Kultur: „Ich bin ein Kind, ich werde nicht erwachsen“
Nie mehr zurück: Einar Schleef ist seiner Heimatstadt Sangerhausen entflohen. Nun feiert man dort seinen 60. Geburtstag. Ein Ortstermin
Einar Schleef steht in einem Mädchenkleid auf der Bühne und schmettert mit Inbrunst „Unser Hanerl“, ein Schlager aus der Wiener Operette vom „Dreimädelhaus“. Es ist die Bühne einer sachlichen Schulaula im Geschwister-Scholl-Gymnasium in Sangerhausen, die Schule, an der Schleef in den frühen Sechzigerjahren sein Abitur gemacht hat, und jetzt spielt ein Sangerhäusener Schüler in einer Schultheateraufführung den Extremkünstler nach. Einar Schleef ist in seine Heimatstadt zurückgekehrt, das Provinznest Sangerhausen am Kyffhäuser, den Kindheitsort, an dem er sich ein Künstlerleben lang abgearbeitet hat.
Ob in dem monumentalen Prosasteinbruch über das Leben seiner Mutter („Gertrud“) oder den „Totentrompeten“, einer Serie von Theaterstücken, in denen er seine Mutter zusammen mit ihren beiden Freundinnen auf die Bühne stellt („weglaufen können sie nicht, die drei Alten“), Sangerhausen hat Einar Schleef nicht losgelassen. Die Herkunft aus der Provinz, die ungelösten Konflikte mit seiner Familie, die drückende Enge und das Anrennen dagegen arbeiten in Schleefs Werk weiter. Zu Beginn der achtziger Jahre, fünf Jahre nach seinem Wechsel in den Westen, hat Schleef seiner Heimat ein seltsames Denkmal gesetzt: Ein Fotobuch mit Aufnahmen einer tristen Stadt, menschenleere Straßen, Kopfsteinpflaster, ärmliche Fassaden. „Zuhause“ hieß dieses Buch und auf der Rückseite wie zur Abrechnung mit dem eigenen Heimweh der Satz „Nie mehr zurück, das verwinden, fliehen bis man ein eigenes Zuhause hat, was einen erstickt und auffrisst.“
Heute ist die mittelalterliche Altstadt von Sangerhausen adrett und herausgeputzt, aber das sind nur einige Straßen. Jenseits der Altstadt besteht Sangerhausen aus Plattenbausiedlungen, die aussehen, als hätte sich in ihnen seit der Wende nichts verändert. Das Bahnhofsgebäude mit seinen abbröckelnden Kacheln und der heruntergekommenen DDR-Moderne der Schalterhalle wirkt wie das Bühnenbild einer Marthaler-Inszenierung. An einer Mauer am Bahnhofsvorplatz ein Graffiti, das Schleef gefallen hätte: „Nazis haben kleine Schwänze.“
Drei Jahre nach Schleefs frühem Tod im Sommer 2001 ehrt ihn Sangerhausen zu seinem sechzigsten Geburtstag am 17. Januar mit einem dreitägigen Festival, mit Theatergastspielen, Symposien und einem Auftritt des Männerchors der Kleingärtner Sangerhausen, der zusammen mit dem Schauspieler Thorsten Heidel Schleef-Texte vorträgt. Theaterregisseur André Bücker hat dieses Projekt entwickelt und den Chor der Kleingärtner, dessen Repertoire normalerweise aus Volksliedern besteht, mit Schleefs harter, verstörender Prosa zusammengeführt.
