Sterbefasten: Ein selbstbestimmtes Ende ohne Qual
Nicht mehr zu essen und zu trinken, kann eine selbstbestimmte Art des Sterbens sein. Doch das erfordert eine gute Begleitung.
„Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen, die Jugendstunden sind, wie lang, wie lang verflossen, April und Mai und Julius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.“ Dem alten Menschen, der in diesen Hölderlin-Versen zu Wort kommt, hat das Leben offensichtlich geschmeckt. Doch nun wirkt er oder sie „lebenssatt“. Möglicherweise wegen der Schmerzen, Einschränkungen und Beschwerlichkeiten, die eine Krankheit und das Alter mit sich bringen.
13 Tage nach ihrem Entschluss, von nun an nichts mehr zu essen und zu trinken, ist eine hoch betagte Dame gestorben. Jetzt, im Abstand von vier Jahren, schreibt ihre Tochter über diese letzte Zeit im Leben ihrer Mutter („Sterbefasten. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Eine Fallbeschreibung“, Mabuse 2016). Berichtet über einen letzten eigenständigen Plan, über die emotionalen Turbulenzen, in die er die Angehörigen stürzte, über die Willensstärke, die er erforderte, und über einen letztlich ganz friedlichen Tod.
Die Autorin Christiane zur Nieden, Geisteswissenschaftlerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Ehefrau eines Allgemeinarztes und Palliativmediziners und seit Jahrzehnten als Sterbe- und Trauerbegleiterin tätig, will Menschen, die sich für diese Art des Sterbens entscheiden, aber auch deren Angehörigen, die Angst nehmen. Sie tut es, indem sie den sehr persönlichen Bericht über die letzten zwei Wochen im Leben ihrer Mutter mit sachlichen Informationen über die Etappen dieses Weges anreichert.
Hochbetagte essen ohnehin wenig und haben wenig Durst
Gesunden, die mitten im Leben stehen, mag der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, von Fachleuten mit FVNF abgekürzt, brutal erscheinen. Assoziationen mit Hungerstreikenden, die das Fasten als Druckmittel einsetzen, kommen auf, vor allem aber die quälende Vorstellung, durstig zu sein und nicht trinken zu dürfen. Zur Nieden macht jedoch deutlich, dass es unangemessen wäre, angesichts des Entschlusses ihrer Mutter in Kategorien wie „Verhungern“ oder „Verdursten“ zu denken. Und das nicht allein, weil die Mutter freiwillig auf Speisen und Getränke verzichtet. In der letzten Phase ihres Lebens essen Hochbetagte ohnehin oft wenig und haben deutlich weniger Durst. Schließlich kommt die eigentliche Sterbephase der letzten Tage und Stunden, „in der Hunger so gut wie nie vorhanden ist und Durst in der Regel nur bei unzureichender Mundpflege entsteht“, erläutert der Schweizer Palliativmediziner Domenico Borasio in seinem Buch „Selbstbestimmt sterben“ (C.H.Beck, 2014). Sterbenden womöglich noch Flüssigkeit per Infusion zuzuführen, belaste ihren Organismus unnötig.
Der Entschluss zum FVNF fällt allerdings schon Tage bis Wochen früher, und zur Nieden zeigt, dass der Prozess von Belastungen nicht frei ist. „Trink das nächste Glas Wasser mit Genuss, ich habe es zu oft ohne Achtsamkeit getrunken“, sagt die Mutter an einem der ersten Tage. Es klingt sehnsüchtig. Umso wichtiger sind die kleinen, aber häufigen, und durch professionelle Tipps unterfütterten Liebesdienste bei der Mundpflege: „Klein zerstoßenes Eis, auf einem kleinen Löffel vorsichtig auf die trockene Zunge gelegt, fördert ein Lächeln auf das Gesicht meiner Mutter.“
Das Gute ist: Der Entschluss kann revidiert werden
Schon wegen der zunehmenden Schwäche brauchen Menschen, die diesen Weg gehen wollen, Unterstützung und Begleitung. Von Angehörigen, aber auch von Ärzten und Pflegekräften. Sie sind meist viele Tage bei klarem Bewusstsein, können Dinge regeln und Abschied nehmen. Die Angehörigen können ihnen zudem immer wieder nahelegen, es sich anders zu überlegen, doch wieder ein Glas zu trinken, einen Happen zu essen. Das Gute an dem freiwilligen Verzicht ist ja: Der Entschluss kann, zumindest zu Beginn, revidiert werden. Beim Suizid ist das sonst praktisch immer anders.
