Mundschutzpflicht in der Hauptstadt: Das Versteckspiel mit der Maske gehört zu Berlin
Seit dieser Woche gilt in Berlin in Bus, Bahn und Einzelhandel die Maskenpflicht. Dabei ist das Verhüllen der Identität schon lange ein Teil der Kulturgeschichte der Stadt.
Ganz neu ist dieser Anblick nun nicht, viele Berliner tragen schon seit Wochen Mund- und Nasenschutz. Und die Geschichte der Maske geht natürlich eigentlich noch viel, viel weiter zurück. Der bislang älteste Maskenfund im Berliner Raum ist eine Hirschmaske aus immerhin der mittleren Steinzeit, ausgegraben im Wuhletal. Sie könnte zur Ausübung von Ritualen und Zeremonien gedient haben, in denen die Natur und ihre Geister angerufen wurden. Nun aber ist es Pflicht, Maske zu tragen – zumindest in Bus, Bahn und Einzelhandel. Die Pflicht ist neu.
Ein engerer Bezug zur Masken-Gegenwart lässt sich im Mittelalter ausmachen, der Hochzeit der Karnevalskultur. Ursprünglich war der Karneval die vorübergehende Legalisierung des Ausnahmezustands, ein Ventil der Gesellschaft und geduldeter Tabubruch: Nach dem Aufsetzen der Masken wurden alle allen mehr oder weniger gleich, zumindest im Ideal. Hierarchien und Stände wurden aufgehoben, hinter der Maske wurde man zum Schelm, wie der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin schreibt.
Der Schelm durfte aus der Normalität heraustreten - und "anderen die Maske" herunterreißen
Und dieser Schelm bekam eben durch das Austreten aus den gewohnten Verhältnissen die Möglichkeit, die „jeder Lage anhaftende Kehrseite und Lüge“ zu erkennen und das Recht, „anderen die Maske herunterzureißen, auf prinzipielle Weise zu schimpfen, das Privatleben mit all seinen intimsten Schlupfwinkeln der Öffentlichkeit preiszugeben.“ Anders als bei bachtinschen Romanfiguren, sollten wir uns wohl nicht darauf verlassen, augenblicklich tiefschürfende Erkenntnisse über die Gesellschaft zu gewinnen – Verschwörungstheorien haben bekanntlich gerade Konjunktur.
Außerdem kommt Erkenntnis immer erst hinterher, sagt Hegel. Man kann auch den heutigen Ausnahmezustand als eine Art Karneval denken, kleiner Trost für Kölner, die um den diesjährigen bangen. Der Tabubruch vollzieht sich in der Einschränkung von Freiheiten – und erwartungsgemäß kommen nun auch die Masken.
Wir alle tragen immer Masken – was für eine Plattitüde
Zu sagen, wir alle trügen sowieso immerzu Masken, ist eine alte Plattitüde. Ob am Arbeitsplatz, mit Freunden, Fremden oder Familie, für jeden Kontext haben wir Rollen parat, über die wir gar nicht nachdenken müssen. Weniger trivial wird die Aussage nur im Bezug zum Ideal der Authentizität, die man zum Beispiel an Künstlern schätzt.
Der Berliner Rapper Sido hat sich in seiner Anfangszeit nur mit verchromter Totenkopfmaske öffentlich gezeigt, bis er sie 2006 abnahm und für viele überraschend milde Gesichtszüge offenbarte.
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Wahlberliner David Bowie erfand für die Bühne gleich eine ganze Zweitidentität samt Biografie, eigenen Leiden und eigenem Stil. Aber war Ziggy Stardust deshalb weniger authentisch als, sagen wir, Bob Dylan, der immer für seine authentische Ausstrahlung gelobt wurde? Natürlich hatte auch Dylan seine Bühnen-Persona, wie jeder Mensch, der schon mal eine Bühne betreten hat. Nur war seine so gestaltet, dass das Publikum den Eindruck von Intimität gewann. Sie war versteckt, die von Ziggy Stardust dagegen offensichtlich – und damit vielleicht ehrlicher.
Es ist auch keineswegs Zufall, dass der Begriff „Person“ vom lateinischen „persona“ stammt, was eben einfach Maske bedeutet. Personare bedeutet wörtlich hindurchtönen und kommt vermutlich daher, dass römische Theatermasken oft einen Schalltrichter besaßen, der die Schauspielerstimme verstärkte.
Im Recht geht es bis heute um sogenannte juristische Personen – der Anspruch, irgendein wahres, verborgenes Ich hervorzubringen, wird so schon im Begriff verworfen. Man ist, was man darstellt, und nur das hat juristische Konsequenzen. Und was authentisch hinter der Darstellung steckt, können nicht einmal wir selbst genau sagen.
