Einem Stadtteil auf der Spur: 24 Stunden Kreuzberg
Auf die Plätze. Fertig. Los! Mit einem hyperlokalen Blog begibt sich der Tagesspiegel auf die Spur eines Phänomens – nach Kreuzberg. Es ist der widersprüchlichste Stadtteil Berlins. Eine Annäherung in 24 Stunden.
00.01 Uhr Schlesisches Tor - Ein Versprechen
Der Regen beschleunigt den Gang. Scheucht die Menschen über das Pflaster. Leert den Platz, Schlesi, einst Loch in der Zollmauer. Spült sie die Treppen des Bahnhofs hinunter, einst letzter Bahnhof auf Westberliner Seite, dahinten am Wasser die Mauer, ihre Fahrt endet hier. Wie eine Insel liegt er im anbrandenden Verkehr der Kreuzung. Seit 1990 wieder Durchgangsstation, Schleuse. Kein Ort des Verweilens, kein Ort des Ankommens. Wer am Schlesischen Tor aussteigt, hat noch etwas vor, will weiter, muss los. Bloß nicht stehen bleiben. Der Schlesi ist nie jetzt. Er ist immer nachher. Ein Versprechen. Ein Versprechen darauf, dass heute noch Großes passieren kann.
01.27 Uhr Heinrichplatz - Noch ein Bier
„Machst mir noch eins?“ – „Sicher.“ Im Goldenen Hahn. Die Kneipe wurde schon als Weltkulturerbe der Unesco empfohlen. Hat leider nicht ganz geklappt. Wie überhaupt vieles an dieser Kreuzung, denn sehr viel mehr ist der Heinrichplatz nicht, durchschnitten von der Oranienstraße, M29er-Strecke, mehr sein will als es ist. Hier, Herzstück SO 36, soll die Subkultur entstanden sein, der Kreuzberg bis heute seinen Ruf verdankt. Aber Kneipen und Clubs kommen, und sie schließen wieder, Boutiquen eröffnen, verschwinden. Die Plätze bleiben. Einer wie der Heinrichplatz war schon da, als Theodor Fontane in der Nähe lebte, war schon da, bevor aus Kreuzberg Kreuzberg wurde. Ein paar Gestalten sitzen noch und trinken, reden, lesen die Zeitung des kommenden Tages. Nach Hause? Wer will schon nach Hause.
01.30 Uhr Kottbusser Tor - Kotze zur Hölle
The place called Kotti, der oder das, wie man will, braucht eigentlich keine Einführung mehr. Kotti – das ist Kreuzberg. Schlesi, Görli, Heinrich, Hermi und Kotti, Kreuzberger Plätze heißen wie alte Saufkumpane, auf die man nicht gerade stolz ist, jeder seinen eigenen Kopf, seinen eigenen Charakter. Wenn man sich Zeit für sie nimmt, ihnen zuhört, schenken sie einem ein paar gute Geschichten. Deshalb sind wir ja hier, deshalb jetzt Kotti, der ist längst Mainstream. Den „coolen Vorhof zur Hölle“, nannte ihn die „Süddeutsche“, in seinem Song „Schwarz zu blau“ stapfte Peter Fox hier schon durch die Kotze. Das Schöne am Kotti: Er ist selbst nachts einfach nur hässlich.
02.45 Uhr Schlesisches Tor - Morgenstund
Like. Well. You know. This is like. Yeah. Totally. Fashion-Irgendwas. Wenn junge Amerikaner zum Feiern nach Berlin kommen, landen sie am Ende immer am Schlesischen Tor. Like. Well. Totally. Irgendeine Touristenbar, jeder Cocktail 3,90 Euro, hat immer geöffnet. Nimmt sie auf, spuckt sie wieder aus. Dann stehen sie hier und starren in die Auslagen, Bagdad-Imbiss. Salat komplett. Wenn junge Amerikaner zum Feiern nach Berlin kommen, bestellen sie Kebab. This is like. So good.
