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Am Kottbusser Tor ist ein Obdachlosenlager entstanden. „Keiner nimmt hier Rücksicht“, sagt Sabrina Zimmermann.
© Robert Klages

„Hoffen, dass was Gutes dabei rauskommt“: Das sagen Obdachlose zu ihrer Zählung

Berlin will die Obdachlosen in der Stadt zählen. Verbände machen dagegen mobil. Doch was sagen die Betroffenen selbst?

Am Mittwoch will die Stadt Berlin ihre Obdachlosen zählen. Weil es bisher nur Schätzungen gibt, wie viele Menschen auf den Straßen leben. 3725 Freiwillige werden in Kleingruppen durch die Stadt ziehen und obdachlose Menschen erfassen. Organisiert hat diese „Nacht der Solidarität“ Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Hilfsangebote sollen künftig besser an die Bedürfnisse der Wohnungslosen und ihre wachsende Zahl angepasst werden, so das Ziel der Aktion.

Sabrina Zimmermann ist seit 18 Monaten ohne Wohnung. Sie lebt mit anderen Obdachlosen unter der U-Bahnbrücke am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Dort ist ein Vorsprung aus Beton, auf dem schlafen sie tagsüber, haben hier ihre Sachen. Die Nächte verbringt Zimmermann meistens in einer nahegelegenen Notunterkunft.

Was fehlt, sagt sie, sei ein Aufenthaltsort für den Tag. Sie würde gerne mal wieder einfach einen Tee trinken und dabei an einem Tisch sitzen, oder auf einer Couch fernsehen, sagt sie mit leiser Stimme und schaut unter ihrer Mütze hoch in den blauen Himmel.

Noch vor 18 Monaten habe sie das alles gehabt. Doch nachdem ihr Partner nach der Trennung ausgezogen war, habe sie die Wohnung nicht mehr halten können. „Frauen haben es besonders schwer auf der Straße", sagt sie. Am Kotti sei es hart, kaum jemand würde Rücksicht nehmen: „So tief bin ich noch nie gesunken.“ Sie habe in ihrem Leben eigentlich alles falsch gemacht, meint sie, besonders mit den Drogen.

Am Montag habe ihnen ein Mann Lebensmittel vorbeigebracht: Dosenessen, Teebeutel. Das sei gut, sie hätten sich sehr darüber gefreut, aber sie würden eine Küche benötigen: Alleine mit den Teebeuteln könnten sie ohne Wasserkocher und Strom nichts anfangen. Die Obdachlosenzählung findet Zimmermann gut, die Situation müsse sich dringend ändern, mehr Angebote und Anlaufstellen geschaffen werden: „Wir hoffen, dass was Gutes dabei rauskommt.“

Das Leben am Kottbusser Tor ist nicht leicht, sagt Sabrina Zimmermann, seit 18 Monaten obdachlos.
Das Leben am Kottbusser Tor ist nicht leicht, sagt Sabrina Zimmermann, seit 18 Monaten obdachlos.
© Robert Klages

Die „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ hingegen kritisiert die „Nacht der Solidarität“ und fordert „Wohnungen statt Zählungen“. Gezählt zu werden sei ein würdeloser Vorgang und würde die Situation nicht grundlegend verändern. "Die Zählung hat eine Alibi-Funktion, Tiere werden gezählt - Menschen muss geholfen werden“, schreibt die Selbstvertretung in einem Aufruf zu einer Kundgebung für Mittwoch von 18 bis 22 Uhr vor dem Roten Rathaus.

„Zählt nicht uns sondern eure Tage“

Zudem hat sich ein „Wohnungslosenparlament“ gegründet, welches zu einer Protestmahnwache aufruft. Der Verein und Kiezladen „Friedel54“, der 2017 nahe Hermannplatz zwangsgeräumt wurde, ruft zu Protesten gegen die Obdachlosenzählung auf und verteilt Flugblätter. „Zählt nicht uns sondern eure Tage“, steht darauf. Der Politik wird vorgeworfen, durch ihr Handeln Obdachlosigkeit herbeizuführen, da Wohnraum als Ware gehandelt wird.

