal niemand. In Berlin wohnen auf einem Quadratkilometer durchschnittlich 4000 Menschen, in der Uckermark sind es 39. Im Amt Gerswalde sogar nur die Hälfte. Es kann etwas dauern, bis man hier jemanden trifft. Und das ist einer der Gründe, warum sie kommen, in Scharen. Geschädigt vom Arbeitsstress im Start-up oder in der Kanzlei, von Spielplätzen, auf denen ihre Kinder Heroinkügelchen, Spritzen und Rasierklingen im Sand finden. Von den Tempo-30-Zonen, durch die Taxis und Lieferwagen brettern. Von der Enge in der U-Bahn, in der Wohnung, geschädigt vom Uringeruch im Hauseingang. Schnauze voll, Landflucht.
Sie kann das verstehen, sagt Eva Meister. Auch sie lässt es nicht kalt nach all den Jahren, wenn sie aus Gerswalde in Richtung Flieth fährt. Die Nebelbänke über den sanft gewölbten Feldern, die Kornblumentupfer zwischen den goldenen Ähren, bei guter Sicht die Ucker in der Ferne, da muss sie wenigstens kurz anhalten und gucken, sagt sie und ihre Stimme, ihr Blick, werden ganz zärtlich.
Das Problem ist, und da berappelt Meister sich wieder, dass es manchmal zu viele Besucher aus der Stadt gibt. Von Ostern bis Oktober stehen die Autos mangels Parkplätzen so an der Straße, dass der Bus nicht mehr durchkommt. Wahrscheinlich, mutmaßt Eva Meister, wissen die alle gar nicht, dass hier überhaupt ein Bus verkehrt. Wie sollen sie auch, mit den Gerswaldern haben sie kaum Kontakt. Wenn die Berliner kommen, haben sie ein ganz bestimmtes Ziel im Dorf, und das liegt ein paar Schritte von Eva Meisters Haus entfernt, auf dem Gelände der alten Schlossgärtnerei.
Matcha-Cheesecake, Onigiri, Curry
Lola Randl, Filmemacherin, Schauspielerin, Multitalent, hat das große Grundstück mitsamt den bröckelnden Gebäuden darauf vor ein paar Jahren gekauft und "Großer Garten" genannt. Eigentlich wollte sie keine Journalisten mehr empfangen, sagt sie zur Begrüßung. Es nahm überhand: Nach den nischigen Indie-Magazinen kamen die Frauen-Lifestyle-Blätter und die Berliner Tageszeitungen. Und mit jedem Artikel, mit jeder Bilderstrecke aus dem Paradies etwa eine Autostunde von Berlin, kamen mehr Ausflügler. Was wollen die alle hier?
Randl läuft voran, die Füße in praktischen schwarzen Plastik-Clogs, die Hände in den Taschen ihrer Mom-Jeans, dazu ein cremefarbenes Wolltop. Sie ist immer ein bisschen Land und ein bisschen Stadt, in ihrem Reich kommt beides zusammen. Das alte Palmenhaus hat sie an vier Japanerinnen verpachtet, die seit vergangenem Jahr Matcha-Cheesecake, Onigiri, Currys und selbstgemachte Holunderlimonade anbieten. Sie sind wie Samen, sagt Lola Randl, die aus der Ferne kommen, hergeweht wurden und hier einen Boden gefunden haben, auf dem sie gut gedeihen. Man könnte auch sagen: Die Leute rennen ihnen die Bude ein.
Schwarze Farbe blättert von den hohen Wänden, irgendjemand hat Mobiles aus Strohhalmen aufgehängt. Die Sonne scheint durch die Fensterfront, am langen Tisch sitzen zwei Gäste, vor sich Macbook und iPad. Im Regal liegen Magazine, die man in brandenburgischen Cafés normalerweise nicht findet: The Weekender, Arch+, die japanische Unplugged.
Draußen im wild wuchernden Garten sind alle Tische besetzt, ein Fuß tippt rhythmisch gegen den Bugaboo, Gespräche auf Englisch. Am Hang laufen welche zwischen den Beeten entlang und raten Pflanzen. Eine Frau fotografiert die noch unreifen Äpfel am Baum, wann sieht man so was schon. Dann zerschneidet ein Schrei die warme Luft: Ein Junge, vielleicht acht Jahre, hat einen großen Käfer auf seinem Bein entdeckt, die Mutter nimmt das erschrockene Kind auf den Schoß und tröstet. Solche Käfer gibt es in Mitte nicht.
