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Gründerzeitliches Wohnhaus am Chamissoplatz. In den 80er Jahren wurde das Haus komplett saniert.
© Kitty Kleist-Heinrich

Stadtentwicklung in Kreuzberg: „Das waren paradiesische Zustände“

Seit Mitte der achtziger Jahre berät Gaby Klahr Kreuzberger Mieter – vor allem im einstigen Sanierungsgebiet am Chamissoplatz. Ein Interview.

In den 80er Jahren herrschten noch paradiesische Zeiten für Mieter. Was war der Hintergrund für das „Sanierungsgebiet Chamissoplatz"?

Das Sanierungsgebiet ist von 1979 bis zum Jahr 2003 förmlich festgelegt worden. Zum einen gab es dafür städtebauliche Ziele, wie den Erhalt eines großen Teils der Wohnhäuser und die Modernisierung der Wohnungen zum Beispiel mit Zentralheizungen und Bädern. Zum anderen ging es um soziale Ziele: Die Mieten sollten sozialverträglich bleiben und blieben das auch, die Modernisierung sollte entsprechend umgesetzt werden. Durch Einsatz öffentlicher Mittel von mehr als 250 Millionen Euro konnten diese Ziele realisiert werden.

Welche Rolle hatte die Mieterberatung Spas?

Wenn die Bewohner während der Modernisierungen nicht in ihren Wohnungen bleiben konnten, erfolgte eine Umsetzung innerhalb des Sanierungsgebietes. Mieterwünsche wurden berücksichtigt. Ab 1982 stand den Mietern die unabhängige Mieterberatungsgesellschaft Spas zur Seite. Deren Aufgabe war unter anderem die Beratung der Mieter – insbesondere der Härtefälle, die Versorgung mit Wohnraum und die Stärkung von Hausgemeinschaften. Eine Verdrängung von Bewohnern konnte verhindert werden. Wir arbeiteten mit allen betroffenen Institutionen zusammen. Ohne bürokratische Hindernisse konnten wir so zum Beispiel illegale Untermieter legalisieren, indem wir ihnen eine Wohnung vermittelten. Selbst zerstrittenen WG-Mitgliedern oder Paaren verschafften wir damals Ersatzwohnungen. Das sind Fakten, die heute paradiesisch scheinen.

Die Langzeitrecherche „Wem gehört Berlin“ ist eine Kooperation des Tagesspiegels mit dem gemeinnützigen Recherchezentrum Correctiv. Auf unserer Plattform wem-gehoert-berlin.de können Sie uns mitteilen, wer Eigentümer Ihrer Wohnung ist, und welche Erfahrungen Sie mit Ihrem Vermieter gesammelt haben. Mithilfe der Daten suchen wir nach unverantwortlichen Geschäftspraktiken und machen den Immobilienmarkt transparenter. Eingesandte Geschichten werden nur mit Ihrer Einwilligung veröffentlicht.

Was bedeutete das für die Sozialstruktur im Sanierungsgebiet?

Die sanierungsbetroffenen Haushalte mussten Konflikte mit den Eigentümern nicht selber führen, sondern wir als Sozialplaner und Mieterberater haben das im Auftrag des Bezirks getan. Wir haben unter großem Einsatz immer die passende Wohnung für die Betroffenen gefunden. Keiner der sanierungsbetroffenen Haushalte hat sich verschlechtert. Im damals geltenden Landesmodernisierungsprogramm war die Miete nach Modernisierung mit Bad und Zentralheizug bei 4,50 DM pro Quadratmeter bruttokalt festgeschrieben. Die Sanierung wurde mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass die ursprüngliche Bevölkerung erhalten blieb. Schön bunt, mit verschiedenen Generationen, einkommensschwache Haushalte genauso wie Haushalte mit mittleren und guten Einkommen, deutsche und türkischstämmige Bewohner – alle konnten bleiben.

Wie ist die Situation am Chamissoplatz heute?

15 Jahre nach Aufhebung der Sanierungssatzung hat sich vieles verändert. Die Häuser der privaten Eigentümer sind fast alle aus der Bindung und einige bereits zu Eigentumswohnungen geworden. Die Wandlung in Wohneigentum hat große Spuren hinterlassen. Die Mieter haben zwar das Vorkaufsrecht, doch sind die Kaufpreise so explodiert, dass es für kaum einen Mieter möglich ist, seine Wohnung zu erwerben. Eigenbedarfsklagen sind an der Tagesordnung, was einige Wegzüge aus dem Gebiet zur Folge hat.

Durch die enormen Mietsteigerungen haben die ursprünglichen Bewohner keine Möglichkeit bei der Veränderung des Wohnraumbedarfs innerhalb des Gebiets umzuziehen. Sie ziehen weg.

Und wie ist die Sozialstruktur?

Die heutige Sozialstruktur ist immer noch bunt, jedoch anders als früher. Auf den Wegzug ursprünglicher Mieter folgen häufig Neuvermietungen an zahlungskräftige EU-Ausländer oder US- Amerikaner, die gerne die hohen Mieten – mehr als zehn Euro pro Quadratmeter, nettokalt – zahlen, weil diese im Vergleich zu Paris oder London noch preiswert sind. Positiv ist der große Wohnungsbestand der Gewobag zu bewerten, dieser erlaubt, dass noch viele Haushalte auch 15 Jahre nach Abschluss der Sanierung hier leben.

Gabriele Klahr arbeitet seit Mitte der achtziger Jahre in der Berliner Mieterberatung. Die gesoplan/SPAS-Mieterberatung führt noch immer ausführliche Beratungen, auch für Bewohner im ehemaligen Kreuzberger Sanierungsgebiet Chamissoplatz, durch. Dort werden die Mieter des Bezirks zu Anträgen auf Wohnberechtigungsscheine (WBS), zu Wohngeld, Einkommensbescheinigungen nach § 9 WoFG, ALG II kostenlos beraten. Auch die Rechtsberatung ist kostenlos.

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