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Unser Autor Deniz Utlu wuchs in Hannover auf, seit Sommer 2003 lebt er in Berlin.
© Kai-Uwe Heinrich

Essay aus Pegida-Deutschland: Die Migranten, die Nation und ich

Deutschland, 25 Jahre nach dem Mauerfall. Einwanderer gehören längst zu dieser Gesellschaft, doch nicht alle erkennen das an. Die Suche nach einer Identität der Vielfalt bleibt schwierig - für den einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft.

"Ich habe seit meiner Kindheit beständig in Eurer Majestät Staaten gelebt, und wünsche, mich auf immer in denselben niederlassen zu können. Da ich aber ein Ausländer bin und das nach dem Reglement erforderliche Vermögen nicht besitze, so erkühne ich mich allerunterthänigst, zu bitten …, mir mit meinen Nachkommen Dero allerhöchsten Schutz nebst der Freiheiten, die Dero Untertanen zu genießen haben, angedeihen zu lassen ...“

Mit diesen Worten beantragte im Jahre 1743 der Philosoph Moses Mendelssohn seine Aufnahme in Berlin und durfte nach einigen Abweisungen schließlich das Rosenthaler Tor passieren. Der Grenzbeamte notierte: „Heute passierten das Tor sechs Ochsen, sieben Schweine und ein Jude.“

Diese Anekdote Mendelssohns über die alte Berliner Zollmauer wird in dem Film „Die leere Mitte“ der Künstlerin und Filmemacherin Hito Steyerl von einer Off-Stimme über Bilder des ehemaligen Todesstreifens in Mitte gesprochen. Die Aufnahmen aus den 1990er Jahren zeigen Zeltlager von anarchistischen Besetzern, Brachland und – die offene Mauer.

Das Ganze ist unterlegt mit dem Streichquartett Op. 13 in a-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Enkel Moses Mendelssohns. Jenem Felix Mendelssohn-Bartholdy, den auch Taufe und christliche Erziehung nicht davor schützen konnten, bei den antisemitischen Hep-Hep-Unruhen 1819 schikaniert zu werden. Von „Wutbürgern“, die aufgrund einer wirtschaftlichen Krise „verunsichert“ waren und denen der Zuspruch von bürgerlichen Rechten gegenüber den Juden bei gleichzeitiger Säkularisierung der katholischen Kirche unerträglich war.

Moses Mendelssohn (1729- 1786). Der jüdische Philosoph warb für gegenseitige Toleranz zwischen Religion und Staat.
Moses Mendelssohn (1729- 1786). Der jüdische Philosoph warb für gegenseitige Toleranz zwischen Religion und Staat.
© akg-images / bilwissedition

Die Zollmauer wurde 1734 gebaut und stand teilweise genau da, wo später die Berliner Mauer errichtet wurde. Ende der 1860er wurde die Zollmauer abgerissen und 1871 das Kaiserreich gegründet. Damit begann ein verspäteter Prozess der nationalstaatlichen Identitätsfindung, ein Transformationsprozess für das Selbstverständnis Deutschlands. Theodor W. Adorno schreibt etwa hundert Jahre später in einem Aufsatz zur Bedeutung von Kritik in Deutschland, dass die historisch verspätet erreichte nationalstaatliche Einigung ein „Einheits- und Einigkeitstrauma“ verursacht habe, „das in jener Vielheit, deren Resultante demokratische Willensbildung ist, Schwäche wittert.“ Wer kritisiert, gilt als Spalter. Die frische Nation darf um keinen Preis infrage gestellt werden. Das Einheitstrauma habe die Nazidiktatur überdauert, „womöglich durch die Teilung Deutschlands nach dem von Hitler entfesselten Krieg sich noch gesteigert“.

Maueröffnung. Mendelssohn fand 1743 nach mehreren Anträgen Einlass am Rosenthaler Tor und erhielt Wohnrecht in Berlin. Der Grenzer notierte: „Heute passierten das Tor sechs Ochsen, sieben Schweine und ein Jude.“
Maueröffnung. Mendelssohn fand 1743 nach mehreren Anträgen Einlass am Rosenthaler Tor und erhielt Wohnrecht in Berlin. Der Grenzer notierte: „Heute passierten das Tor sechs Ochsen, sieben Schweine und ein Jude.“
© Wikimedia