Endlich was los hier. Zu viel los hier
Am Rande des Grundstücks bauen Johanna und Martin ihre "Freie Scholle" auf, eine Permakultur. Heißt: naturnahes Gärtnern wie vor hundert Jahren, keine großen Maschinen, chemische Dünger oder Pestizide, dafür seltene, fast ausgestorbene Gemüsesorten. Irgendwann, so der Plan, kann man sich dann Gemüse vom Ausflug nach Gerswalde mitnehmen. Oder bestellt eine Abo-Kiste.
Neben dem Palmenhaus hat sich Micha, der Fischmann, eingemietet. Die Besucher kennen ihn aus der Kreuzberger Markthalle IX. Mittlerweile hat er "Glut und Späne", seine Räucherei, komplett nach Gerswalde verlegt, verarbeitet hier regionale Fische, dazu gibt es Kichererbsen- und Kartoffelsalat.
Seit diesem Jahr öffnet samstags auch das "Paradieschen", eine kleine Cocktailbar, ab und zu gibt es Konzerte. Das mit den Cocktails, sagt Lola Randl, ist so eine Sache. Mindestens einer müsse sich beim Trinken immer zurückhalten, denn die Leute müssen ja irgendwie zurück nach Hause, nach Berlin. Die Anbindung mit Bussen und Zügen ist schlecht, es gibt kaum Unterkünfte im Ort.
Das will Randl ändern. Wo früher der Gärtner gewohnt hat, wird gerade saniert, man soll im "Großen Garten" irgendwann auch übernachten können. Und drüben im ehemaligen Gasthof, wo die 38-Jährige mit Mann und zwei Kindern lebt, hat ein Galerieraum eröffnet. Gerade wird eine Ausstellung mit Grafiken einer japanischen Künstlerin gezeigt, man kann Drucke und Notizhefte mit Blütenmotiven kaufen, außerdem Postkarten, darauf historische Dorfansichten: Gerswalde vor der landwirtschaftlichen Industrialisierung, Mittagspause auf dem Feld mit Milch aus der Kanne. Man ahnt schon, dass das nicht so romantisch war, wie es auf den ersten Blick aussieht.
Genau solche romantischen Vorstellungen sind es aber, die viele Besucher nach Gerswalde und in den "Großen Garten" treiben. Das sagt Lola Randl. Das sagt Eva Meister. Beide sagen: Manchmal ist der Andrang zu groß. Wer sich im Dorf umhört, merkt, dass die Gerswalder den Randlschen Mikrokosmos zwiespältig sehen. Endlich was los hier. Zu viel los hier.
Die Uckermark hat sich den Ruf eingehandelt, die Hamptons und das Long Island von Berlin zu sein, manche sagen: der 13. Bezirk. So, wie in Mitte und Prenzlauer Berg, dann Kreuzberg, dann Neukölln zunächst einzelne Galerien, Bars und Cafés die einstmals öden Straßenzüge auflockerten, bis diese immer gleichen Cafés, Bars und Galerien selbst zur Ödnis wurden, so eröffnen nun in Gerswalde genau diese Orte, die Veränderung verkünden. Lola Randl war nicht die Erste, aber ein Motor. Einige machten es ihr nach: Heruntergekommene Gehöfte günstig kaufen. Geld, vor allem aber Zeit und Visionen reinstecken. Der Stadt fürs Wochenende, manchmal sogar ganz den Rücken kehren. Kann ein Dorf gentrifiziert werden?
Letztens kam ihr Wim Wenders auf der Dorfstraße entgegen
Zu diesem Dorf, das gerade Wachstumsschmerzen hat, gehört Eva Meister wie das Schild am Ortseingang. "Jeder kennt mich", sagt sie, "ick quatsch alle an, misch mich überall ein, ich will's eben verstehen." Wenn sich die Nachbarn am Samstagmorgen zum Plausch am Gartenzaun treffen, kommt Meister dazu, manchmal noch im Schlafanzug. Da kriegt man viel mit: Wie die Stimmung im Ort ist. Wie über die Besucher und Zugezogenen gedacht wird.