05.54 Uhr Marheinekeplatz - Junge Liebe
„Jetzt steig schon ein! Mir ist kalt!“ Der blonde junge Mann, der an der geöffneten Hintertür eines Taxis lehnt, lallt ein wenig und zittert heftig. Er trägt nur einen dünnen Pullover. Ihm gegenüber steht ein blondes junges Mädchen, hinter ihr ragt dunkel die Passionskirche auf. Unentschlossen tritt sie von einem Bein aufs andere. „Komm doch mit!“, sagt der Junge, er lallt jetzt flehend. Das Mädchen bewegt sich noch immer nicht von der Stelle. „Na gut, dann bleibst du eben da!“, sagt der Junge, jetzt trotzig, und steigt ins Taxi, das sofort davonfährt.
06.03 Uhr Marheinekeplatz - Bananenkisten
Wann ist das eigentlich passiert? Der Marheinekeplatz hat einen für Kreuzberg zu guten Ruf. Die Markthalle, Bioläden, Restaurants, Bücher und japanische Sägen. Das Leben ist leicht. Alles frisch. Grelles Neonlicht fällt von der Decke der Markthalle auf Obstkisten. Ein kleiner Mann, Mitte 40, kugelrunder Bauch, dunkelblonder Schnauzer, schiebt schnaufend einen Wagen an den Marktstand. Er nimmt die oberste Kiste. „Ali“, ruft plötzlich ein kräftiger, türkischer Junge, der gerade mit Salaten hantiert, Emrah heißt er, 18 Jahre alt, Sohn des Chefs. An sechs Tagen der Woche arbeitet er am Stand des Vaters, seit er nach der neunten von der Schule abgegangen ist. Ali heißt eigentlich Alexander. „Ali“, ruft Emrah noch einmal. „Stell dir mal vor, wir würden auch das weiße Zeug in unseren Bananenkisten finden!“ Der Junge reißt die Augen auf. „Dann müssten wir nie wieder früh aufstehen! Dann hätten wir richtig Kohle!“ – „Das Zeug war sechs Millionen wert, oder?“, fragt Ali. „Noch viel mehr“, sagt Emrah. „Früher“, sagt Ali und seufzt, „vor zehn Jahren, da haben wir am Tag noch 20 Kisten Bananen verkauft. Heute sind es nie mehr als zwei.“
08. 05 Uhr Heinrichplatz - Spanier
Der M 29er Bus kommt vorbei. Zwei Spanier ziehen ratlos ihre Rollkoffer über die Oranienstraße und suchen vergeblich ein Café zum Aufwärmen. Die haben alle noch geschlossen. Subkultur. Wer steht denn, bitteschön, vor elf Uhr auf?
Kreuzberger Baustellen, die Gentrifizierung und ne Birne oben drauf.
08.56 Uhr Marheinekeplatz - Eine Birne oben drauf
„Was darf es heute sein? Wie immer?“, fragt die Verkäuferin am Obst- und Gemüsestand eine kleine, weißhaarige Dame um die 70, während sie Cherrytomaten in eine Papiertüte packt. Die Kundin lächelt. „Und noch ein paar Äpfel?“ Ja, Damennicken. Nachdem sie die Tüte gewogen hat, packt sie noch eine Birne drauf. „Wir kleinen Leute müssen zusammenhalten.“ Verkäuferinnenzwinkern. „Bald ist hier im Kiez nur noch Platz für die Großen. Ich sage: Fünf Jahre noch, dann sind wir alle weg, dann ist hier nur noch Gourmet.“ Wann ist das eigentlich passiert?
09.10 Uhr Kottbusser Tor - Fuck the police
In den Imbissbuden sind die Dönerspieße schon montiert, aber sie drehen sich noch nicht. 50 Kilo sind ein Tag. Oben am Zentrum Kreuzberg, diesem alles überragenden Ungetüm, auf einem der hundert Balkone, ist eine türkische Flagge zu sehen. Nur eine. Wie zum Beweis, dass es stimmt: dass immer mehr Türken hier wegziehen müssen, wegen der Mietpreise. Fuck the police, steht in sorgfältiger, schwarzer Schrift an der Wand neben dem Bankautomaten. Der Bankraum stinkt warm nach Bier, den Ausdünstungen der letzten Nacht, die unter Umständen erst vor ein paar Minuten zu Ende gegangen ist.