Sozialsenatorin Breitenbach hatte im Tagesspiegel-Checkpoint auf die Kritik reagiert: „Wir brauchen endlich verlässliche Zahlen, wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben.“ Die Privatsphäre der Menschen werde respektiert, die Befragung sei freiwillig, die Orte, an denen die Menschen schlafen, würden anonym bleiben.

Die Zählung der Obdachlosen sie die Grundlage einer Wohnungsnotfallstatistik, die Wohnungsloseninitiativen seit vielen Jahren fordern würden. „Es geht eben nicht darum, obdachlose Menschen zu vertreiben, sondern mehr über ihre persönliche Situation zu erfahren, um die Hilfsangebote ihren Bedürfnissen und den neuen Erfordernissen anzupassen.“ Breitenbach teile die Forderung, dass ein Grundrecht auf Wohnraum in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte.

In Berlin gibt es, laut Breitenbach, aktuell mehr als 1.100 betreute Notübernachtungsplätze in den sozialen Einrichtungen der Kältehilfe. Etwa 200 dieser Plätze blieben jede Nacht frei.

„Obdachlosigkeit verschönert das Stadtbild“

Chris, 24, lebt seit rund fünf Jahren auf der Straße, derzeit vor einem Geldautomaten in Friedrichshain. „Obdachlosigkeit verschönert das Stadtbild, es ist Ausdruck von Freiheit“, sagt er. Aufgewachsen ist er im Saarland, habe dort Abitur gemacht und sich anschließend freiwillig dazu entschlossen, unter freien Himmel zu leben. Eine Wohnung wolle er gar nicht. "Die Welt ist rund, Zimmer sind eckig und kantig, das passt nicht.“

Er reise viel, aber im Winter sei es in Berlin am besten - auch, wegen der Notunterkünfte, die aber leider erst abends öffnen würden. Die Zählung findet er eigentlich gut. "Das deutet darauf hin, dass sich die Stadt Gedanken macht, wie sie helfen kann.“

Chris, 24 Jahren alt, lebt gerne unter freiem Himmel, sagt er.
Chris, 24 Jahren alt, lebt gerne unter freiem Himmel, sagt er.
© Robert Klages

Im Vergleich mit dem Leben in anderen Großstädten seien die Menschen in Berlin sehr solidarisch mit Obdachlosen, erzählt Chris. Die Polizei sei noch relativ human unterwegs, würde Obdachlose nicht sofort verscheuchen, Anwohner würden Matratzen auf die Straßen legen. Er würde sich wünschen, dass sich noch mehr Menschen zum Leben unter freiem Himmel entscheiden würden.

[Über die Situation von Obdachlosen und vieles mehr berichtet der Tagesspiegel auch fortlaufend in den Bezirksnewslettern. Einmal pro Woche, ganz unkompliziert und kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de]

Auf der Warschauer Brücke, die die Stadtteile Kreuzberg und Friedrichshain verbindet, sitzt ein Mann in seinem Rollstuhl, zwei Plastiktüten voll mit Pfandflaschen. Ihm fehlt ein Fuß. Er starrt auf den Boden, bewegt sich nicht, Passanten drängen sich an ihm vorbei, stoßen gegen den Rollstuhl. Auf der andern Seite der Brücke ein Einkaufszentrum, die East Side Mall.

„Ich hatte eine schöne Wohnung“

Der Mann im Rollstuhl schaut auf, ein bärtiges, vernarbtes Gesicht, regungslose Augen. Er möchte seinen Namen nicht nennen. Obdachlos sei er seit 1,5 Jahren. „Ich hatte eine schöne Wohnung“, sagt er langsam. „40 Quadratmeter mit Blick auf Kleingärten.“ Doch dann musste er in den Knast. Warum, will er nicht sagen. Im Rollstuhl sitzt er erst, als er wieder draußen war und einen einen Unfall hatte.

Dann hilft ihm ein Passant, schiebt ihn zum S-Bahnhof Warschauer Straße. Dort stehen an diesem Dienstagmorgen keine Aufzüge zur Verfügung, an dem Bahnhof wird gebaut. Zwei Männer tragen den Obdachlosen in seinem Rollstuhl die Treppen hinunter zur S-Bahn. Die Obdachlosen-Zählung sei ihm vollkommen egal, sagt er und zieht sich zum Mülleimer am Bahnsteig, auf der Suche nach Flaschen.

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