Heute, 25 Jahre nach dem Mauerfall, stellt sich die Frage: Hat das „Einheitstrauma“ auch die Wiedervereinigung überlebt? Sind es heute „die Migranten“, die durch ihre bloße Existenz die (schon wieder frische) Nation infrage stellen? Laut der empirischen Studie „Deutschland postmigrantisch“ des Berliner Instituts für Migrations- und Integrationsforschung finden 49 Prozent der Befragten, dass die Wiedervereinigung dasjenige historische Ereignis sei, das Deutschland am besten beschreibe. Nur 16 Prozent denken dabei noch an den Zweiten Weltkrieg. Aber welche Auswirkungen hatte die „Wende“ auf das Zusammenleben in diesem Land? Wie formuliert sie das „Deutschsein“ neu? Und, vielleicht am wichtigsten: Wie könnte dieses neue Identitätsgefühl Migranten oder andere Minderheiten mit einschließen?

Berlin als Utopie

Gegenwehr. Rund 5000 Menschen gingen Anfang Januar gegen eine Demonstration von „Pegida“-Anhängern in Berlin auf die Straße, blockierten die Marschroute der 200 Islamgegner – und äußerten ihren Protest in deutlicher, aber auch kreativer Form.
Gegenwehr. Rund 5000 Menschen gingen Anfang Januar gegen eine Demonstration von „Pegida“-Anhängern in Berlin auf die Straße, blockierten die Marschroute der 200 Islamgegner – und äußerten ihren Protest in deutlicher, aber auch kreativer Form.
© Christian-Ditsch.de

Ziemlich genau 260 Jahre, nachdem Moses Mendelssohn das Rosenthaler Tor passierte, zog ich von Hannover, der Stadt meiner Geburt, nach Berlin – im Sommer 2003. Ich kannte niemanden in der Stadt, spielte Backgammon im Bateau Ivre am Kreuzberger Heinrichplatz, bestellte in den Kneipen der Gegend auf Türkisch, frühstückte gebackenen Milchreis und kräftigen Schwarztee gegen Morgen in der Oranienstraße und fuhr dann zur Wohnung, in der ich schlief, um tagsüber wieder nach einem Zimmer zu suchen.

Meine erste Zeit in Berlin fühlte sich ebenso rau wie geborgen an. Die Stimmung empfand ich als euphorisch, in Kreuzberg Merkezi, dem Zentrum Kreuzberg, bewegte mich die Musik bis spät in die Nacht. Ich genoss die Vielheit der Sprachen um mich herum, fand mich bald in einem Kreis von Musikern, Filmemachern und Autoren. Wenige kamen aus Berlin und doch beschäftigten sich viele obsessiv mit der Geschichte dieser Straßen, dieser Häuser und der Menschen, die in den 1960ern und 70ern in ihnen gewohnt hatten, die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern, die nach Deutschland eingewandert waren und diese Republik mit aufgebaut hatten, die Geschichten der „Gastarbeiter“.

Austausch. In Berlin leben viele Menschen, die auf der Suche sind nach der anderen, der migrantischen Geschichte Deutschlands, die Romane oder Theaterstücke darüber schreiben.
Austausch. In Berlin leben viele Menschen, die auf der Suche sind nach der anderen, der migrantischen Geschichte Deutschlands, die Romane oder Theaterstücke darüber schreiben.
© IMAGO

Berlin hatte etwas von einer Utopie. Niemand musste sich auf eine Identität oder Herkunft festlegen, und doch zählten alle Geschichten. Auch heute höre ich oft von Menschen, die neu in die Stadt kommen und die selber oder deren Eltern eingewandert sind, dass sie überrascht, manche gar überwältigt sind von einem Umfeld, das ihre Geschichten nicht nur zulässt, sondern nach einer Sprache für sie sucht – die Geschichten von Eltern, die die politische Flucht und das Exil kennen, von Eltern, die wissen, was es heißt, als Arbeiter ihre Liebsten für ein Leben in der Fremde zu verlassen und ihrer Kinder, die in dieser Gesellschaft leben. Menschen, die im Nachkriegsdeutschland das Land mit aufgebaut haben. Die feuchte Trümmerwohnungen an der Mauer trocken wohnen mussten. Die Überraschung, höre ich, rührt daher, dass sie sich mit diesen Themen sonst oft allein fühlten oder gar nicht bemerkt hatten, dass das ihre Themen waren.

