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Erziehungsauftrag: Dirk Müller spricht mit vielen Menschen, wie hier in einem Berliner Pflegeheim, über Sterben und Tod.
© Thilo Rückeis

Sterbebegleitung: Damit der Abschied leichter fällt

Anlässlich der Berliner Hospizwoche: Ein Besuch beim Sterbebegleiter Dirk Müller. Er sagt: „Wir haben verlernt, mit dem Tod richtig umzugehen“ – und will mit tröstlichen Tipps die Menschen über das Sterben aufklären.

Es mag sein, dass der Tod der große Gleichmacher ist. Das Sterben ist es nicht. Die Art, wie wir am Ende gehen, ist sehr individuell. Dirk Müller, der als Sterbebegleiter den Tod schon hundertmal miterlebt hat, weiß das. Seit mehr als 20 Jahren engagiert sich der gelernte Alten- und Palliativpfleger in der Hospizbewegung: Er spendet Sterbenden Trost, die ohne ihn allein wären, steht Angehörigen bei, die bald einen Menschen verlieren werden und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, bildet Pflegekräfte weiter, die überfordert sind mit der Betreuung von Menschen an ihrem Lebensende, spricht mit Hausärzten, die mehr über die Möglichkeiten der modernen Palliativmedizin erfahren wollen.

Wir wollen genau darüber mit ihm sprechen und besuchen Dirk Müller in seinem Büro in der Neuköllner Hermannstraße, einem Gründerzeitbau mit Blick auf einen Friedhof. Hier, direkt unterm Dach eines Ärztehauses, befinden sich die Räumlichkeiten des Hospizdienstes, der vom Berliner Unionhilfswerk getragen wird. Müller leitet dessen Bereich Hospiz und Palliative Geriatrie. Hier pflegt man täglich einen sehr vertrauten Umgang mit dem Tod. Dazu gehört eine Beratungsstelle für Menschen, die Fragen haben zu Sterben, Tod oder Trauer. Hier finden zudem Seminare für Pflegekräfte statt und hier werden ehrenamtliche Sterbebegleiter geschult.

Richtige Fenster hat Müllers Büro nicht. Eine milchige Lichtkuppel lässt gefiltertes Tageslicht hinein, aber keinen Blick in den Himmel hinaus. Die hellen Kiefermöbel verströmen das Ambiente eines Erzieherinnen-Zimmers in einer Kita. Das passt irgendwie, denn Dirk Müller hat einen – selbst gewählten – Erziehungsauftrag: über das Sterben aufzuklären, damit es den Menschen leichter fällt und, mindestens ebenso wichtig, leichter gemacht wird. Er will das Wissen über den Tod zurückholen in die Gesellschaft.

Das Ideal für viele: zuhause sterben

Fragt man Menschen, wie sie sich den Tod wünschen, hört man oft dies: nach einem schönen langen Leben abends ins Bett gehen und morgens nicht mehr aufwachen. Dieser Wunsch wird tatsächlich auch manchmal erfüllt: Da bricht nachts der Kreislauf zusammen oder ein Schlaganfall kommt – das war’s. „Wenn man sich den Gesichtsausdruck der so Verstorbenen anschaut, dann hat man den Eindruck: Sie sind ohne Bedauern und Schmerzen gegangen.“ Ein anderes Ideal wird oft in alten Stichen oder Gemälden überliefert, aus Zeiten, als man noch meist zu Hause starb, nicht im Pflegeheim oder Krankenhaus: Ein Mensch spürt, dass das Ende naht, und versammelt um das Sterbebett Familie und Freunde. Gemeinsam erwarten sie das letzte Stündlein.

Und wenn es anbricht, ist es auch für die Umstehenden wahrnehmbar. Der Tod schleicht sich über die Haut an. Sie wird fahl, marmoriert, vor allem an Beinen und Armen, weil sich die Blutversorgung aus den Extremitäten zurückzieht. Hände und Füße fühlen sich kalt an. „Die Wangen wirken eingefallen“, erinnert sich Dirk Müller, der oft dabei war. „Zwischen Nase und Mund bildet sich ein blasses Dreieck, ein sicheres Zeichen, dass es bald vorbei ist.“

Bald ist relativ, denn das Sterben kann sich hinziehen. Das Herz bleibt ja nicht einfach plötzlich stehen, sondern läuft aus. Der Abstand zwischen den einzelnen Schlägen wird größer, der Atem flacher, setzt auch mal ganz aus. Schläfrigkeit bemächtigt sich des Sterbenden. Die Blicke gehen in die Ferne. Dirk Müller nennt das Bewusstseinseintrübungen. „Ich sage immer, die Menschen sind dann zwischen Himmel und Erde.“ Es geht aber auch umgekehrt. Sterbende Demenzpatienten zum Beispiel werden kurz vor ihrem Tod mitunter plötzlich wieder klarer.

Einfach geschehen lassen - wie geht das?