Doch ist es überhaupt eine Form der Selbsttötung? Ärzte und Pflegekräfte könnte diese Frage beunruhigen, weil seit Ende 2015 der Paragraf 217 des Strafgesetzbuches die „geschäftsmäßige“ Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt. Ihre Mutter habe durch ihren Verzicht zwar „den Sterbeprozess in suizidaler Absicht eingeläutet“, schreibt Christiane zur Nieden. Das Sterben selbst habe sich körperlich aber nicht von natürlichen Sterbeprozessen unterschieden.
Sterbefasten ist weder Suizid noch ein Abbruch der Therapie
Der Philosoph Dieter Birnbacher, Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, macht klar, dass palliativmedizinischer Beistand beim FVNF nicht nur unproblematisch, sondern sogar geboten ist. Wenn er das Sterbefasten in der Zeitschrift „Humanes Leben, Humanes Sterben“ einen „passiven Suizid“ nennt, dann möchte er eher auf mögliche Kollisionen mit dem religiösen Selbsttötungs-Verbot hinweisen.
Jürgen Bickhardt vom Palliative Care Team Fürth gGmbH und Roland Martin Hanke wiederum beschreiben den FVNF in einem Beitrag für das „Deutsche Ärzteblatt“ als eine „ganz eigene Handlungsweise“, die weder mit dem Abbruch einer ärztlichen Behandlung noch mit dem Suizid gleichgesetzt werden dürfe. Am Ende stehe ein natürlicher Tod, ohne Einwirkung von außen. Das sollte ihrer Ansicht nach auch auf dem Totenschein angekreuzt werden. Als Diagnose sei dann etwa „akutes Nierenversagen“ in Betracht zu ziehen.
Das Sterbefasten bringe niemanden in die Bredouille und werde juristisch nicht als Beihilfe zum Suizid gewertet, beruhigte auch der Medizinrechtler Oliver Tolmein Ärzte in der „Zeitschrift für Palliativmedizin“: „Es ist keinesfalls geboten, einen Menschen, der sich zu Tode hungern will, gegen seinen Willen zu ernähren. Solange der oder die Betroffene aus freiem Willen handelt.“ Christiane zur Nieden rät dazu, eine Patientenverfügung abzufassen und einer Person des Vertrauens eine Vorsorgevollmacht zu erteilen. Zudem sollte von einem Arzt geklärt sein, dass der Sterbewillige seine Entscheidung freiverantwortlich getroffen hat: Nur das sichere die Menschen in seiner Umgebung rechtlich ab, wenn sie weiter in seinem Sinn handeln, nachdem er das Bewusstsein verloren hat.
Der Mensch wird schläfrig, verliert schließlich das Bewusstsein
Tatsächlich kommt es, wenn dem Körper keine Flüssigkeit mehr zugeführt wird, zum Anstieg von Harnstoff im Blut, die Nieren schränken ihre Funktion ein, der Mensch wird schläfrig, verliert schließlich das Bewusstsein. In einer Studie, die im Jahr 2003 im „New England Journal of Medicine“ erschien, schätzten über die Hälfte der befragten Pflegekräfte in Hospizen diese Todesform auf einer Skala von null (sehr qualvoll) bis neun (sehr friedlich) mit acht bis neun ein, praktisch keiner der professionellen Betreuer gab ihr weniger als fünf Punkte.
Über ein Drittel der Hospiz-Pflegekräfte berichteten, sie hätten mindestens einmal erlebt, dass ein Mensch seinen Tod durch FVNF herbeiführte. Als Borasio dieselbe Frage auf einem deutschen Pflegekongress stellte, hob mehr als die Hälfte der Teilnehmer die Hand. In ihrem Buch „Ausweg am Lebensende. Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken“ (Reinhardt-Verlag, 2012) wiederum berichten der niederländische Psychiater Boudewijn Chabot und der deutsche Neurobiologe Christian Walther, dass es in den Niederlanden in jedem Jahr rund 2800 Menschen tun. Sicher ist die Dunkelziffer hoch, sind doch die Grenzen zur „ganz normalen“ Ablehnung von Essen und Trinken durch Sterbende fließend.
Und „Sterbefasten“ ist keine neuartige Idee. Schon der griechische Philosoph Demokrit soll sich im gesegneten Alter von 109 Jahren dazu entschlossen haben, nichts mehr zu essen und zu trinken, wie Birnbacher mit Hinweis auf antike Quellen berichtet. Auf Bitten seiner Schwester habe er ausnahmsweise noch einmal einen Löffel Honig zu sich genommen, so heißt es. Er wollte im Kreis seiner Familie noch einen Feiertag begehen.