Manchmal wirkt Berlin wie eine Utopie: Niemand muss sich auf eine Identität festlegen, alle Geschichten zählen.
Manchmal wirkt Berlin wie eine Utopie: Niemand muss sich auf eine Identität festlegen, alle Geschichten zählen.
© IMAGO

Ich behaupte nicht, dass Berlin der einzige Ort ist, an dem das „postmigrantische“ Deutschland eine Rolle spielt. Im Gegenteil, es gibt kein Dorf mehr in diesem Land, das davon unberührt wäre. Aber in Berlin habe ich viele Menschen getroffen, die davon überrascht wurden, dass sie nicht allein auf der Suche nach der anderen, der migrantischen Geschichte Deutschlands waren. Eine Gesellschaft, in der die Erkenntnis überrascht, dass die Geschichte von Einwanderern ein Teil ihrer eigenen Geschichte ist, kann nicht offen sein.

Dieses Berliner Gefühl des Suchens nach „postmigrantischen“ (auch nach sexuellen, geschlechtlichen, künstlerischen) Lebens- und Identitätsformen ist nicht erst mit dem „Mauerfall“ gekommen. Aber nach dem Mauerfall hätte dieses Berlin der Vielheit identitätsstiftender sein können als Konsumeuphorie auf der einen Seite oder, auf der anderen Seite, der Bezug auf ein Einheits-Deutschsein, in dem die migrantischen Geschichten dieses Landes weniger denn je eine Rolle spielen sollten. Das „Einheitstrauma“ scheint sich nach der Aufhebung der Teilung in den 90er Jahren unter Ausschluss migrantischer Perspektiven vertieft zu haben.

Die 90er, für die ich zu jung war und die mich trotzdem verfolgen

Das Volk. In Berlin sind bei der großen Party am 10. November 1989 unter den Jubelnden auf der Mauer auch viele mit Migrationshintergrund.
Das Volk. In Berlin sind bei der großen Party am 10. November 1989 unter den Jubelnden auf der Mauer auch viele mit Migrationshintergrund.
© DOMiD-Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.

Ich wurde im Jahr der Wiedervereinigung eingeschult. Von Hannover aus war der Mauerfall eine Sequenz der Tagesschau. Als Sechsjährigen interessierten mich andere Dinge. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es eine Rede vom Schulleiter oder Anmerkungen der Klassenlehrerin zum Mauerfall und zum „wiedervereinigten“ Deutschland gegeben hätte. Dass es zwei deutsche Staaten gegeben hatte, wusste ich nur deshalb, weil mich einige Jahre zuvor Cousins im Sommer in der Türkei gefragt hatten, aus welchem Deutschland ich eigentlich komme. Daraufhin hatte ich zurückgefragt, aus welcher Türkei denn meine Cousins kämen.

„Es gibt nur eine Türkei“, antworteten sie.

„Und ihr glaubt, dass es zwanzig Deutschlands gibt?“

„Es gibt zwei.“

„Ach ja, und dieses andere Deutschland liegt auf dem Mars?“

„Es gibt die Bundesrepublik und… und noch ein anderes Deutschland.“

„Ihr habt keine Ahnung von Deutschland“, sagte ich.

Später erklärte mir jemand, dass ich aus der Bundesrepublik komme und dass das „andere“ Deutschland „Ost-Deutschland“ heiße und den Russen gehöre. Damit wurde die Sache für mich nur noch absurder, denn in meiner Vorstellungswelt war kaum etwas so weit weg wie Russland. Aber ich nahm die Sache hin, und sie beschäftigte mich nicht weiter. Erst als ich schon längst in Berlin lebte und recherchierte, wie Migranten hier gelebt hatten, beschäftigte ich mich mit den 80ern und 90ern der Bundesrepublik.

In der Auseinandersetzung mit der (post)migrantischen Geschichte Deutschlands begann ich das Ausmaß der Gewalt und ihre Verknüpfung mit einem nationalen Prozess zu begreifen. Gleich im Jahr nach der Maueröffnung wurden laut Migrationsrat Berlin-Brandenburg sieben Menschen von Neonazis ermordet: Mahmud Azhar, Andrej Fratczak, Amadeu Antonio Kiowa, Klaus-Dieter Reichert, Nihad Yusufoglu, ein namentlich nicht benannter Obdachloser und Alexander Selchow. Nach weiteren sieben Morden 1991 fand die Gewalt 1992 ihren Höhepunkt mit 24 Opfern. Darunter der Brandanschlag vom 30. Januar 1992 auf ein Flüchtlingsheim im hessischen Lampertheim, bei dem eine dreiköpfige Familie aus Sri-Lanka ums Leben kam, und der Anschlag in Mölln vom 23. November 1992, bei dem Behide Arslan, Ayse Yilmaz und Yeliz Arslan verbrannten.

