Gemeinschaftsbüros in Berlin: Coworking-Space: Eine Idee reist von Friedrichshain nach Bollywood
Mumbais erster unabhängiger Kunstraum erinnert an Berliner Coworking-Spaces und Kulturzentren. Dahinter steckt eine Deutsche.
Über der Pforte des Bungalows #75 hängt eine alte Macbook-Tastatur, drinnen werden Möbel gerückt. Doch gearbeitet wird nicht nur im Inneren des Coworking-Spaces. Im Hof sitzen sie beschäftigt an ihren Laptops. Darüber ragen die Kronen der letzten uralten Bäume, wie es sie in der 21-Millionen-Stadt Mumbai im Westen Indiens nur noch selten gibt.
Michaela Strobel organisiert den Umbau im Inneren des Bungalows. Sonst leitet die 30-Jährige Filmcrews an. Doch an diesem Abend findet ein Konzert in den Harkat Studios statt. Die deutsche Filmemacherin und ihr Mann Karan Talwar sind Teil des fünfköpfigen Videoproduktionskollektivs Harkat. Sie haben sich in Andheri West, einem Vorort der Finanzmetropole, niedergelassen, die auch als Heimat der milliardenschweren Bollywood-Filmindustrie bekannt ist.
Michaela Strobel kam als Backpackerin nach Indien
Vor sieben Jahren kam Michaela Strobel als Backpackerin nach Indien. Damals pendelte sie noch zwischen Friedrichshain und Stockholm, wo sie Medien und Kommunikation studierte. Indien hatte ihr gefallen und so suchte sie nach einem Grund, zurückzukehren. Den fand sie in ihrer Masterarbeit. In Dörfern und Slums dokumentierte sie die Arbeit einer NGO, die Anwohnern beibrachte, Filme zu drehen. Sie sollten ermutigt werden, ihre Geschichten in Videos zu verarbeiten. „Das hat meine Begeisterung für Film verstärkt“, sagt Strobel.
Nach Stationen bei deutschen Fernsehsendern bekam sie 2014 erstmals die Möglichkeit, an einem Bollywood-Filmset mitzuarbeiten. Es ging um ein Behind-the Scenes-Feature für das Liebesdrama „Fitoor“, also eine Kurzdokumentation über die Dreharbeiten – das erste Projekt von Harkat. Dieses Genre ist zur Spezialität der kleinen Produktionsfirma geworden, solche Features sind ein wichtiger Teil der Vermarktung in Bollywood.
Inmitten der Großstadt und ihrer schillernden Filmindustrie vermisste Michaela Strobel jedoch schnell die Kunst, die Experimentierfreudigkeit. „In Berlin ist das so alltäglich wie der Bäcker um die Ecke.“ Mumbai verfügt zwar über unzählige Kinos in Einkaufszentren, ein paar Museen und Galerien, doch kleine und unabhängige Projekte haben es schwer. Das wollte Strobel ändern. „Die Bereitschaft, drauflos zu arbeiten, ist in Mumbai genauso groß wie der Enthusiasmus“, sagt die Filmemacherin. Harkat soll auch Treffpunkt für Mumbais Kreative sein.
Anlaufstelle für Kreative aus dem In- und Ausland
„Angefangen haben wir 2014 in einer kleinen Wohnung“, erzählt Karan Talwar. Daraus entstand ein Coworking-Space, der zugleich Agentur und Projektraum ist. Harkat ist eine Anlaufstelle für Künstler aus dem In- und Ausland, auch Anwohner sind am Wochenende willkommen. Dabei haben Strobel und ihre Mitstreiter festgestellt, dass Coworking die perfekte Umgebung ist, um das Beste aus Indien und Deutschland zusammenzubringen. Aus Deutschland hat Strobel einen bewussteren Umgang mit Energie, aber auch das Feierabendbier mitgebracht, sagt sie. Vor ihrer Genauigkeit, was das Einhalten von Deadlines und das Einfordern von Zahlungen angeht, hätten die Auftraggeber zwar manchmal Angst, aber auch Respekt.
Dafür sei das Arbeiten hier manchmal leichter. Während deutsche Kunden auf persönlichen Treffen bestünden, sei das für Inder nicht ganz so wichtig. Und die Branche in Mumbai sei schneller und jünger, auch beim Thema Digitalisierung. „Alles, was ich über digitales Marketing und Lebenskultur weiß, habe ich in den letzten zwei Jahren hier gelernt.“
In Indien hat Michaela Strobel mit Harkat bereits an über zehn Filmen mitgewirkt. „Die Branche ist nicht riesig, nach drei Jahren kennt man sich. Dadurch, dass wir ständig Teams am Set haben, bekommen wir mit, was los ist.“ Die meisten Aufträge bekommt das Harkat-Team dabei über Kontakte. Und die kann man auch im Harkat-Bungalow knüpfen. Wer zum Coworking vorbeikommen möchte, ist mit knapp vier Euro am Tag inklusive Tee und Kaffee dabei. Das ist für Freelancer aus Film und Theater, Künstler und Autoren in der Megacity ein bezahlbarer Preis. In den Studios gibt es einen Ausstattungsfundus, der von Mainzelmännchen über eine Kofferschreibmaschinebis zu einer Rettungsweste der British Airways reicht. Dazwischen huscht Hofkatze Albus umher. „Die Sofas, Bücher und der Hof schaffen eine intime Atmosphäre. Etwas, das ich aus Berlin und Leipzig kenne“, sagt die Studentin Ann-Sophie, die als Praktikantin am Goethe-Institut nach Mumbai kam.
Aufträge von Disney, Fox und Netflix
Derzeit sind etwa zehn Filmer, Cutter, Produzenten und Assistenten bei Harkat beschäftigt. Es gab Aufträge von indischen Produktionsfirmen, aber auch von Disney, Fox oder Netflix. So wird der Harkat-Projektraum kofinanziert, denn auch Mumbai kämpft mit Gentrifizierung und steigenden Mietpreisen. Immer mehr junge Kreative ziehen her. Auch, wenn sie sich die Preise kaum leisten können.
Doch Harkat hat für vieles Platz, nicht nur fürs Filmemachen. Seit der Eröffnung vor zwei Jahren gab es mehr als 150 Veranstaltungen, darunter eine queere Reihe, die Tanz und Poetry-Slam vereint. "Wir versuchen, einen sicheren Raum für alle zu schaffen", sagt Karan Talwar. "Trotz all der Gruppenarbeit, zu der man im deutschen Bildungssystem gezwungen wird, habe ich erst in Indien gelernt, was Zusammenarbeit wirklich ist", sagt seine Frau. Sie hätte übrigens nie gedacht, dass sie mal in Mumbai leben würde. „Ich fand Berlin schon zu groß“, sagt Strobel und lacht. Trotzdem, ein- bis zweimal im Jahr fliegt sie nach Europa, in Berlin leben Freunde und ihr Bruder.
Im Mai reiste das Paar gemeinsam zum Filmfest nach Cannes und dann weiter nach Berlin, um seine Hochzeit nachzufeiern. Bei der Gelegenheit haben sich Strobel und Talwar mit hiesigen Analogfilm-Experten ausgetauscht – die Harkat Studios sollen eine Dunkelkammer bekommen. Zum Zeitpunkt ihrer Berlinreise war in Indien übrigens gerade Regenzeit. Da ist man gerne mal woanders.
Mehr über Harkat: www.harkat.in
Natalie Mayroth