Riskante Pandemie-Maßnahme: Das Virus macht nicht am Schultor halt
Berlin will zeitnah den Präsenzunterricht wieder einführen. Vieles deutet jedoch auf ein starkes Infektionsgeschehen an Schulen hin.
Niemand verlangt von den Bildungsministerinnen und -ministern, dass sie sich die Entscheidung, Schulen zu schließen (oder nicht wieder zu öffnen), leicht machen sollen. Zu viel steht auf dem Spiel – von Defiziten im Lernstoff bis hin zu körperlichen und seelischen Folgen bei Kindern und existenziellen Problemen bei Familien und Alleinerziehenden aufgrund fehlender Betreuungsmöglichkeiten.
Richtig ist aber auch, dass die Entscheider nicht allein das Mantra des Rechts auf Bildung vor sich hinmurmelnd die aktuell immer noch und wieder steigenden Infektionszahlen ignorieren können. Ebensowenig können sie die händeringenden Warnungen von Virologen und Epidemiologen vor einer neuen, durch die britische Virusmutation drohenden Qualität der Pandemie in den Wind schießen. Doch eben das passiert.
Dem Vernehmen nach hat man sich zumindest in Berlin zum Zeitpunkt des Beschlusses, die Schulen nun doch ab kommenden Montag schrittweise zu öffnen, den aktuellen Stand der Wissenschaft nicht bewusst gemacht. Die infektiologische Expertise der Charité soll für die Senatssitzung am Mittwoch jedenfalls nicht eingeholt worden sein.
Dabei gibt es durchaus neue Entwicklungen, etwa zur seit Monaten umstrittenen Frage, ob Kinder in der Schule Covid-19 übertragen können. Eine systematische, repräsentative Studie an 240 Schulen in Österreich, geleitet vom Mikrobiologen Michael Wagner der Universität Wien, kommt zu dem Schluss: Ja.
„Im November saß in jeder dritten bis vierten Schulklasse ein infiziertes Kind, ohne von der Infektion zu wissen“, wird Michael Wagner vom „Spiegel“ zitiert. Die Untersuchung zeige, dass sich die Lernenden genauso häufig (1,42 Prozent der Getesteten) anstecken wie die Lehrenden. Wohlgemerkt: Grundschüler waren genauso betroffen wie ältere Jahrgänge.
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Doch sich selbst anstecken zu können, heißt noch nicht, dass man auch andere anstecken kann. Der Streit geht vor allem darum, ob diese Kinder, die kaum erkranken, daher meist nicht (oder zu spät) getestet und deswegen nicht als infiziert erkannt werden, im Schulsetting eine Gefahr für andere darstellen.
Schulen sind auch im Shutdown ein „nicht unerhebliches Risiko“
Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht, so wie auch sonst nicht immer klar ist, wo und wann sich jemand infiziert hat. Wagners Daten zeigen aber zumindest, dass die Schulen kein heiliger Ort sind, den das Virus aus mystischen Gründen meiden würde, sondern dass dort das gleiche Infektionsgeschehen herrscht wie außerhalb der Schulen.
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Von Ende September bis November hatten sich die Infektionszahlen in den Schulen mindestens verdreifacht – genau wie im Rest des Alpenlandes. Das bedeutet, sagt Wagner, dass geöffnete Schulen im Shutdown ein „nicht unerhebliches Risiko“ darstellen.
Anderes Land, anderes Schulsystem, aber gleiches Ergebnis: In Großbritannien, wo im November ebenfalls ein Lockdown mit geöffneten Schulen verhängt war, war die Altersgruppe mit den meisten Infizierten die der 13- bis 17jährigen.
Vor all dem könnte man vielleicht noch die Augen verschließen und irgendwie damit durchkommen, wenn da nicht die britische Virusmutation B.1.1.7 wäre, die den aktuellen Schätzungen zufolge mindestens 50 Prozent ansteckender ist – und zwar in allen Altersgruppen gleich.
Das lässt den Spielraum für politische Experimente drastisch schrumpfen. Denn der vergleichsweise harte Lockdown in England konnte eine exponentielle Verbreitung von B.1.1.7 offenbar nicht verhindern. Dass sie es auch schon nach Deutschland geschafft hat, ist klar, ungewiss ist nur, wie stark verbreitet sie bereits ist.
Wie Berlin vor diesem Hintergrund Schulen öffnen will, erschließt sich Experten wie Wagner nicht. Wenn die Infektionszahlen im Februar und März dann explodieren, wird man sich nicht darauf zurückziehen können, nicht gewarnt worden zu sein.