In ihrem Aufsatz „Reflections on Germany“ denkt die Philosophin Judith Butler über diese Zeit nach. Sie hatte Ende der 1970er als Studentin in West-Deutschland gelebt und wurde Anfang der 1990er nach Deutschland eingeladen. Sie beschreibt ihre Wahrnehmung des Mediendiskurses Anfang der 90er bezüglich der Gewalt gegen Migranten. Ein Diskurs der Schuld nach der Shoa sei einem Diskurs der Psychologie und Nächstenliebe gewichen. Die Presse tendiere dazu, die Täter zu psychologisieren. Die Hintergründe der Täter, nicht die der Opfer würden beschrieben – sie hätten etwa schlechte, trinkende Eltern gehabt. Es seien derartige Umstände, die diese jungen Menschen zu Tätern gemacht hätten. Nicht die Opfer waren demnach ins Verderben gestürzt worden, sondern die Täter. Die oft türkischen Opfer blieben derweil namenlos, familienlos, ohne Kindheit und ohne begleitende Umstände. Butler sieht in diesem Diskurs der Psychologie eine Verbindung zu christlichen Werten, insbesondere der Vergebung. Hierdurch, schreibt sie, wurde in einem Zug rechtsextreme Gewalt entpolitisiert und eine hegemoniale Setzung des Christentums vorgenommen.

Pogromstimmung. Spuren des Brandanschlags auf ein von Vietnamesen bewohntes Haus in Rostock-Lichtenhagen im August 1992.
Pogromstimmung. Spuren des Brandanschlags auf ein von Vietnamesen bewohntes Haus in Rostock-Lichtenhagen im August 1992.
© picture-alliance / dpa/dpaweb

Ich möchte Butlers Deutung des Diskurses als hegemonial-christlich hier nicht weiter verfolgen. Mich interessiert eine andere Ebene ihrer Argumentation: Nämlich, dass eine neue Erzählung entsteht, in der ein Schulddiskurs einem Diskurs der Psychologie weicht – der dazu führt, dass die Täter als Opfer behandelt werden. Diese Beobachtung zeichnet aber nur einen Teil des Bildes der Gesellschaft nach dem Mauerfall. Ein weiterer Aspekt ist ein Diskurs der Beschuldigung, die Benennung eines Sündenbocks. So schreibt der Journalist Heribert Prantl in seinem Essay „Rettet unsere Seelen“: „Es war so vor 25 Jahren: Wer das Grundrecht auf Asyl erhalten wollte, wurde beschimpft. Wer Flüchtlinge Schmarotzer nannte, konnte mit donnerndem Applaus rechnen. Asylrecht und Flüchtlinge waren angeblich an allem schuld, sogar daran, dass Asylbewerberheime und Ausländerwohnungen brannten.“ Schließlich trat 1993 der sogenannte „Asylkompromiss“ in Form einer Änderung des Grundgesetzes in Kraft – und höhlte das Asylrecht aus. Vom Mauerfall zu einer Zuspitzung rassistischer Gewalt und politischen Antworten, die die Täter schützten und nicht die Opfer, war es zeitlich ein erstaunlich kurzer Weg von drei Jahren. Asylbewerber und Migranten wurden getötet. Asylbewerber und Migranten wurden bestraft. Eine inkludierende Neuformulierung von „Deutschsein“ ist in jener Zeit vorerst gescheitert: Menschen, die zum Teil seit dreißig Jahren an dieser Mauer wohnten, sollten kein Teil eines neu zusammenwachsenden Deutschland werden. Dabei hatten auch einige unter ihnen, wie auf Bildern aus der Zeit zu sehen ist, für die „Wiedervereinigung“ demonstriert.

