zum Hauptinhalt
Keine Maske, kein Abstand. Gerichte hatten im Vorfeld viele angemeldete Demos verboten, weil abzusehen sei, dass die Corona-Regeln nicht eingehalten werden.
© REUTERS/Christian Mang
Update

Was von den Massen geblieben ist: Das große Comeback der Querdenker in Berlin verpufft zunächst

Ein Jahr nach dem ersten Massenprotest fällt der Querdenker-Auflauf am Samstag kleiner aus als erwartet. Experten sehen die Bewegung aber noch nicht am Ende.

Am Nachmittag wird es am Rand des Nettelbeckplatzes in Wedding brenzlig. Ein bekannter Querdenker brüllt minutenlang auf Polizisten ein, weigert sich, seine Maske aufzusetzen, wirft den Beamten vor, Deutschland geradewegs in die Diktatur zu treiben. Die Polizisten bleiben ruhig, nehmen ihn nicht fest. Der Querdenker schreit weiter und will wissen, ob wohl bald auch auf Demonstranten geschossen werde wie damals in der DDR.

Die kurzzeitige Aufregung kann eines dennoch nicht überdecken: Der Auflauf der Querdenker fällt am ersten Tag des lange angekündigten Protestwochenendes deutlich kleiner aus als erwartet. Nur wenige hundert Anhänger hat die Bewegung mobilisiert, das große Comeback der Corona-Verharmloser bleibt zunächst aus. Jetzt hofft die Szene, wenigstens an diesem Sonntag noch Menschenmassen auf die Straße zu bringen. Schließlich soll die Bundesregierung gestürzt werden.

Noch am Vormittag geben sich die führenden Köpfe der Querdenker optimistisch, dass das Verbot der großen Kundgebung am Sonntag im Tiergarten vom Oberverwaltungsgericht gekippt wird – das Verbot einer anderen Demo bestätigt das OVG bereits am Nachmittag. Und am späten Samstagabend ist klar: Es bleibt auch beim Verbot der Großdemo mit 22.500 angemeldeten Teilnehmern.

Man werde trotzdem kommen, verkündet der Sinsheimer Verschwörungsideologe Bodo Schiffsmann schon vorher. Man werde sich im Tiergarten „mit Freunden treffen“, Musik machen und tanzen ...

Querdenken: Zuletzt nur mäßige bis desaströse Teilnehmerzahlen

Per Messengerdienst Telegram gibt Querdenken Tipps, wie anreisende Demonstranten die Polizei austricksen können. Unter anderem rät die Gruppe allen, die per Bus nach Berlin kommen, sich nicht im Tiergarten absetzen zu lassen. Dort werde einen die Polizei zurück Richtung Heimatstadt schicken. Besser: In sicherer Entfernung aussteigen und weiter zu Fuß. Außerdem werden die Anhänger gebeten, ihre Schilder und Trillerpfeifen zu verstecken, bis die Versammlungsorte erreicht sind.

[Lesen Sie die Ereignisse des Demo-Wochenendes nach und bleiben Sie auf dem Laufenden - mit unserem Live-Blog.]

Ein Erfolg am Sonntag ist den Verantwortlichen auch deshalb wichtig, weil die Querdenken-Kundgebungen zuletzt nur mäßige bis desaströse Teilnehmerzahlen hatten. Jedes weitere Scheitern würde den Eindruck verfestigen, die Bewegung habe sich überlebt.

Tiergarten und das Holocaustmahnmal mit Gittern abgesperrt

Experten gehen jedoch davon aus, dass Querdenken im Herbst, sollte die vierte Welle der Pandemie erneut strengere Maßnahmen erfordern, wieder Zulauf bekommt. Außerdem könnten sich die Verschwörungsgläubigen abseits von Corona Themenfelder erschließen – und etwa Maßnahmen gegen den Klimawandel als Freiheitsbeschränkungen anprangern.

[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Auswirkungen auf Ihren Bezirk: leute.tagesspiegel.de]

Am Samstagvormittag ist im Regierungsviertel zunächst kaum etwas von den Querdenkern zu sehen. Das liegt auch daran, dass die Polizei den Tiergarten und das Holocaustmahnmal weiträumig mit Metallgittern abgesperrt hat – offenbar eine Vorsichtsmaßnahme, da sich unter anderem zu Pfingsten ein nicht genehmigter Demo-Zug der Corona-Verharmloser im Tiergarten bildete.

Die Konkurrenz hält Querdenken für „gesteuerte Opposition“

Stunden später ziehen dann mehrere Autokorsos durch die Stadt, zu denen ebenfalls Querdenken aufgerufen hat. Einer startete vor dem Olympiastadion, ein anderer von einem Parkplatz in Hellersdorf. Die Aktion erzürnt allerdings eine Berliner Gruppe von Verschwörungsgläubigen, die selbst regelmäßig Autokorsos in der Stadt veranstalten.