09.35 Uhr Kottbusser Tor - Headquarter Ströbele
Still liegen die Straßen am Kottbusser Tor. Heruntergelassenes Gitter beim Grünen-Wahlkreisbüro, Ströbeles Headquarter, geöffnet nur Montagmorgen, Dienstagmorgen und Donnerstagnachmittag. Absolute Mehrheit eh garantiert. „We love you“, hat jemand unter Ströbeles Namen gepinselt.
Die Einzigen, die unterwegs sind, mit irgendeinem Ziel, sind Eltern mit ihren Kindergartenkindern. Eines zottelt in Schneeanzug und Ringelmützchen neben dem Papa her. Na, was bist du, Käpt’n Schlurfi?, fragt der Vater. Selber Käpt’n Urfi, antwortet der Sohn. Jaja, sagt der Vater.
10.15 Uhr Mehringplatz - Die tägliche Runde
Rechts oder links. Intervention oder Prävention. Das wechselt hier ständig auf dem rundesten Platz Berlins, der wie ein doppelter Kornkreis in die Stadt gestanzt worden ist. Hieß sogar bis 1815 mal „Das Rondell“. Städtebauliches Fantasia am Halleschen Tor, aber – ob darunter oder wegen was anderem – der Mehringplatz hat gelitten. Dort will man nicht sein. Weil – es wohnen ja offensichtlich schon so viele da. Und gebaut wird immer noch. Beton, Bauplatten, Sandhügel. Die Friedenssäule, die sonst in der Mitte des Platzes golden aufragt, abmontiert und irgendwo zur Restauration gebracht. Die Bauzeit, flexibel: 2013 bis 2014. Ein älterer Herr mit grauer Schiebermütze, fein polierten, braunen Lederschuhen und Rollator steht vor dem Metallgitter und blickt über den Platz. „Wie lang das hier noch gehen soll? Keene Ahnung. Ist ja nie jemand da. Höchstens mal einer und der geht spazieren“, sagt er und lacht, seine eisblauen Augen strahlen. Seit 40 Jahren wohnt er am Mehringplatz. „Früher haben se abjesperrt, jebaut und fertig war’s. Heut sperren se ab und dann passiert erst mal nüscht.“ Dann will er weiter. Seine Runde drehen.
09.35 Uhr Kottbusser Tor - Wir sind immer da
Am U-Bahn-Ausgang stehen die, die kein Ziel haben und keine Arbeit, heute nicht und gestern auch schon nicht. Ihr Leben kennt keine Termine, gliedert sich nicht in Tag und Nacht, sie halten sich an braunen Flaschen fest, murmeln Satzfetzen, kannste mal, willste auch, kommste mit, graue Gesichter und tätowierte Tränen.
11.05 Uhr Marheinekeplatz - Was ist Schafskäse?
Die Gentrifizierung, Kreuzberger Lieblingsvokabel, Entschuldigung für alles, ist hier längst durch. Aber am Obst- und Gemüsestand reden sie noch immer drüber. Sie haben mal ein Einkaufszentrum verhindert. In der Planungsphase. Mit einer Unterschriftenkampagne. „Jetzt kommen die Reichen heimlich, wie Ameisen, sie haben sich zuerst in den Kellern breitgemacht“, sagt die Obstverkäuferin, Mitte 50, und meint die kleinen Boutiquen in den Souterrains der Bergmannstraße. „Die lassen sich nieder, wo wir Kleinen Platz machen müssen, weil wir uns die Mieten nicht mehr leisten konnten“, sagt sie. Dann erzählt sie von früher, von den 80er Jahren, als sie selbst ein Lebensmittelgeschäft in der Bergmannstraße hatte: „Damals wussten die Kunden nicht mal, was Schafskäse ist.“
Kanadischer Cheesecake, Mittagspause am Schlesi und Beziehungsprobleme.