25 Jahre Mauerfall, Freiheit und Pegida

Lichtgrenze. 25 Jahre nach dem Mauerfall ist das Land diverser geworden – und offener auch für die Erfahrungen der Einwanderer und ihrer Kinder. Langsam entsteht eine gemeinsame Geschichte.
Lichtgrenze. 25 Jahre nach dem Mauerfall ist das Land diverser geworden – und offener auch für die Erfahrungen der Einwanderer und ihrer Kinder. Langsam entsteht eine gemeinsame Geschichte.
© picture alliance / dpa

Auch der Vater eines kurdischen Freundes hatte den Fall der Mauer begrüßt: Einige Tage vor den Feierlichkeiten zum 9. November habe ich mich mit ihm und meinem Freund in einem türkischen Fischrestaurant getroffen. Ihre Familie hatte zu jener Zeit in Kreuzberg ganz in der Nähe der Mauer gewohnt. Als überzeugter Linker, sagte der Vater, sei er für die Aufhebung aller Grenzen und habe die Öffnung der Mauer selbstverständlich nicht nur begrüßt, sondern auch gewünscht. Geschäftlich habe er durchaus auch Vorteile gehabt, weil dank der Grenzöffnung mehr Kunden in sein Restaurant gekommen seien. Ideologisch bedauere er es natürlich, dass der real existierende Sozialismus nicht den Weg in eine freie Gesellschaft geebnet habe, sondern in einem System der Unterdrückung verharrt sei.

Es war schon dunkel, als ich mich von den beiden vor dem Restaurant verabschiedete und in ein Taxi stieg. Ich telefonierte im Taxi noch kurz. Nachdem ich aufgelegt hatte, fragte mich der Fahrer in sächsischem Dialekt, ob das Türkisch gewesen sei? Wir kamen ins Gespräch. Nach einer Weile sagte er, dass ich die Menschen „ad absurdum führen“ würde.

„Entschuldigung?“

„Sie sind ein Ad-Absurdum-Führer.“

„Führer?“

„Ad Absurdum. So eloquent deutsch sprechen und dann ohne Duktus.“

„Wieso Duktus?“

„Heißt doch immer, dass die Türken kein Deutsch können. Dabei gibt es ja Gegenbeweise, wie Sie. Könnten ja sogar Bürgermeister werden. Ich nicht – mit meinem Duktus!“ Aber die Politiker, sagte er, seien ohnehin alles Flaschen, die würde er in die Tasche stecken. Er habe einen IQ von 140, das sei getestet worden. Nach dem frühzeitigen Abbruch einer Profisportkarriere habe er dann aber nicht mehr studiert. Jetzt fahre er Taxi. Seit zehn Jahren.

Wir fuhren entlang der Lichterballons, die für die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls aufgestellt worden waren, wo früher die Grenze verlief. „Die hätten pink sein sollen“, sagte der Fahrer, „und viel höher. Ist doch langweilig so.“ Ich fragte ihn, ob er am 9. November am Brandenburger Tor sein werde. Er sagte, dass er sich das lieber im Fernsehen anschaue, das sei ihm da zu viel Tamtam. Vor 25 Jahren allerdings sei Berlin eine große Party gewesen, so etwas habe er nicht noch einmal erlebt. Am Potsdamer Platz hätten „Tagelöhner“, wie er sie nannte, für fünf Mark Hammer und Meißel verliehen. Auch er habe sich einen Mauerbrocken mitgenommen. Ich fragte mich, ob diese „Tagelöhner“ Türken waren.

Hassbürger. „Bärgida“-Anhänger bei einer Kundgebung in Berlin. Wenn sie „Wir“ sagen, bedeutet dies zugleich: „Ihr gehört nicht dazu.“
Hassbürger. „Bärgida“-Anhänger bei einer Kundgebung in Berlin. Wenn sie „Wir“ sagen, bedeutet dies zugleich: „Ihr gehört nicht dazu.“
© Christian-Ditsch.de