Erziehungsauftrag: Dirk Müller spricht mit vielen Menschen, wie hier in einem Berliner Pflegeheim, über Sterben und Tod.
Erziehungsauftrag: Dirk Müller spricht mit vielen Menschen, wie hier in einem Berliner Pflegeheim, über Sterben und Tod.
© Thilo Rückeis

Schön aber ist Sterben nicht, auch wenn es ein „gutes Sterben“ ist. Besonders die Rasselatmung kann die am Sterbebett wachenden Angehörigen ängstigen. „Weil die Kraft nicht mehr ausreicht, Flüssigkeit oder Schleim in der Luftröhre abzuhusten, entstehen diese unnatürlichen Geräusche, die danach klingen, als ob der Sterbende Qualen leidet“, sagt Müller. Manche wollen das Sekret mit Schläuchen absaugen. Doch ratsam ist das nicht. „Das macht es für die Sterbenden unangenehm, es tut weh oder löst Würgereflexe aus.“ Das Loslassen erleichtert das ganz gewiss nicht.

Und auch das gehört zur Wahrheit über das „gute Sterben“: Der Tod hat einen Geruch, manchmal den nach Urin oder Kot, weil der Sterbende es nicht mehr halten kann. Doch auch das ist ebenso wie die rasselnde Atmung eher für die Umgebung eine Belastung, weniger für den Sterbenden selbst. Der Rat des Sterbebegleiters: „All das ist normal und nicht bedrohlich. Einfach geschehen lassen!“

Einfach geschehen lassen – leicht gesagt. Aber wie geht das? Indem man erstens akzeptiert, dass der Angehörige, der Freund sterben muss. Und zweitens, dass man ihn fragt: Wie stellst du dir dein Ende vor? Was können wir dafür tun, dass es gut wird? Dirk Müller stellt diese Frage sehr oft und bekommt sehr unterschiedliche Antworten. „Manche wollen, dass bis zum Schluss alles medizinisch Mögliche getan wird, damit sie noch nicht gehen müssen.“ Das aber seien die wenigsten. „Den meisten, die den Tod spüren, sollte man nicht noch irgendeine Behandlung aufquatschen. Das wollen die gar nicht. Sie sagen, na wenn es Gottes Wille ist, dass es gut ist, dann ist es gut.“

Müller fragt: Was können wir dann tun, dass dir das Gehen leichter fällt? Die Antwort: Ich möchte ohne Qualen sterben! Dann hat Dirk Müller eine tröstliche Erkenntnis: Das Sterben ohne Qual gibt es tatsächlich, denn Palliativmedizin und -pflege haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht: Schmerzen halten Morphine in Schach, ebenso wie eine mögliche Atemnot. Eine konsequente Mundpflege lässt kein Durstgefühl aufkommen.

Nehmen Sie sich Zeit für den Abschied

Neben dem medizinisch-pflegerischen Know-how gibt es so einiges, was auch Laien für den Sterbenden tun können. Dirk Müller gibt ein paar praktische Tipps: Der Mensch soll gut liegen, nicht frieren oder schwitzen und halbwegs gut atmen können. „Also bitte nicht mit Kissen und Decken zupacken!“ Ebenso wichtig ist das Atmosphärische: Liebt er Sonnenlicht, öffnen Sie Gardinen. Spielen Sie die Lieblingsmusik des Sterbenden, wenn er Musik mag, summen Sie ihm sein Lieblingslied ins Ohr, sprechen Sie Gebete, wenn er sie gern hört.

Und ist es vollbracht, dann nehmen Sie sich Zeit für den Abschied, sagt Dirk Müller. „Die meisten Menschen rufen dann sofort den Bestatter, die sind ja 24 Stunden am Tag erreichbar und holen den Leichnam binnen 30 Minuten ab.“ Doch eigentlich heißt die Obertugend: Ruhe bewahren, Zeit lassen! „Wenn ich dabei bin, dann sorge ich dafür, dass wir uns alle noch mal ans Totenbett setzen, eine Kerze anzünden und uns Zeit nehmen für den Abschied.“ Denn erst dann fällt so manchem etwas auf, was wichtig ist, um es zu verarbeiten: „Schauen Sie doch mal, jetzt sieht er ganz friedlich aus. Ist doch so, als ob er schläft.“

So wünschen sich wohl die meisten ihren Tod. Zwei Drittel wollen zu Hause sterben, zeigt eine Umfrage des Hospizverbandes. 18 Prozent in einem Hospiz. Die Realität aber sieht anders aus: Laut einer Untersuchung der Bertelsmann- Stiftung sterben sieben von zehn Menschen in einem Krankenhaus oder Pflegeheim. Zu Hause sind es 23 Prozent und in einem Hospiz oder auf einer Palliativstation nur sechs Prozent. Stirbt also die Mehrheit in Deutschland unter Qualen am falschen Ort?