11.20 Uhr Kottbusser Tor - I love Kotti
In der Bäckerei Kiran kostet die Pogaca mit Schafskäsefüllung 60 Cent. Drei Stück: 1,50 Euro. Werden über die vielleicht längste Theke Berlins gereicht. Vorne betritt man die Bäckerei über einen Dönerladen, Spieß läuft gerade an. Hinten läuft sie in einer kleinen, schäbigen Einkaufspassage aus. Türkisches Reisebüro, mazedonischer Barbier, Männer, die aus Fenstern starren. Auf das Minarett der Mevlana-Moschee. Abwarten, Tee trinken. „Chai dauert aber“, sagt die Frau. „O.k., dann doch einen kleinen Kaffee.“ Der Kaffee ist stark, aber was hat man erwartet?
11.55 Uhr Heinrichplatz - Kanadischer Cheesecake
„Schokolade ist Gottes Antwort auf Brokkoli.“ Die kleine Chocolateria „Sünde“ ist neu hier. Der rosafarbene Spruch im Schaufenster wirkt wie ein frecher Mittelfinger in Richtung des alteingesessenen Kraut & Rüben-Bioladens und des Öko-Establishments. Hier geht es um süße Sünden, belgische Schokolade und kanadischen Cheesecake mit Karamell. Unzählige, unglaublich kitschige Marienbilder bitten um die nötige Vergebung.
12.05 Uhr Kottbusser Tor - Wetten dass...?
Gleich links neben dem Café Kotti, auf der Galerie über der Adalbertstraße: tipico. Ort für todsichere Wetten. Piroozi Persepolis oder Esteghlal Teheran? Oder doch lieber San Miguel gegen TNT Tropang, das Bier-Sprengstoff-Duell im Basketball? Astronomische Quoten bei FC Jurmala gegen HJK Helsinki, 15 für Sieg Jurmala, 8,5 für ein Unentschieden. Also einmal auf Remis. Klassische Anfängerwette, denn wer nur nach Quoten setzt, hat schon verloren. Auf den gleichen Schein noch ein Siegtipp für San Miguel, hat ja damals im Spanienurlaub immer so gut geschmeckt, und schon sind zwei Euro weg. Dabei sein ist alles.
12.25 Uhr Schlesisches Tor - Das war doch mal Ghetto-Slum
Murat, Taxifahrer, macht Pause. Schlesi, runde Minipizza, 1,30 Euro. Becher Kaffee. Macht Pause an einem Ort, der mal ein Zuhause war. Wie ein kleines Dorf war das. Da kannte jeder jeden. Murat, 36 Jahre alt, seit zehn Jahren Taxifahrer. In diesem Dorf kannte er jeden. Wusste, das ist der Vater von dem, Grüße. Der Sohn vom Bäcker: Grüßte zurück. Murat macht Pause. Nur noch Gast in der eigenen Erinnerung. Schlesi. Nicht mehr viel übrig, sagt er. Meint nicht die Häuser, meint ein Gefühl. Alles anders. Dahinten jetzt, Hand in Richtung Görlitzer Park, stehen die Dealer. Das gab es damals noch nicht. Da vorne, Hand in Richtung Treptow, liegen die Clubs. Arena. Badeschiff. Wumms, wumms. Visionäre, Touristen. Das gab es damals noch nicht. Das ist Rummel, sagt Murat der Taxifahrer. Kreuzberg, das war doch mal die schlechte Gegend, Ghetto-Slum für die Ausländer, sagt er. Da sind die Deutschen weggezogen. Die Wohnungen kann sich jetzt keiner mehr leisten, sagt er. Jetzt wollen sie alle Leute rausschmeißen, die Kreuzberg zu Kreuzberg gemacht haben.