"24 Stunden Angstmache" steht auf dem Wagen eines Autokorsos am Startpunkt in Heinersdorf.
"24 Stunden Angstmache" steht auf dem Wagen eines Autokorsos am Startpunkt in Heinersdorf.
© Christoph M. Kluge

Man selbst sei schließlich seit Januar in Berlin aktiv. Außerdem handle es sich bei Querdenken um „gesteuerte Opposition“, die Ballweg-Truppe sei also nicht wirklich gegen das „Merkel-Regime“ – im Gegensatz zu einem selbst. Die lokale Gruppe rief deshalb zu einem eigenen Korso durch Treptow-Köpenick auf.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Eigentlich war für Sonnabend auch ein großes Protestkonzert der Corona-Maßnahmen-Gegner geplant. Dieses wurde jedoch kurzfristig abgesagt. Bodo Schiffmann erklärt, einer der Künstler sei erkrankt, ein anderer unpässlich.

„Die Basis“: Nicht zur Wahl zugelassen, interner Machtkampf

Die Versammlung am Nachmittag auf dem Nettelbeckplatz hat die Querdenker-Partei „Die Basis“ organisiert – erst am Freitag hatte der Landeswahlausschuss entschieden, sie nicht zur Bundestagswahl zuzulassen. „Die Basis“ hat in allen Bezirken Ortsgruppen gegründet, intern tobt aktuell ein Machtkampf.

Eine Gruppe um die Verschwörungsideologen Reiner Fuellmich und Wolfgang Wodarg wirft Parteifreunden und Teilen des Bundesvorstands parteischädigendes Verhalten vor. Sie vernachlässigten den Kampf gegen die Corona-Maßnahmen, beschäftigten sich zu sehr mit anderen Themen.

In einem offenen Brief schreibt Fuellmich: „Es spielt kaum eine Rolle, ob diese unverbesserlichen Individuen allein zum Zwecke der Zersetzung und Destabilisierung in die Partei eingeschleust wurden oder ihre zerstörerische Wirkung aus Naivität entfalten.“ Das Profil der Partei dürfe nicht verwässert werden.

[Lesen Sie mehr: Die vielen Fehlschläge der „Querdenker“: So oft irren sich die Verschwörungsideologen]

Bei der Versammlung in Wedding bleiben die Vorwürfe unerwähnt. Stattdessen werden auf einer Bühne melancholische Lieder gesungen. Ein Redner versucht, die Unnötigkeit der Maskenpflicht anhand eines Märchens von Hans Christian Andersen zu belegen. Ein anderer weiß, weshalb es innerhalb der Bewegung vermehrt zu Streitigkeiten komme: Die Pharmaindustrie habe sogenannte „Zersetzungsagenten“ eingeschleust. Diese versuchten, die Protestgruppen von innen zu zerstören.

Wundermittel gegen Corona: "Blutplasmatherapie" aus Russland

Am Abend erklärt ein Redner, was wirklich gegen das Virus hilft: In Russland sei eine "Blutplasmatherapie" entwickelt worden, sagt der Mann. Diese Methode könne Corona problemlos heilen. Aber das würden die deutschen Massenmedien dem Volk verschweigen.

Danach sagt ein Redner, die Corona-Pandemie sei eine Krise des Kapitalismus. Aber die Linke in Deutschland protestiere nicht dagegen, sie sei Teil der "Plandemie" und beteilige sich an der Manipulation der Massen. Die beiden Männer gehören der verschwörungsideologischen Gruppierung "Freie Linke" an, die regelmäßig gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert.

Polizei zählt 60 Freiheitsbeschränkungen am Samstag

Am Brandenburger Tor setzt die Polizei einige Querdenker fest, um ihre Identität festzustellen. Zuvor hatten sie an einer unerlaubten Versammlung auf dem Platz des 18. März teilgenommen. Die wurde von den Einsatzkräften aufgelöst.

Einige der ehemaligen Teilnehmenden stehen nun noch im Kleingruppen auf dem Pariser Platz herum, auf der anderen Seite des Tores. Zwischen den Touristen fallen sie kaum auf. Die Einsatzkräfte sind weiterhin präsent, um erneute Versammlungen zu verhindern. Der erste Tag der Proteste verlief insgesamt jedoch weitgehend ruhig. Um kurz nach 20 Uhr bilanziert die Polizei 60 Freiheitsbeschränkungen für den gesamten Samstag.

Zur Startseite