Seit Anfang der Neunziger sitzt Eva Meister in der Gemeindevertretung, CDU-Parteibuch. Es ist ein Statement. Die Familie litt unter den Kommunisten. Ihr Vater, Heinz Pullwitt, war von 1991 bis 2003 Bürgermeister. Als Waisenkind schlug er sich nach dem Krieg zwei Jahre allein in Ostpreußen durch, kam in polnische Gefangenschaft, sah Männer sterben. Irgendwie schaffte er es zum Großvater nach Gerswalde, der sagte nur: noch ein hungriges Maul. Herr Pullwitt und seine Tochter traten nie in die Partei ein. Als die Wende kam, sorgten sie mit dafür, dass "die Roten" bald nichts mehr zu sagen hatten.
Das Leben habe aus ihrem Vater einen geradlinigen Mann gemacht, sagt Eva Meister, einen Kämpfer mit Überzeugungen. Wer ihn kennenlernt, versteht auch die Tochter. Eine geradlinige Frau, die für ihr Dorf kämpft. Wenn sie über Gerswalde spricht, ist sie mehr Mensch als Parteimitglied.
Letztens kam ihr Wim Wenders auf der Dorfstraße entgegen. "Mensch, Herr Wenders, sag ick. Was machen Sie denn hier? Sucht der doch tatsächlich ein Haus!" Es macht Eva Meister stolz, dass ihre Heimat jetzt Sehnsuchtsort der Großstädter, der Kreativen und Intellektuellen ist. Und es macht ihr Angst. "Das muss hier irgendwie zusammenwachsen, da müssen wir aufpassen." Sonst könnte es Gerswalde wie einem Dorftümpel in der Sommerhitze ergehen: Es könnte kippen.
"Geplant war das alles nicht", sagt Lola Randl. Man merkt, dass sie selbst überrumpelt ist von dem, was um sie herum entstanden ist. Sie sitzt im Obergeschoss des puderrosa gestrichenen alten Gasthofs schräg gegenüber vom "Großen Garten", in der minimalistisch gehaltenen Wohnküche. Beim Erzählen streicht sie immer wieder unsichtbare Krümel vom Esstisch, als versuche sie, Ordnung in den Trubel zu bringen, der ihr Leben ist. Bisher scheiterten alle Versuche. Randl zieht Projekte an wie ein Magnet, vieles läuft parallel, manchmal würde sie gern vor sich selbst flüchten. Vor ihrem Drang, Dinge auszuprobieren, anzugehen. Dabei waren es ja die Projekte, sagt sie, die sie aus Berlin vertrieben, damals vor zehn Jahren.
Nahe der Torstraße in Mitte, wo sie und ihr Mann wohnten, wurde es immer enger, immer mehr Touristen, mehr Hostels. Und dann diese Projekte, die überall in den Cafés besprochen wurden. Man entkam dem nicht mehr, sagt Lola Randl. Also setzen sich die beiden in den Zug, planlos, und fahren auf der alten Verbindung Berlin-Stettin raus aus der Stadt. Der preußische Gartenpapst Peter Joseph Lenné, auch verantwortlich für Tiergarten und Pfaueninsel, hatte rund 150 Jahre zuvor die Gleise so durch die Moränenlandschaft legen lassen, dass sich der König auf seinen Dienstreisen an der Idylle vor dem Zugfenster erfreuen konnte. Die Bahnfahrt wirkt auch auf Lola Randl und Philipp Pfeiffer.
"Jemüseanbau nennt sich das"
Ohne groß zu überlegen, kaufen sie das düstere Gebäude, den alten Gasthof, den sie online gefunden hatten und der heute ihr Zuhause ist. Er kostet nicht viel, das ist schon mal gut. Er ist wirklich heruntergekommen, das ist ziemlich schlecht. Keine Treppe im Haus, jeder Quadratmillimeter Baustelle. "Wir sind da völlig blauäugig rangegangen", sagt Randl und wischt wieder über den Tisch. "Und wir haben schnell gemerkt, dass die Idee vom Wochenendhaus auf dem Land nicht funktioniert. So ein großes Haus, mitten im Ort, da muss Leben rein."
Also packen sie alles ein und ziehen nach Gerswalde, verputzen Wände, verlegen Fliesen, bauen eine Treppe. Laden Freunde aus Berlin ein, vorbeizukommen, zu helfen, sich zwischendurch die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen und von den Schwarzen Johannisbeeren zu naschen. Freunde aus der Filmbranche, Produzenten, Kreative, Schauspielerinnen. Die Ersten beginnen, sich hier ebenfalls nach Häusern umzusehen. Lola Randl merkt, dass da etwas passiert, das dokumentiert werden will.
