zum Hauptinhalt
Die Obdachlosen Juri (links) und "Ananas" in ihrem Camp vor dem Eingang zum S- und U-Bahnhof Lichtenberg.
© Robert Klages

Obdachlose in Berlin-Lichtenberg: Juri und Ananas - der Bahnhof ist ihr Zuhause

Vor dem S-Bahnhof Lichtenberg haben sich Obdachlose ein Camp eingerichtet. Anwohner beschweren sich, Sozialarbeiter fordern „Safe Places“.

Ein Mann vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) unterhält sich mit den Obdachlosen. So scheint es von Weitem jedenfalls. Er öffnet drei Sterni und verteilt sie, zündet sich eine Zigarette an, gibt den um ihn stehenden Männern auch eine, sie lachen. Vielleicht moderne Sozialarbeit? Doch der Mann ist nicht vom Roten Kreuz, er trägt nur ein T-Shirt der Hilfsorganisation. Er ist ebenfalls einer der Obdachlosen, die seit längerer Zeit unter dem Vordach vom S-Bahnhof Lichtenberg leben.

Sie haben sich eine Wohnung eingerichtet: Ein Regal mit Brot, ein Grill, Schränke mit Töpfen und Tassen: Die Küche. Mehrere Matratzen nebeneinander: das Schlafzimmer. Ein Sofa, Stühle um einen Tisch: Das Wohnzimmer für rund 30 Personen aus zahlreichen Ländern von Kirgisistan bis Schweden.

Es ist später Nachmittag. Eine junge Frau mit T-Shirt um den Kopf isst Pommes, ein älterer Mann eine Currywurst, andere schlafen oder wachen gerade auf, Hunde laufen herum. Die Beschwerden über die illegale Lagerstädte häufen sich: Anwohner beklagen Lärm, Müll und Gestank. Tausende Fahrgäste müssen täglich hier lang: zur Arbeit in die Innenstadt und abends wieder zurück. „Es ist einfach unangenehm zwei Mal pro Tag“, sagt ein älterer Mann. „Man weiß ja nie, wie die gerade drauf sind, wenn sie einem entgegenwanken.“ Er steige manchmal eine Station später aus und laufe nach Hause. Es sei zwar noch nie etwas passiert, aber er fühle sich unwohl. Tagsüber gehe es eigentlich noch, abends werde es aggressiver. Die Obdachlosen würden sich untereinander streiten, sehr laut und brutal, da wolle er nicht dazwischen geraten.

Andere Anwohner beschweren sich über die Hunde. Und die Obdachlosen würden überall hin urinieren. Diese haben ihr Lager direkt neben einer öffentlichen Toilette, die allerdings 50 Cent kostet pro Benutzung. Unweit des Bahnhofs ist auch der Tagestreff für Obdachlose. Eine junge Frau wollte dort gerade duschen, doch der Treff hat schon geschlossen. Nun will sie zum Frankfurter Tor fahren, dort gibt es eine andere Einrichtung, die länger geöffnet hat. Aber sie zögert, möchte nicht mit der U-Bahn fahren, hat Angst vor den Blicken und davor, beschimpft oder sogar verprügelt zu werden, wenn sie alleine ist. Hier unter dem Dach vor dem Bahnhof fühlt sie sich sicher.

[Die Situation der Obdachlosen in Lichtenberg und der Umgang damit ist auch immer wieder Thema in unserem Lichtenberg-Newsletter vom Tagesspiegel. Einmal pro Woche, ganz unkompliziert und kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de]

Dort sitzen auch „Ananas“ und seine zwei Ratten „Keine Ahnung“ und „Snowboard“, die ihm über die Schultern kriechen. „Ananas“ ist Österreicher und gerade zurück von einem Festival an der polnischen Grenze. Er habe sein Zuhause am Bahnhof Lichtenberg vermisst, erzählt er. „Und ich werde mein Zuhause verteidigen.“ Das würde doch jeder tun, sagt er, wenn Einbrecher kommen oder Leute, die einen verjagen wollen. Die Leute hier in Lichtenberg seien eigentlich immer nett und viele würden auch mal Sachen vorbeibringen oder sich unterhalten, man habe auch schon Schach gespielt. Aber andere seien aggressiv, wollten sie verjagen oder das Lager zerstören. „Ich verstehe nicht, warum uns die Leute nicht mögen“, sagt er. „Wir sind keine Assis. Wir wollen vor allem, dass uns die Stadt mal zuhört."