„Der Sterbeort sagt noch nichts über die Sterbequalität“, ist Dirk Müller überzeugt. Das scheinbare Ideal, zu Hause sterben zu dürfen, kann sich als eine Täuschung erweisen. „Auch in den eigenen vier Wänden kann man entwürdigt sterben, unbeachtet, vor dem Fernseher geparkt – das erleben wir gar nicht so selten.“ In einem gut geführten Krankenhaus oder Pflegeheim kann man andererseits gut sterben. „Jede Pflegekraft und jeder Arzt muss die Ausbildung haben, das zu ermöglichen – und ebenso die Zeit, dabei in Ruhe begleiten zu dürfen.“

Dirk Müller erlebt immer wieder, wie viel beim Sterben noch schiefläuft

Erziehungsauftrag: Dirk Müller spricht mit vielen Menschen, wie hier in einem Berliner Pflegeheim, über Sterben und Tod.
Erziehungsauftrag: Dirk Müller spricht mit vielen Menschen, wie hier in einem Berliner Pflegeheim, über Sterben und Tod.
© Thilo Rückeis

An diesem Punkt redet sich Müller etwas in Rage. Immer wieder fallen die Worte „absurd“, „sprachlos“, „erschütternd“, „unglaublich“. Weil er immer wieder erlebt, wie viel da noch schiefläuft und alle Beteiligten, auch die Mitarbeiter, darunter leiden. Pflegeheime würden oft denken, sie seien kein Ort zum Sterben. „Da werden Menschen, die dem Tode nah sind, noch in die Beschäftigungstherapie geschleppt, weil sie jetzt damit dran sind oder unter die Dusche gesetzt, weil der Tagesplan das nun mal vorsieht.“ Oder eine in der Nachtschicht überlastete Pflegekraft ruft noch schnell den Rettungswagen, um den Sterbenden in die Klinik verfrachten zu lassen. Und dort messen manche Ärzte ihr medizinisches Können daran, ob es ihnen gelingt, einen Menschen aus dem Sterbeprozess mit einer Reanimation zurück ins Leben zu zwingen.

Aber die Rufe von Müller und seinen Kolleginnen und Kollegen der Hospizbewegung ist, werden immer öfter gehört. Es gibt mittlerweile mehr Ärzte, die gelassener damit umgehen, dass ihr Patient sich nun auf dem letzten Weg befindet und ihm diesen Prozess erleichtern. Es gibt mehr Pflegekräfte, die dafür sorgen, dass die Atmosphäre um das Sterbebett herum Geborgenheit vermittelt, um das Loslassen zu erleichtern. Und es melden sich immer mehr ehrenamtliche Sterbebegleiter bei den Hospizdiensten oder in den Heimen, die anderen Menschen auf ihrem letzten Weg beistehen wollen.

Die Welt auf gutem Wege verlassen

Aber kann man das überhaupt, das Sterben leichtmachen? Es klingt irgendwie schräg, als wäre es eine Matheprüfung, für die man Nachhilfe bekommt. Aber was wäre die Alternative? Am Leben festklammern um jeden Preis der Intensivmedizin, sich quälen in der sterilen Abwaschbarkeit eines Patientenzimmers, nutzlose weitere Tage erringen, gar Wochen ohne Bewusstsein? „Das geschieht, wenn man sich nicht vorher kümmert und den Patientenwillen nicht regelt“, sagt Müller. Jeder sollte sich klar sein darüber, wie er in der letzten Lebensphase medizinisch versorgt werden will und was lebenserhaltend getan werden soll. „Die Themen Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gehören an jeden Kaffeetisch, wenn auch nicht an jedem Sonntag.“

Dirk Müller meint es sehr ernst mit seinem Erziehungsauftrag, das Wissen um den Tod in die Gesellschaft zurückzubringen. Zeit also für eine letzte Frage: Wie kann man sich selbst jenseits von Dokumenten und Verfügungen auf das Sterben richtig vorbereiten? „Perfekt gelingt das wohl keinem. Aber es gibt ein paar Tipps, die dabei helfen: Vermeiden Sie, dass Sie am Ende des Lebens über verpasste Gelegenheiten nachgrübeln. Leben Sie so, dass am Ende keine Reue aufkommt. Mal die Reise machen, die man schon immer mal machen wollte, ein gutes Buch lesen, innerlich dankbar zu sein, dass wir unter so luxuriösen Umständen leben können. Und seien Sie für ihre Nächsten da, auf dass der Nächste für Sie da ist, wenn es soweit ist.“ Die das beherzigen, sagt er, haben gute Chancen, diese Welt eines Tages auf gutem Weg verlassen zu können.

Um die Arbeit der Hospize in Berlin bekannter zu machen, veranstaltet der Hospiz- und Palliativverband Berlin vom 23. bis 30. September zum 21. mal die Berliner Hospizwoche. Auf dem Programm stehen Vorträge etwa zu Patientenverfügungen oder dem Thema „Worauf es am Lebensende ankommt“, Theater- und Filmaufführungen, Puppenspiele und Diskussionsabende. Außerdem können zahlreiche Hospize als Tag der offenen Tür besichtigt werden. Das komplette Programm unter www.hospizwoche.de

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