Sie macht jetzt oft die Kamera an, ganz beiläufig. Sie filmt, als die Berliner Ärztin im Garten ihres Wochenendhäuschens steht und rätselt, was der Unterschied zwischen Gerste und Roggen ist. Sie filmt, als der Produzent mit der teuren Angel am Seeufer steht und flucht, weil kein Fisch anbeißt - er hatte doch versprochen, für das Abendessen zu sorgen. In einer Szene nimmt ein älterer Einheimischer einige der Neuen in seinem Wartburg mit ins nächste Dorf, dabei kommen sie an Feldern vorbei. Der Mann deutet nach draußen. Rote Bete, hinten Salat. Die Beifahrerin aus der Stadt fragt, ob das die Offenen Gärten seien - und meint die jährlich stattfindende Veranstaltungsreihe, mit der Brandenburg Städter anlocken will. Nö, sagt der Alte ungerührt. "Jemüseanbau nennt sich das."
Manchmal flüchtet sie nach Berlin
Aus Randls Aufzeichnungen entstand eine Dokuserie, die im Fernsehen gezeigt wurde. Die "Landschwärmer" findet man leicht auf Youtube. Wer sie gesehen hat, will sofort nach Gerswalde: angeln, einkochen, Möhren aus der dunklen Erde ziehen. Wenigstens für ein Wochenende.
Dieses zarte Pflänzchen, das neue Gerswalde, das Lola Randl in ihrer Serie zeigt, hat längst Wurzeln geschlagen und ist kräftig ausgetrieben. Sie sei wie ein Gärtner, der hier etwas sät, dort etwas zupft, manchmal umtopft. Am Ende, sagt sie, ist es aber so, dass die Natur der Dinge entscheidet, wie etwas gedeiht. In Randls Fall könnte man sagen: Die Sache ist ihr etwas über den Kopf gewachsen.
Etwa vor fünf Jahren kommt sie auf die Idee, unten im Gasthof ein Café zu eröffnen, das Café zum Löwen, Vorläufer des heutigen Lokals drüben im Palmenhaus. Schon als sie selbst hinterm Tresen steht, gibt es Kaffee und Kuchen auf Kreuzberg-Niveau. Die Filmfreunde bringen jetzt noch mehr Freunde mit, die auch wieder Freunde mitbringen, bis Randl viele, die nun am Wochenende durch das Dorf stiefeln, nicht mehr persönlich kennt. Sie merkt, dass manche sie anstarren: Ist das Lola Randl?
Manchmal flüchtet sie nach Berlin. Eine Pause vom Landleben, Erholung von der Dauerbaustelle, die Gasthof und "Großer Garten" an vielen Stellen noch immer sind. Aber in der Stadt wird Randl mehr nach Gerswalde gefragt als nach ihrem letzten Film, der Komödie "Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer?". "Nach drei Tagen Berlin", sagt sie, "fehlt es mir dann auch wieder, dieses Dorf. Und ich denke, Wahnsinn, was man da alles machen kann, wie viel Platz man hat, diese Spielwiese, die Möglichkeit, neue soziale Gemeinschaften zu gründen."
Wie das aussehen kann, zeigt Randls neuester Film "Von Bienen und Blumen", der Mitte November in die Kinos kommt. Auch er ist in dieser speziellen halbdokumentarischen Form angelegt, die Randl so liebt und die auch die "Landschwärmer" kennzeichnet. Aber diesmal ist es wesentlich persönlicher geworden, ein soziologisches Experiment, ein kompliziertes Beziehungsgeflecht. Lola liebt Philipp, aber Lola liebt auch Bernd. Sie laden eine Paartherapeutin nach Gerswalde ein, dann knallt es trotzdem und Bernd haut ab. Nebenher müssen die Pflanzen versorgt und die Ziegen davon abgehalten werden, an den Obstbäumen zu knabbern. Im Dorf eröffnet ein Dönerimbiss, beim Stoppelmarkt kommen alle zusammen, Alt- und Neu-Gerswalder. Am Ende kehrt Bernd zurück. "Unsere kleine Farm" im 21. Jahrhundert.