Zur Jubiläumsfeier des Mauerfalls befand ich mich genau am selben Ort wie bereits 1989: im Wohnzimmer meiner Mutter in Hannover. Genau wie der Taxifahrer sah ich mir die Übertragung im Fernsehen an. Anders als damals wartete ich nicht gebannt auf den Auftritt von David Hasselhoff – obwohl ich nicht umhin konnte, seine Glückwünsche zum Jahrestag der Grenzöffnung zu retweeten –, sondern versuchte zu verstehen, was diese große Feier, die „Lichtgrenze“", die Auftritte am Brandenburger Tor und immer wieder das Wort „Freiheit“ zu bedeuten haben. Mir schien: Wenn Judith Butler Mitte der 90er noch beobachtet hatte, wie ein Schulddiskurs durch einen Diskurs der Psychologie und Nächstenliebe ersetzt wurde, wurde später das Abstellen auf „gemeinsame Werte“ dominant. Mit diesen „gemeinsamen Werten“ sind universelle Werte wie Freiheit und Menschenwürde gemeint. Wenn aber „Freiheit“ – ohne bestimmt zu haben, was genau damit eigentlich gemeint ist – die tragende Säule unserer nationalen Identitätsarchitektur sein soll, laufen wir dann nicht Gefahr, Ansprüche der Exklusivität an die Freiheit zu stellen? Drängt uns eine solche Architektur nicht dazu, das „Andere“ zu suchen und es als weniger frei, also weniger deutsch zu formulieren, um uns davon abzugrenzen? Nur kurze Zeit nach der großen medial wochenlang begleiteten Jubiläumsfeier formiert sich dann auch eine rassistische Gruppe, die sich Pegida nennt – Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Die Parallelen sind bedrückend: Mauerfall, dann Pogrome. Und jetzt: Jubiläumsfeier, dann rassistische Demonstrationen.

Freiheit und Menschenwürde als „deutsche“ oder „westliche“ Werte darzustellen, ist gefährlich. Zeichnen sich diese Werte nicht gerade dadurch aus, dass sie universell sind und überall, in allen Regionen und Religionen gelten, auch wenn sie unterdrückt werden? Wenn „Freiheit“ oder „Menschenwürde“ für eine nationale Identität vereinnahmt werden, könnten sie sich in ihr Gegenteil umkehren – und zu Unfreiheit und der Verletzung der Menschenwürde führen? Natürlich ist nichts falsch daran, sich auf universelle Werte zu berufen, nur eben nicht im Namen einer nationalen, also ausschließenden Identität. Der Ökonom Amartya Sen bezeichnet das als „Identitätsfalle“, die uns fälschlich an einen „Krieg der Kulturen“ glauben lässt. Dagegen gibt er zahlreiche Beispiele, wie diese Werte sich in vielen verschiedenen Regionen der Welt finden lassen.

Und doch unterscheidet sich der Diskurs um Pegida von dem Diskurs in den 1990er Jahren ebenso wie von den jüngeren „Integrations-“ und „Migrationsdebatten“ und der Debatte um die Terrorzelle NSU. Das bisherige Muster sah so aus, dass nach verbaler oder physischer Gewalt gegenüber Menschen mit einer Migrationszuschreibung Medien, Politik und oft auch Justiz sich meist nicht gegen die Gewalt positionierten, sich teilweise sogar auf deren Seite schlugen, sie verschärften. Dies gilt für die Pogrome Anfang der 1990er, auf die die Politik, wie beschrieben, mit einer Verschärfung des Asylrechts reagierte. Dies gilt für die NSU-Morde, die von den Medien lange Zeit als „Döner-Morde“ bezeichnet wurden. Nach der „Selbstenttarnung“ des rechtsterroristischen Trios und dem Versagen oder, je nach Perspektive, der Schuld der Behörden, übernahm niemand politische Verantwortung, niemand verließ seinen Posten. Im Fall der Sarrazin-Debatte rügte sogar der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung die Bundesregierung, weil diese ihre muslimische Bevölkerung nicht ausreichend geschützt habe. Der Tatbestand der Diskriminierung liegt diesem Urteil nach nicht in der Veröffentlichung eines rassistischen Textes. Die Rüge richtet sich gegen den Staat, der seiner Schutzpflicht nicht genügt hatte: Er ließ zu, das eine Bevölkerungsgruppe durch eine virulente Debatte isoliert und attackiert werden konnte.

Mord. Der 24-jährige Mehmet Turgut wird am 25. Februar 2004 in Rostock erschossen – mutmaßlich von Mitgliedern der rechtsextremen Terrorzelle NSU.
Mord. Der 24-jährige Mehmet Turgut wird am 25. Februar 2004 in Rostock erschossen – mutmaßlich von Mitgliedern der rechtsextremen Terrorzelle NSU.
© picture alliance / dpa

Im Falle von Pegida scheint dieses Muster durchbrochen oder wenigstens beschädigt zu sein. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin. Sie positionierte sich gegen Pegida, sprach von „Hass in den Herzen“, dem nicht gefolgt werden solle, es sei selbstverständlich – also: Deutschlands Selbstverständnis –, dass das Land in Zeiten großer weltweiter Fluchtbewegungen Schutzsuchende aufnehme. Das Motto „Wir sind das Volk“ dürfe nicht für einen Subtext missbraucht werden, der eigentlich „Ihr gehört nicht dazu“ meint. Diese Worte der Kanzlerin waren wichtig in einer Zeit großer Verunsicherung, von attackierten Minderheiten. Die politische und mediale Öffentlichkeit reagierte auf die Abschottungsrhetorik Pegidas größtenteils mit Bekenntnissen zu einer neuen Offenheit. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass 2014, fast im selben Atemzug, das Asylrecht wieder verschärft wurde. Eine Rhetorik des Schutzes von Bedürftigen widerspricht hier einer Abschottungspolitik, deren Taten stärker wirken als Worte.