12.05 Uhr Heinrichplatz - Kathedrale des Biertrinkers
Die Wirtin im Goldenen Hahn wischt eben den Tresen. Abgestandene Bierluft. Kalter Zigarettenrauch. Auf dem Fensterbrett mickern zwei Grünpflanzen vor sich hin. Die ersten Kunden kommen rein: Machste uns zwei? – Fass oder Flasche? – Flasche. – Kommt. So nüchtern und zweckmäßig Ausstattung und Kundengespräch gehalten sind – dies ist eine der bedeutendsten Kathedralen des Kreuzberger Biertrinkers.
12.40 Uhr Mehringplatz - Made am Mehringplatz
Warum wird die Pressspanplatte türkis besprüht? Eine Frau mit Hund macht Halt und fragt den jungen Mann, der eine Spraydose in der Hand hat. Er erklärt’s ihr. Das wird die neue Info-Tafel. Er, Marco Frezzato, schwarze, zum Zopf gebundene Locken, arbeitet im Recyclingladen. Alles wird unter dem Label „MadaMe“ verkauft. Steht für: Made am Mehringplatz. Betrieben vom gemeinnützigen Verein „Die Globale e. V.“ Intervention. Sie meinen es gut an einem Platz, der seinen Platz sucht. Karin Lücker-Aleman ist im Vorstand des Vereins und sagt: „Die Realität ist, dass das Potenzial des Platzes nicht genutzt wird.“ Selten verirren sich Touristen, und wenn, dann fragen sie nach der Friedrichstraße.
13.33 Uhr Kottbusser Tor - Schwerer Gang
Und dann zwei schlimme Assis, schwarze Trainingsanzüge, die mit den Kapuzen dran, um den Hals goldene Kettchen, im Nacken die klassische Fighter-Fasson. Und was gibt’s jetzt, auf die Fresse? Stattdessen fragen die beiden in reinstem Cockney nach dem Weg zum Checkpoint Charlie. Alright, thanks, mate, have a good one. Sie drehen sich um, gehen zur U-Bahn, schweren Schrittes, dem einen ragt ein Stadtplan aus der Schlabberhose.
16.07 Uhr Heinrichplatz - Finn’s Wohnzimmer
Finn, 22, Kreuzberger Junge, läuft vom Bierhimmel, wo er jobbt, zum Bateau Ivre, um zwei Kumpels zu treffen. Nebenan im Jenseits arbeitet seine Freundin. Er wohnt fünf Häuser weiter in der Oranienstraße, „aber das hier ist mein Wohnzimmer“. Hier kennt er jeden. Im Frühling und Sommer sitzt er mit seinen Leuten Abende lang auf den Pollern, Bier und Zigaretten und Chips. Sein Handy klingelt, er muss weiter.
16.31 Uhr Heinrichplatz - Innenansicht
Im Bateau Ivre sind die Fensterplätze am begehrtesten. Von hier aus lässt sich der Heinrichplatz bequem überblicken. Laptop aufgeklappt, Latte nachbestellt. Am Nebentisch zieht sich ein Beziehungsgespräch in die Länge: „Sag doch auch mal was!“ – „Was willst du denn hören?“ – „Keine Ahnung!“ Sie verdreht die Augen. Männer. Draußen kommt ein M 29er, die Leute an der Haltestelle drängen zum Einstieg. Am anderen Tisch geht es um Kochrezepte, ein junger Mann bekennt: „Ich hab jetzt Brokkoli für mich entdeckt.“ Minutenlanges Schweigen im Beziehungsgespräch. Ist Brokkoli jetzt Kreuzbergs Antwort auf Schokolade?
Von Hellsehern, einem Besuch bei den Linken am Mehringplatz und Straßenmusikern am Kotti.