Das Obdachlosen-Lagen neben der City-Toilette am Bahnhof Lichtenberg.
Das Obdachlosen-Lagen neben der City-Toilette am Bahnhof Lichtenberg.
© Robert Klages

Neben „Ananas“ sitzt Juri, seit sieben Jahren obdachlos, seit Januar hier am Bahnhof. Da war es noch der „Kältebahnhof“: Obdachlose durften im Inneren übernachten. Im März wurde geräumt – doch viele sind nicht gegangen und blieben vor dem Bahnhof. Der Döner-Laden hat immer Bier und Essen. Gegenüber ist ein DRK-Familienzentrum. Und Sozialarbeiter der Karuna Sozialgenossenschaft sind täglich vor Ort, haben hier auch einen Standort ihrer Buslinie für Obdachlose eingerichtet. „Außerdem haben wir hier ein Dach, das ist selten“, meint Juri. Es habe was von einer Wohnung, mehr als einfach nur ein Zelt. „Der Bürgermeister soll uns sagen, wo wir hinkönnen, wir möchten eine Alternative haben“, fordert „Ananas“, eine seiner Ratten fällt ihm von der Schulter, er hebt sie auf. „Es gibt so viele leere Häuser und Flächen hier überall, warum können wir da nicht rein?“

"Safe Places" wie in New York

Lichtenbergs Bürgermeister Michael Grunst (Linke) will das Lager nicht räumen lassen. Aber er meint auch, dass es so nicht weitergehen kann. Es gab bereits ein Gespräch zwischen ihm und einem „Sprecher“ des Camps. Der Bezirk denkt über mehr Ordnungsamt-Präsenz nach und vielleicht ein Alkoholverbot. Karuna-Geschäftsführer Jörg Richert findet die Idee mit den leeren Flächen schon ganz gut. Das sei eine Möglichkeit, sagt er. Also ein kleines Gebiet für Obdachlose, wo diese bleiben dürfen und selbstverwaltet leben können. Richert ist gerade zurück von einer USA-Reise. In New York und San Francisco gibt es bereits „Safe Places“. Richert zeigt sich begeistert, wie gut das funktionieren würde. Die Obdachlosen empfangen dort neue Obdachlose und zeigen ihnen alles, erläutern die Regeln.

Entlang des Eingangs zum U-Bahnhof Lichtenberg haben sich die Obdachlosen ihr "Platten" aufgebaut.
Entlang des Eingangs zum U-Bahnhof Lichtenberg haben sich die Obdachlosen ihr "Platten" aufgebaut.
© Robert Klages

In den USA wechseln die Orte alle drei Monate. In Berlin könnte es ein permanenter Ort sein, meint Richert. In Friedrichshain-Kreuzberg liegt bereits ein Beschluss vor, einen solchen Ort zu schaffen, vermutlich mit „Tiny Houses“. Lichtenberg müsste dies erst noch politisch beschließen. Die von der Stadt Berlin finanzierten Sozialarbeiter von Karuna würden den Umzug der Obdachlosen vom Bahnhof Lichtenberg zum Safe Space begleiten und beim Aufbau helfen, bis sich die Bewohner selbst verwalten können und die Regeln einhalten. So soll Alkohol zum Beispiel nur im Zelt erlaubt sein und eine Nachtruhe vorgeschrieben werden. Orte dafür würde man schon finden, meint Richert, in New York würde man sie ja auch finden.

Zu Untätigkeit verurteilt

Er stellt sich auch vor, den „Safe Place“ mit Urban Gardening zu verbinden, damit sich Obdachlose und Anwohner kennenlernen können – dazu ein öffentliches Café vielleicht. „Wir denken zu viel über Wohnungen nach für die Obdachlosen, die wir nicht haben“, findet Richert. „Wir sollten mehr über Arbeit nachdenken, die wir haben.“ Die Obdachlosen seien zur Untätigkeit verurteilt, würden aber danach hungern, Aufgaben zu bekommen. Zuverdienste seien immer möglich, beispielsweise beim Urban Gardening. Karuna plant derzeit auch fahrende Kioske für Obdachlose: umgebaute Lastenräder, von denen aus Obdachlose Wasser verkaufen.

Das Bild von Obdachlosigkeit müsse neu gedacht werden, meint Richert, ebenso das von Sozialarbeit: Obdachlose würden nicht gerne nichts tun, sondern sich freuen, wenn sie etwas machen könnten. Und soziale Arbeit sei mehr als nur Wasser vorbeibringen und aufpassen – sondern Hilfe zur Selbsthilfe in die Selbstverwaltung.

„Ananas“ und Juri suchen unterdessen ihre Sachen zusammen – es sieht nach Regen aus. Sie sind froh, ein Dach zu haben, ein Zuhause – und sie würden helfen, einen Safe Place aufzubauen. Sie warten nur noch auf die Signale der Politiker, dass es losgehen kann. Solange sehen sie das Camp am Bahnhof als ihr Zuhause.

Zur Startseite