Die ganze Geschichte

Volles Boot. Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um europäischen Boden zu erreichen. Deutschland hat das Asylrecht verschärft, ein Einwanderungsgesetz gibt es nicht.
Volles Boot. Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um europäischen Boden zu erreichen. Deutschland hat das Asylrecht verschärft, ein Einwanderungsgesetz gibt es nicht.
© AFP

Was also tun? Wenn Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts ein nationalstaatlicher Nachzügler war, könnte es nicht heute ein Vorreiter in der Auflösung des Nationalgedankens sein? Das würde heißen, dass nicht mehr nur das „Deutschsein“ verhandelt wird und damit die Frage, ob etwa Muslime dazugehören oder nicht. Vielmehr würde dem „Deutschsein“ in Bezug auf Zugehörigkeit weniger Bedeutung zugemessen, weil die für die Gesellschaft zentralen Werte sich kaum mehr über nationale Kategorien beschreiben ließen. Damit meine ich nicht, dass von heute auf morgen alle Grenzen geöffnet würden, wie es sich der kommunistische Vater meines Freundes wünscht. Das wäre eine andere Diskussion. Ich meine, dass andere Kriterien als „Ethnie“ oder Religion gefunden werden müssen, um die Gesellschaft zu organisieren. Dass im Jahre 2000 im Staatsbürgerrecht das Abstammungsprinzip durch das Geburtsortprinzip ersetzt wurde, ist ein Schritt in diese Richtung. So muss die politische (also wählende) Gemeinschaft, wie die Philosophin Seyla Benhabib schreibt, nicht mehr identisch mit der ethnischen sein. Einigkeit im Menschsein statt Einigkeit in der Nation!

Judith Butler erinnert sich in ihren „Reflections on Germany“, wie sie 1994 nach dreizehn Jahren zum ersten Mal wieder nach Deutschland reiste. Sie hatte vorher staunend die Diskurse der Nachwendezeit über die Zunahme von Ressentiments und Gewalt verfolgt. Angekommen in Deutschland, stellte sie noch etwas anderes fest: Das Land war viel diverser geworden, die Stimmung war, trotz gestiegener Armut, in gewisser Weise auch entspannter. Ähnlich ging es mir, als ich etwa neun Jahre später nach Berlin zog. Viele der Menschen, die ich damals traf oder von denen ich hörte und die auf der Suche nach der migrantischen Geschichte Deutschlands waren, haben Geschichten veröffentlicht, autobiografische Dokumentarfilme gedreht, Theaterstücke geschrieben oder inszeniert und immer wieder die verschiedenen Facetten eines Lebens in Deutschland erzählt, für das Migration inzwischen etwas Selbstverständliches ist, etwa im Ballhaus Naunynstraße oder jetzt im Maxim-Gorki-Theater, das sich im Osten der Stadt befindet. Und auch in diesen Geschichten geht es am Ende um Liebe, Tod und Freundschaft. Von hier aus hat sich viel verändert in der Kulturlandschaft und im Alltag in den letzten zehn Jahren. Von hier aus lassen sich neue Konzepte des Zusammenlebens finden. Denn nicht Vielheit schafft ein Identitätsproblem in einer Demokratie, sondern die Angst in einer Gesellschaft, ihre Einheit könnte zerbrechen.

Deniz Utlu, 1983 in Hannover geboren, lebt als freier Autor in Berlin. In seinem ersten Roman „Die Ungehaltenen“ von 2013 erzählt Utlu die Geschichte eines jungen Mannes aus einer Einwandererfamilie in Berlin, der nach dem Tod seines Vater die Orientierung verliert, bis er auf Aylin, eine Narkoseärztin, trifft.
Der vorliegende Text erschien erstmals gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin am 10. Januar 2014.

Deniz Utlu

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