Neues Verkehrsgutachten zum Hauptstadtflughafen: Der BER könnte die Stadtautobahn lahmlegen
Ein Gutachten bestätigt, wovor Flughafenchef Mühlenfeld warnt: Mit der Eröffnung des BER könnte Berlins Süden ein Verkehrschaos drohen.
Mit der Eröffnung des neuen Hauptstadtflughafens droht Verkehrschaos im Süden Berlins. Das prognostiziert eine dem Tagesspiegel vorliegende, bislang unveröffentlichte „Verkehrsuntersuchung zur Verkehrsanbindung des Flughafen BER“ vom Februar 2016, in der die Auswirkungen des neuen Flughafens – und zwar mit dem rasanten Passagierwachstum in der Hauptstadtregion seit 2012 – auf die Hauptzufahrtstrecke simuliert wurden.
Die Befunde alarmieren: Danach werden die zum BER führende Stadtautobahn A 113 und auch die A 100 wegen der zusätzlichen Verkehrsströme schon zur Eröffnung der Flughafens an Belastungsgrenzen stoßen, mit der Folge von langsamen Geschwindigkeiten, Staus und Ausweicheffekten. Das wird nicht nur für Passagiere, sondern auch für Anwohner von angrenzenden Haupt- und Nebenstraßen eine Belastung.
Zwar liegt der neue Airport gleich hinter der Stadtgrenze. Trotzdem wird man deutlich mehr Zeit als heute einplanen müssen, um mit dem Auto hinzukommen. „Für die Fluggäste, die vom BER aus in die Berliner Innenstadt bzw. aus der Innenstadt zum BER gelangen möchten, sind insbesondere in den Spitzenstunden deutliche Zunahmen der Reisezeiten zu erwarten“, heißt es in der 52-Seiten-Expertise. Besonders problematisch werde es, wenn die Anfahrtsdauer wegen der Unberechenbarkeit von Staus „nicht verlässlich abgeschätzt werden kann.“
Erstellt hat das Gutachten die Ingenieurgesellschaft Hoffmann-Leichter, die auf Verkehrsprojekte und solche Untersuchungen spezialisiert ist. Sie hat eine lange Referenzliste, die auch viele Berliner Projekte und Senatsaufträge enthält. Auftraggeber ist diesmal allerdings nicht die öffentliche Hand, sondern der Architekt Gisbert Dreyer, „in Vorbereitung eines privaten Investitionsprojektes im Flughafenumfeld, das eine exzellente Straßenanbindung an die Stadt Berlin braucht“.
Doppelt so viele Autos wie heute
Davon ist man am BER weit entfernt. Zum offiziell auch von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) immer noch für 2017 anvisierten BER-Start, der allerdings nach Tagesspiegel-Recherchen vor 2018 nicht möglich ist, werden von und nach Schönefeld 34 Millionen Passagiere fliegen. Das sind täglich über 90.000 Passagiere, die auch das Berliner Verkehrsgefüge massiv verändern werden. Zum Vergleich: Im Jahr des geplatzten BER-Starts 2012 waren es 25 Millionen Passagiere.
Für das Gutachten wurden zwei Szenarien simuliert, eins für 30 Millionen Passagiere und eins für 40 Millionen, die 2020 erwartet werden. Angenommen wurde, dass 60 Prozent mit dem Auto an- oder abreisen, was zwischen dem Niveau von München (56) und Frankfurt/Main (65) läge. Es wären dann täglich 100.000 Fahrzeuge bzw. 131.000 Fahrzeuge vom BER weg oder dorthin unterwegs, und zwar vor allem über die Stadtautobahn A 113/A100, über die der BER auf der Straße für die Berliner erschlossen wird. Schon heute kommt es dort oft zu Staus.
In den südlichen Abschnitten werden nach Eröffnung des Flughafens etwa doppelt so viele Fahrzeuge unterwegs sein wie heute, wo man nach nach ausgewerteten Daten der Firma TomTom zwischen dem Dreieck Funkturm zum BER – oder in umgekehrter Richtung – im Schnitt knapp 22 Minuten, in den Spitzenzeiten rund 29 Minuten benötigt. Und künftig? „Es zeigt sich, dass schon bei einem jährlichen Fluggastaufkommen von 30 Millionen Passagieren zwischen dem BER und dem Dreieck Funkturm in beiden Richtungen Reisezeiten von bis zu 49 Minuten zu erwarten sind.“ Im Szenario von jährlich 40 Millionen Passagieren „steigen diese in beiden Richtungen auf bis zu 60 Minuten an."