Das Festival („Schleef Block 1“) ist die Begegnung einer Kleinstadt mit einem zur Repräsentation denkbar ungeeigneten Künstler. Und gerade weil sich Sangerhausen und Schleef so offenkundig miteinander schwer getan haben, hat dieses Festival etwas zutiefst Anrührendes. Die Floskeln vom „großen Sohn der Stadt“, mit denen sich die Offiziellen in ihren Eröffnungsreden an das schroffe Genie heranrobben, decken die Verstörungen, Fremdheiten, Spannungen nicht zu. Die Festivalmacher verkitschen Schleef nicht zum Heimatdichter, sie arbeiten sich an seinen Schroffheiten ab wie sich Schleef an Sangerhausen abgearbeitet hat. Als Jutta Hoffmann, die Schauspielerin, die seit Schleefs erster Theaterinszenierung, „Fräulein Julie“ am Berliner Ensemble, immer wieder seine Protagonistin war, bei der Eröffnungsveranstaltung in der Schulaula Kindheitserinnerungen aus Schleefs Buch „Gertrud“ vorliest, berühren sich zwei einander sehr fremde Welten: Schleefs extreme Sprache und die allen Extremen abgewandte Kleinstadt, die Kraft der Form und die Spuren authentischer Erinnerung, die Verwandlung von sehr frühen Erfahrung in Kunst und ein Publikum, in dem viele sitzen, die Schleef in diesen Kindertagen kannten. Als Jutta Hoffmann die „Gertrud“-Lesung am folgenden Tag im Berliner Palast der Republik wiederholt, ist es bloß noch ein Theaterauftritt.
Eine Schüleraufführung zu Beginn des Festivals in Sangerhausen zeigt den Außenseiter Schleef – ein aus den Büchern Schleefs, Ideen der Schüler und Erinnerungen von Schleefs Jugendfreund Helmut Küchner entstandenes Porträt des Künstlers als jungen Outlaw. In ihrer naiven Direktheit kommen die Schüler Schleef vielleicht näher als die Gastspiele der professionellen Theatermacher. Es ist diese Amateurtheateraufführung, in der Schleef, gespielt von einem Sangerhäusener Oberschüler, sich im adretten Mädchenkleid selig dem Glück der Operette hingibt.
Die Szene ist authentisch, dieser Auftritt des sechzehnjährigen Einar Schleef in der Schulaula hat, vor gut vier Jahrzehnten, wirklich stattgefunden. Und offenbar hatte Schleef schon damals einen Künstlernimbus und einen so skandalumwitterten Ruf, dass sich kaum jemand an der Schule über die schräge Performance gewundert hat. Auch andere Szenen aus dem Stück des Schülertheaters sind belegt, zum Beispiel die cholerischen Ausbrüche des Vaters, der den Sohn noch mit siebzehn, achtzehn Jahren verprügelte. Der in Berlin lebende Dichter Lothar Trolle, ein Jugendfreund Schleefs, erinnert sich an eine grauenvolle Straßenszene. Der Vater schreit und prügelt auf Schleef ein, und der entschuldigt sich danach bei seinem Freund für den Auftritt des Vaters, „das war eine unglaubliche Demütigung für ihn.“
Helmut Küchner ist ein sympathischer Mann mit straffem Seitenscheitel und energischer Sprechweise. In den Jahren an der Oberschule war er einer der engsten Freunde Schleefs. Sie haben an der Schule zusammen Kabarett gemacht und bei einem Freund, der, große Sache, ein Tonband besaß, aus dem Westradio aufgenommene Beatles-Songs gehört. Neben der Liebe zu Operetten und Musicals hatten es Schleef vor allem Schlager und Westwerbung angetan, die er mit kräftiger Stimme laut singend parodierte, und wie später bei seinen großen Theaterauftritten war Schleefs Sprachstörung bei diesen Kabarettnummern plötzlich verschwunden.