Wilde: "Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen"
Oder mit Oscar Wilde: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich spricht. Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen.“ Dass sich dieses eigentliche Ich hinter der Maske nicht ohne Weiteres hervorholen lässt, erklärt Philosophin Sarah Kofman damit, dass es auch nichts weiter ist, als eine sich immer weiter staffelnde Folge von Masken – nimmt man eine ab, erscheint die nächste, und immer so weiter.
Die bekanntesten Masken des ersten Weltkrieges, einem weiteren Ausnahmezustand, dürften die Gasmasken sein, die zum Schutz vor dem gefürchteten Senfgas getragen wurden und bis heute in Spielfilmen für Schrecken sorgen.
Der psychologische Effekt der Maskierung, sowohl auf den Träger wie den, der ihm begegnet, war schon archaischen Kriegern bekannt. Anders als bei Arturs Rittern handelte es sich keineswegs immer um Schutzmasken – die aus verschiedenen Kulturen bekannte Kriegsbemalung trug nur unwesentlich weniger zum Schutz der Träger bei, als die Stoffmasken vom Schwarzem Block am 1. Mai in Kreuzberg oder die High-Tech-Masken von Polizei-Spezialeinheiten und Militär.
In Ost-Berlin schützte eine Strumpfhose und Zellstoff gegen den imperialistischen Westen
Wer in Ost-Berlin zur Schule ging, erinnert sich vielleicht: Eine Strumpfhose und ein Päckchen Zellstoff sollten, zur Atemschutzmaske gefaltet, gegen den imperialistischen Westen schützen. Nicht nur gegen Westnahrung und Feindküsse, sondern natürlich gegen den Atomschlag. Zusätzlich wurde Kindern aufgetragen, sich im Ernstfall unter den Schultischen zu verstecken. Was natürlich nicht viel genützt hätte, womit wir wieder beim psychologischen Effekt wären.
Die Psychologie der Maskierung versetzt Menschen in die Lage, Dinge zu tun, die sie nicht tun könnten, wenn sie mit dem eigenen Gesicht dafür einstehen müssten. Von den exotisch anmutenden Federmasken auch im Berlin der goldenen Zwanziger, über die Masken in Bildern von Otto Dix zum aus Japan importieren Cosplay, Petplay und anderen Varianten erotischen Verkleidungsspiels, wie sie bis heute auf Berliner Sex-Partys auftauchen – Masken erlauben ihren Trägern, vorübergehend zu anderen zu werden.
[Spät dran? Hier gibt es Tipps, wie sie jetzt noch an Masken kommen - und hier zeigen wir mit Schnittmuster, wie's sie selbst eine nähen können.]
Oder aber, genau umgekehrt, aus dem Normenkorsett der Gesellschaft auszubrechen und hinter der Maske dem vermeintlich unverstellten Selbst zu begegnen. „Nicht die Tugend fordert man von uns, sondern nur ihre Maske“, hat der Marquis de Sade geschrieben. Ein gutes Beispiel dafür sind Comic-Superhelden, die im bürgerlichen Leben meist von ganz normalen Sorgen und Ängsten geplagte, traumatisierte Identifikationsfiguren für Leser und Kinogänger darstellen, hinter der Maske aber zur Hochform auflaufen.
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Aber zurück zu Sarah Kofman: In Sachen Authentizität nehmen uns die Masken nichts weg, wenn schon das authentische Selbst nichts als eine endlose Maskenkaskade ist. Oder anders gefragt: Wer genau ist man denn mit der Maske anderer als man selbst? Face-Filter zur Bearbeitung des eigenen Profilbildes, Make-up, das Bühnenkostüm oder die Guy-Fawkes-Maske der Anonymous- und Occupy-Bewegung, Hijab, Sonnenbrille und Pokerface: Masken sind eben auch Möglichkeiten der Selbstgestaltung – denn sie verbergen nicht bloß etwas, sie inszenieren es zugleich.
Mit der Zeit verliert der Anblick der Masken an Bedeutung
Lippenlesern erschweren die Schutzmasken zurzeit das Leben. Das bedeutet aber nicht, dass sie selbst nichts sagen. „Man kann nicht nicht kommunizieren“, lautet Paul Watzlawicks erstes Axiom, das auch die bereits in Fahrt gekommene Maskenmode spiegelt. Und weil sich Moden schnell abnutzen, kann man allen, denen die befremdlichen Masken im Stadtbild noch unangenehm aufstoßen, Entwarnung geben. Man gewöhnt sich schlicht daran, der Anblick der Masken verliert mit der Zeit an Bedeutung. Viele asiatische Länder haben es bereits vorgemacht.
Das Autorenkollektiv Tiqqun hat es so formuliert: „Die Komödie (der Ausnahmezustand) dauerte, solange sie dauerte, und endete in einer platten Maskerade“ – also mit Masken ohne Bedeutung und Tragik. Wie beim heutigen Karneval.