Prognose: Mehr Unfälle, mehr Staus
In den Simulationen zeige sich, dass die Kapazität der betreffenden Abschnitte der Stadtautobahn „aufgrund des zusätzlichen Verkehrs durch den Flughafen BER weitestgehend ausgeschöpft oder gar überschritten wird.“ Und: „Im Fall der deutlich höheren Verkehrsaufkommen, die ab der Inbetriebnahme des Flughafens BER durch die A 100 bzw. A 113 abzuwickeln sein werden, wird es in einigen Autobahnabschnitten schon im Normalbetrieb zu einer kritischen Sättigung mit einem nur bedingt stabilen Verkehrsablauf kommen.“ Die Wahrscheinlichkeit, dass bereits „kleinere Störungen große Stauerscheinungen“ verursachen, sei dadurch relativ hoch. Unweigerlich werde es auch mehr Unfälle und Havarien geben.
„Unter solchen Umständen steht den Verkehrsteilnehmern auf dem Weg vom bzw. zum Flughafen mit der Stadtautobahn A 100 bzw. A 113 keine zuverlässige Verbindung zur Verfügung, für die berechenbare Reisezeiten veranschlagt werden können.“ Und das alles wird zudem auf umliegende Haupt- und Nebenstraßen ausstrahlen, „wovon in den Spitzenstunden auch Straßen in Wohngebieten betroffen sein werden.“ So dürfte sich die „schon im Bestand unbefriedigende Situation in diversen Zufahrtsstraßen zur Innenstadt (z.B. Tempelhofer Damm) in den Hauptverkehrszeiten weiter zuspitzen“.
Ein Fazit lautet: „Die Folge sind höhere Fahrzeiten für einen Großteil der Verkehrsteilnehmer in der Stadt sowie eine höhere Luftschadstoff und Lärmbelastung insbesondere für Anwohner.“ Aber auch für den BER selbst, der angesichts seiner Kapazitätsprobleme schon mit langen Abfertigungszeiten zu kämpfen haben wird, ist laut Gutachten die schlechte Erreichbarkeit auf der Straße ein Nachteil.
Das erklärt, warum Flughafenchef Karsten Mühlenfeld seit geraumer Zeit versucht, auf den drohenden Kollaps aufmerksam zu machen. Auf einer Veranstaltung hatte Mühlenfeld seine Forderung nach einer Simulation, nach Lösungen auf eine drastische Formel gebracht: „Ich warte auf den Tag, wo die Bundespolitiker alle mit der S-Bahn zum Flughafen kommen werden, weil man anders dort nicht hinkommen kann.“
Berliner Senatsverwaltung teilt die Sorgen nicht
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Bauen und Wohnen sieht dagegen keine Gefahr eines Verkehrsinfarktes und hält die BER-Anbindung für ausreichend: „Wir teilen die Befürchtungen nicht“, hieß es auf Anfrage. Man müsse dabei die Rahmenbedingungen auf der A113 berücksichtigen. „Es ist unabdingbar, dass innerhalb der Tunnel aus Sicherheitsgründen keine Rückstaus entstehen dürfen.“
Daher komme es dort immer wieder zu Fahrbahnsperrungen, um den Verkehr zu regeln.“ Für die Umfahrungsstraßen kämen dann Sonderprogramme für die Ampelschaltungen zum Einsatz. Die geplante Anbindung der A 100 an den Treptower Park/Elsenbrücke werde „die Erreichbarkeit des BER aus der Innenstadt per Auto noch verbessern.“
Vor allem aber verweist der Senat auf den öffentlichen Nahverkehr zum BER, mit S-Bahnen im Zehn-Minuten-Takt, Regionalzügen und dem Flughafenexpress alle 15 Minuten: „Die Anbindung des BER per ÖPNV wird vorbildlich.“
Tatsächlich auch das Gutachten sieht im Nahverkehr die Chance, mittelfristig Dauerstau auf der Stadtautobahn abzuwenden – allerdings nur durch einen noch dichteren Takt. In den Spitzenstunden, so die Simulation, müssten dann zwischen dem BER und Berlin zum Beispiel alle fünf Minuten S-Bahnen fahren. Praktisch ist das kaum möglich, weil das Netz Engpässe hat.
Zum anderen haben Berlin und Brandenburg gegenüber den Baugenehmigungsbehörden jüngst ausgeschlossen, bis 2019 zusätzliche Züge zum BER bestellen. Das war eine Bedingung, um das akute Brandschutz- und Genehmigungsproblem um BER-Bahnhof und Terminal überhaupt lösen zu können. Architekt Gisbert Dreyer formuliert das, was auf die Berliner zukommt, sarkastisch so: „Der eigentliche Schrecken des BER ist der Tag seiner Eröffnung.“
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