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Auf die andere Seite. Gerlinde Breithaupt, Theologin, zog aus Westdeutschland in den Bezirk Halle.
© Nico Schmidt

Auswandern in die DDR: Bundesrepublikflucht aus Liebe

Warum migrierten Menschen in die DDR? Zum Beispiel für die Liebe, sagt eine ehemalige Heidelbergerin. Ihre Geschichte ist Teil einer Ausstellung.

Als der Korken knallt, weiß Gerlinde Breithaupt, ich bin angekommen. Vor ihr liegt, worauf sie jahrelang gewartet hat: ein Pass für die DDR. Ein Funktionär reicht ihr die Verfassung. Am Abend liegt sie im Bett neben dem Mann, der ihr Mann werden soll. Für ihn verließ sie die Bundesrepublik, jetzt ist sie da.

Es gibt diese Geschichte von der Familie, die mit einer Seilbahn nach Kreuzberg fuhr, oder dem Mann, der über den Grenzzaun sprang. Erzählungen von Menschen, die aus der DDR in die BRD flohen. Und es gibt Geschichten wie die von Breithaupt. Von Menschen, die aus der Bundesrepublik in die DDR migrierten.

Sechs Wochen in DDR-Aufnahmelager festgehalten

Gesammelt haben sie zwei Kuratoren in der Ausstellung "Wechselseitig", die nun im früheren Notaufnahmelager – heute Erinnerungsstätte – Marienfelde zu sehen und bis April 2017 geöffnet ist (Marienfelder Allee 66/80, geöffnet von Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr). Auf Stellwänden sind Biografien abgedruckt. Etwa die von Frauke Naumann, die sich verliebte und sechs Wochen in einem DDR-Aufnahmelager festgehalten wurde, oder die von Pierre Boom, der Pierre Guillaume hieß, als er seinen Vater Günter nach dessen Enttarnung zurückließ und ihn die Stasi begrüßte.

Seit die Mauer Deutschland in Westen und Osten trennte, gaben Jahr für Jahr durchschnittlich 2000 Menschen ihren bundesdeutschen Pass ab und beantragten DDR-Papiere. Die DDR-Führung präsentierte stolz jene, die aus politischen Gründen flüchteten. Gerlinde Breithaupt präsentierte sie nicht.

Studentengottesdienst im Wohnwagen

Die setzt sich im Herbst 1977 in einen Zug, der sie von Heidelberg nach Erfurt bringt. Abends sitzt sie dort am Tisch eines Mannes, der sich die Schulbank mit ihrem Vater teilte. "Wir sprachen die gleiche Sprache, aber vieles war mir fremd." Am nächsten Tag zeigt er ihr die Stadt und das Polizeirevier. Breithaupt, die damals noch anders hieß, muss sich anmelden. Ein Woche bleibt sie.

Am letzten Tag fragt sie der Sohn des Mannes, kannst du mir Bücher schicken? Sie sagt ja, schickt Bücher und Briefe. Irgendwann fragt er, besuchst du mich in Rostock? Sie sagt ja.

Im März 1978 sitzen sie in einem Wohnwagen in einem Rostocker Neubauviertel. Er studiert Theologie, sie studiert Theologie. Dreißig andere Studenten beten mit in dem Wagen, der zu einer Kirche umgebaut wurde. Sie bleibt ein paar Tage in Rostock, er nimmt sie mit an Orte, die sie nicht sehen darf. Die Vorlesung, das Wohnheim. Sie reden über vieles, aber nicht über sich. "Jeder dachte, der andere ist nicht verliebt, nur ich."

Sie trennte 572 Kilometer und eine Grenze

Wieder in Heidelberg trennen sie 572 Kilometer und eine Grenze, an der geschossen wird. Auch deshalb entscheidet er, keine Briefe mehr zu schreiben. Sein Bruder lädt Breithaupt zu dessen Hochzeit ein, er lädt sie wieder aus. "Er war sehr vernünftig." Sie auch? "Ich glaube nicht."

Wochen später bekommt Breithaupt einen Brief. Es werden mehr und mehr. Er könnte zu ihr kommen. Doch die DDR verlassen, das will er nicht. Im Januar 1979 fragt er sie, "Willst du zu mir in die DDR ziehen?" Moment. Stopp. Das kann ich nicht so leicht beantworten, sagt sie.

Breithaupts Freundinnen studieren Theologie, nebenbei arbeiten sie in Südafrika, Brasilien, Äthiopien. Auch sie denkt, "da wo ich gebraucht werde, gehe ich hin". Sie denkt bis dahin nicht daran, in die DDR zu gehen. "Eine Entscheidung für immer." Sie überlegt, fragt ihre Mitbewohnerinnen. Die sagen, bist du verrückt, das funktioniert nicht. Dann entscheidet sie sich.

"Sie dürfen einreisen"

Breithaupt weiß, mit ihrem alten Ausweis in der DDR leben ist unmöglich. Also fragt sie den österreichischen Botschafter, "kann ich einen Pass bekommen?" Nein. Sie trifft einen Rechtsanwalt, der Agenten freikaufte. Sie fragt ihn, "können Sie mir helfen?" Nein.

Dann die Nachricht, "Sie dürfen einreisen". Es ist Frühjahr 1981, als Breithaupt in den Wagen ihres Bruders steigt. Als die Eltern sie verabschieden, dreht sie sich nicht um. "Das konnte ich nicht."

Eine Entscheidung fürs Leben, die keine war

In Sangerhausen, Bezirk Halle, 33 000 Einwohner, steigt sie aus. Zwei Monate später erhält sie ihren Pass. Sie heiratet, wird Pfarrerin. Als die Mauer fällt, hat Breithaupt drei Kinder und schläft. Am Morgen ruft ihre Mutter an: "Du, die sitzen da in Berlin auf der Mauer."

Sie schweigt, sagt dann, „das kann nicht sein“. Was dachte Breithaupt, als die Mauer fiel, Deutschland Monate später vereinigt wurde? "Im Frühjahr 1981 war ich mir sicher, eine Entscheidung für’s Leben zu treffen." Sie sagt: "Und dann war’s das gar nicht."

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