Schleef muss schon damals ein anstrengender Mensch gewesen sein. „Entweder man machte, was er wollte, oder er wollte nichts mit einem zu tun haben. Ich habe fast immer gemacht, was er wollte“, sagt Helmut Küchner. Wenn er und Hildebert Roederer, damals Schleefs Musiklehrer, sich an Einar Schleef erinnern, wirken sie, als könnten sie bis heute nicht aufhören, sich über ihren Freund zu wundern. „Es hat unaufhörlich in ihm gearbeitet“, erinnert sich Küchner. Auf langen Spaziergängen hat Schleef ihm endlose Monologe über seine Lektüre gehalten. Hildebert Roederer spricht von einem Menschen, „der es mit sich selbst nicht leicht hatte“, einerseits impulsiv und aufbrausend, gleichzeitig verschlossen, schwierig, empfindlich. Als Küchner nach dem Abitur in die SED eintritt, beendet Schleef die Freundschaft abrupt. „Ich bin nicht, um Karriere zu machen, in die Partei gegangen, ich wollte die Partei von innen her verändern“, sagt Küchner heute, und er sagt das so hoffnungslos desillusioniert, dass man es ihm sofort glaubt. „Für Schleef waren SED-Leute das letzte, Idioten, mit denen er nichts zu haben wolle. Er war für den Sozialismus, aber die Partei hat er verachtet.“
Hildebert Roederer erinnert sich an Schleefs Reaktion auf den Mauerbau. Im August oder September 1961 schleppte Schleef in einer Unterrichtspause sämtliche Landkarten der Schule in die Aula, hängte sie auf und fing vor den Weltkarten an, über Afrika und Frankreich, Australien und Amerika zu reden. Kein Wort über die Mauer, die Aussage war trotzdem klar. Einerseits eine Provokation, andererseits konnte man dem Oberschüler nichts nachweisen. Und weil Schleef als verschrobener Künstler galt, hat sich der Schuldirektor („der hatte keine Ahnung von Kunst“) an den Musiklehrer Roederer gewandt. „Er hat mich gefragt, ob das Kunst ist und ich habe gesagt, ja, das ist Kunst und völlig unpolitisch.“ Schleef hat dann eine Menge wirres Zeug geredet und spätestens damit war für den linientreuen Schuldirektor klar: es muss tatsächlich Kunst sein. Die Geschichte klingt harmloser als sie war. 1961 sind in der DDR aus nichtigeren Anlässen Oberschüler relegiert und Biographien zerstört worden.
Im ersten Band von Einar Schleefs Tagebüchern, die in den nächsten Wochen im Frankfurter Suhrkamp Verlag erscheinen, kann man nachlesen, wie Schleef selbst diese Kindheit und Jugend in Sangerhausen erlebt hat. Der Schleef, dem man in diesem Buch begegnet, ist verstörter, isolierter, an sich und der Welt um einiges verzweifelter leidend, als ihn seine Jugendfreunde im Gedächtnis haben. „Ich bin ein Kind, die anderen Männer, ich werde nicht erwachsen“, notiert er im Februar 1963, mit neunzehn Jahren. Ein paar Tage davor heißt es „Ich bin zu vielen nett aber Abstand .... Was soll ich zu unserer Politik, zur Schule, zu meinem Leben sagen: Scheiße.“ Zum Weltekel kommen Anfälle von Selbsthass: „Was sagen all diese Tagebücher über mich aus? Ach, es ist soviel Unwahres darin, soviel Lüge und Widerspruch. Alles in mir ist verdorben, ich brenne und alles schmerzt. Ich tobe innerlich und finde keinen Ausweg.“
Was wie üblicher Pubertätsschmerz klingt, zieht sich durch die knapp vierhundert Seiten der Aufzeichnungen zwischen 1953 und 1963. Der Mann ist sich selbst ein Rätsel. „Wir quälen uns, ja, ich quäle mich“, heißt es Jahrzehnte später in Schleefs „Gertrud“-Roman. Heiner Müllers Formel, Genie sei die Fortsetzung der Pubertät mit anderen Mitteln, fällt einem bei der Lektüre dieser Selbstbefragungen ein: Schleefs Talent als Künstler ist kaum von diesem jugendlichen Versuchen der Selbstvergewisserung zu trennen. Aber neben dem Schmerzensmann begegnet einem ein lebensgieriger Junge, der vier Tage nach dem oben zitierten Ausbruch von Selbsthass von Parties schwärmt: „Meine Sehnsucht nach Charleston und Twist ist ungeheuer, Tanz ist bei mir nicht Tanz, im Tanz verkörpere ich ein Gefühl, mich selbst, Tanz gehört zu mir wie Malen.“
Ähnlich wie Heiner Müller hat Schleef im Theater eine schmerzende, brutale Lücke hinterlassen. Und wie bei Müller ist auch sein Werk längst noch nicht ausgedeutet. Schleefs Grabstein auf dem Friedhof in Sangerhausen ist ein weißer Marmorquader, an der Frontseite die lakonische Inschrift „Einar Schleef 1944–2001“. Auf der linken Seite des Quaders, von Zweigen bedeckt und vom Weg aus kaum einzusehen, sind die Lebensdaten seiner Eltern in den Stein gemeißelt. Es sieht aus, als würde Schleef den Kampf mit den Eltern, den Kampf mit seiner Herkunft noch im Familiengrab weiterführen.
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