Die Zugezogenen finden kaum noch Bruchbuden zum Sanieren
Bernd, der mit vollem Namen Bernd Fraunholz heißt und mit Randl zusammen die Filmproduktionsfirma "Dorfmitte Productions" betreibt, wohnt mittlerweile auch in Gerswalde. Man kann sein Haus aus dem Küchenfenster des Gasthofs sehen, von oben bis unten eingerüstet. Es ist eines der ältesten Häuser im Dorf, stand ewig leer. Alles, wirklich alles, muss neu gemacht werden. Für so etwas braucht es Mut und Geld, sagt Eva Meister, und von beidem gebe es hier wenig. Bruchbuden sanieren, das leistet sich keiner von den Alteingesessenen. Das machen die Zugezogenen.
Und die finden kaum noch Bruchbuden. An der Dorfstraße, zwischen der Gaststätte "Zum Schwarzen Adler" und der Fahrschule Luxath, gibt es eine Tafel mit Anschlägen und den immer gleich klingenden Phrasen: Rückkehrerin sucht Grundstück für Existenzaufbau ... um eine kleine ökologische Landwirtschaft aufzubauen ... wünschen uns Platz für einen Selbstversorgergarten ... sind zu leidenschaftlichen Einmachern von Obst und Gemüse geworden ... rustikal oder nicht bewohnbar kein Problem.
Die Sehnsucht nach dem Landleben, die wird so schnell nicht aufhören, glaubt Lola Randl. Der Städter: Entfremdet von der Natur und gleichzeitig hingezogen. Genug von Bodenversiegelung, Werbetafeln, Likes und Parks, die mehr braun als grün sind. Stattdessen: ein richtiger Sternenhimmel, barfuß gehen, Spinnen und Ameisen im Haus. In Randls Biotop kann man sich dem Dorf langsam annähern, es mitgestalten, neu verhandeln.
Auch Eva Meister setzt aufs Verhandeln. Ihr Telefon klingelt, sie springt auf und läuft von der Terrasse ins Wohnzimmer. Kleiner Juchzer. "Wir haben die Sponsoren für die Buden!" Seit fünf Jahren organisiert sie den Weihnachtsmarkt. Ist wichtig für die Gemeinde, sagt sie. Beim Glühwein wird man locker, da kommen alle miteinander ins Quatschen, die Alten, die Neuen. "Und dann merken sie, die anderen sind ja gar nicht so übel." Meister kichert in ihre Kaffeetasse.
Einer der Zugezogenen grüßte zu Beginn nicht, obwohl man sich schon öfter im Dorf gesehen hatte. Da wusch Eva Meister ihm einmal den Kopf, seither grüßt er sie bereits aus zwanzig Metern Entfernung. Man muss das lernen, sagt Lola Randl. "In Berlin grüßt man nie und hier hat man plötzlich dieses enge soziale Geflecht." Den gleichen Hausarzt, die gleiche Apothekerin, die gleiche Grundschule. Wer in Gerswalde wohnt, darf sich nicht abschotten, sagt Meister.
Der Uckermärker ist nicht sofort offen
Und doch gibt es diese zwei Welten, da reicht ein weiterer Blick auf die hölzerne Tafel mit den Bekanntmachungen: Die Galerie im Gasthof kündigt die Ausstellung "Prisms Minerals Landscapes" an, Illustrationen eines Japaners, der in Berlin lebt. Darunter, halb verdeckt: Die Freiwillige Feuerwehr Gerswalde feiert ihren 100. Geburtstag mit einem Frühschoppen, DJ Silvio Grensing legt auf, die Jagdhornbläser und die Schalmeienkapelle Rossow kommen, es gibt "Leckeres vom Grill" und eine Hüpfburg.
Die soziale Mischung, so wie Eva Meister sie sich wünscht, hier gelingt sie noch nicht. Die Lebensstile prallen aufeinander, egal, wie sehr sich auch Lola Randl bemüht, egal, wie oft sie am Gartenzaun steht und mit den Nachbarn quatscht, egal, wie oft sie drüben in Franz Gittels Landmarkt einkauft. "Ich bleibe fremd", sagt sie. "Ich bleibe die Städterin. Was ja auch nicht schlimm ist." Das Tolle an so einem Dorf sei ja, dass es Fremde aufnehmen und verkraften kann.
Aber wie fremd darf der Fremde sein?
Der Uckermärker an sich, sagt Eva Meister, der Uckermärker ist nicht sofort offen. "Erst mal abwarten. Gucken." Sie muss es wissen.
Die Geschichte hat es den Menschen hier nicht immer leicht gemacht. Nach 1945 kamen deutsche Flüchtlinge, Anfang der 60er die Bodenreform, der Staat enteignete Bauern, manche Dörfer leerten sich über Nacht, weil die ihrer Existenzgrundlage beraubten Bewohner rübermachten. Nach dem Mauerfall wurden die Ländereien verscherbelt, "Treuhand" ist noch immer ein Reizwort. Und dann kamen die Investoren aus dem Westen, versprachen neue Jobs in der Landwirtschaft, Biogasanlagen, Schweinemastbetriebe.
Wie gut, sagt Eva Meister, dass wir darauf nicht reingefallen sind. Das liegt auch an den Zugezogenen, sagt sie. Die hätten die Gemeindevertretung wachgerüttelt, hätten klargemacht, dass es leere Versprechungen waren. Keine Jobs, dafür noch mehr Monokulturen auf den Feldern, noch mehr Belastungen für die Natur. Und auf die sind sie ja in der Uckermark so stolz.
Manufaktur, Kommune, Bullerbü
Lola Randl will genau da ansetzen, will den Uckermärker bei seinen Wurzeln packen. "Wenn wir uns einfügen, dann auch darüber, dass wir altes Wissen der Dorfbevölkerung anzapfen. Okay, vieles machen sie mittlerweile nicht mehr, weil es einfacher geht. Aber wir wollen es gar nicht einfach haben, sondern ursprünglich. Alte Techniken und fast ausgestorbene Haustierrassen bewahren, vielleicht flicht jemand einen Korb, obwohl sich das niemals lohnen kann, weil Plastikkörbe viel billiger sind."
Randl hat Pläne. "Eine Akademie!", sagt sie und dreht an ihren braunen Locken herum, "das wäre toll". Ein Raum für Themen rund um Ökologie, Gesellschaft, Technologie, Nachhaltigkeit. Es gab schon ein paar Workshops: Gemüse fermentieren, Stoffe mit Roter Bete färben, Töpfern mit regionalem Lehm. Randl kennt das, sie ist so aufgewachsen, in einer bayerischen Öko-Kommune. Auch das war nicht das echte Landleben, zumindest nicht das der Nachbarn. Es war ein utopischer Versuch. Und jetzt sitzt Randl an ihrem Küchentisch und wirft mit Fragen um sich: Wie will man seine Zeit verbringen? Wie ist das mit dem Geld, der Arbeit und dem Sinn? Sie ist nicht allein. Nicht mit den Fragen, nicht mit den Projekten hier.
Vor nicht allzu langer Zeit ist ein weiteres Paar aus Berlin hergezogen - die Frau will ein Geburtshaus eröffnen. Im benachbarten Pinnow hat eine Frau vom Rowohlt-Verlag eine Alpaka-Farm aufgebaut. Ein paar hundert Meter entfernt steht das mit Architekturpreisen ausgezeichnete Schwarze Haus, entworfen von einem Berliner Architekten. In drei Dörfern der Gegend, darunter Gerswalde, fand eben erst wieder das UM-Festival statt, organisiert von Dimitri Hegemann, der auch den legendären Technoclub Tresor in Berlin gegründet hat. Im Nachbarort Böckenberg hat der Verein Libken einen LPG-Wohnblock übernommen und bietet Residenzprogramme für Künstler, Yogakurse und Konferenzen an, über die man in Neuköllner Bars spricht.
Gerswalde, die Uckermark, diese karge Landschaft, für die man anhalten muss, wenn der Nebel aufzieht, ist zur Projektionsfläche geworden. Es ist ein bisschen, als sei dieser Flecken Erde eine Art Leinwand, die Städter auffordert, sich etwas auszudenken. Was könnte man hier machen? Manufaktur? Kommune? Bullerbü? Bio-Gärtnern? Haus am See? Blöd nur, dass die Projektionsfläche nicht leer ist. Hier lebt schon jemand.
Einmal, erzählt Meister, lag sie auf ihrer Terrasse in der Sonne, recht freizügig. Da ging unten das Gartentor auf, ein paar Leute kamen herein. "Hallo-oh", rief sie. "Sie sind auf Privatgelände!"
"Wir wollten uns das hier nur mal anschauen und fragen, ob Sie verkaufen würden", antworteten die Eindringlinge.
"Können Sie sich gar nicht leisten", plänkelte Meister zurück.
"Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken."
Angie Pohlers