17.55 Uhr Marheinekeplatz - Essen für zwei
Die Eingangstür säumen Laternen. Drinnen singt Paolo Conte „un gelato al limon“ und auf Holztischen stehen Tafeln mit Kochrezepten. In geflochtenen Körbchen sind die für jedes Rezept benötigten Zutaten hergerichtet, daneben steht passender Wein. Kochen on Demand für Leute, die sich mal ausprobieren wollen. Rezept des Monats: Flammkuchen mit Räucherlachs, Babymangold und Pommery-Schnittlauch-Creme. Pommery- Senf-Tütchen, 20 Gramm, liegen zwischen portioniertem Mangold und den Mehlbriefchen. Eine Kundin steuert Glasnudelsalat mit gerösteten Shiitakepilzen und Limetten-Chili-Marinade an. Dann weiter zur Perlhuhnbrust mit Kürbiskernrisotto, violetten Karotten und Topinambur. Sie lächelt ihren Mann an, der neben ihr zum Stehen kommt. Er blickt kurz prüfend auf die Tafel, nickt dann.
18.38 Uhr Heinrichplatz - Klangschalen und Hellseher
„Hellsehen – ehrlich, seriös, professionell“ verspricht die spirituelle Buchhandlung Mondlicht. Die halbe Stunde für 33 Euro. Dringenden Bedarf, in die Zukunft zu sehen, haben die Leute vom Heinrichplatz nicht. Draußen rumpelt der M 29er. Hier tönen die Klangschalen.
19.10 Uhr Mehringplatz - Steigende Miete
Im Wahlkreisbüro von Halina Wawzyniak hängen Ballons und Luftschlangen an der Tür. Die Abgeordnete der Linken hat zur Eröffnung ihres neuen Büros eingeladen. Tatsächlich lag das alte Büro nur eine Tür weiter, doch der Vermieter drohte mit Mieterhöhung. Prävention. An der Tür zwischen Vorzimmer und Besprechungsraum ein Plakat der Linken: „Damit wohnen bezahlbar bleibt.“ Es ist jetzt voll geworden. Wawzyniak betreibt im Grunde ein Kiezbüro. Die Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Problemen zu ihr. Mal geht es ums Jobcenter, um Ärger mit dem Vermieter oder um die Eröffnung eines Bankkontos, die verwehrt wird. „Manchmal hilft es einfach, wenn wir an den verschiedenen Stellen noch mal nachhaken“, sagt Wawzyniak. Warum ist ausgerechnet der Mehringplatz ihr Standort geworden? „Ich wollte unbedingt an einem Ort, der nicht ganz einfach ist.“
20.32 Uhr Kottbusser Tor - Treffpunkt Kaisers
An der Ecke vom Kaiser’s spielt einer seinen E-Bass. Mozart. Türkischer Marsch. Der Einzige, der zuhört, ist ein Obdachloser, der, Plastikbecher in der Hand, daneben kauert, die Augen zwei Schlitze. Der Bassist hat eine bunte Wollmütze auf, neben ihm steht ein winziger Verstärkerkasten. Mozart ist vorbei, in die Pause die Frage: Von Beruf Musiker? Ja, sagt er, nein, sagt er, beruflicher Straßenmusiker. Er lacht. Aus dem Kaukasus kommt er, ursprünglich. Im aufgeklappten Bassgitarrenkoffer liegen ein paar Münzen. Und was ist ein guter Abend? Fünfzehn Euro, sagt er. Was soll ich spielen?, fragt er und reibt sich die Finger. Bach? Dann spielt er die erste Cello-Suite, erster Satz. Nach den ersten Takten kommt einer aus dem Supermarkt und zieht auf einer klapprigen Sackkarre einen Kasten Augustiner hinter sich her. Er ist kaum um die Ecke, da knallt ihm der Kasten aufs holprige Kreuzberger Pflaster. Es ist wie ein Tusch, den Bach nie komponiert hätte.
21.15 Uhr Mehringplatz - Bier und Zitronen bei Uschi
In Uschi’s Kneipe ist Uschi nicht da. Dafür Uli, der einzige Gast. Der sitzt an der Bar und trinkt. Mehr Korn als Kreis. Doch eigentlich ist sein Blick auf die drei Spielautomaten gerichtet. Bananen, Pflaumen und Zitronen, rasender Obstsalat. An der Wand laminierte Sprüche: „Ein Leben ohne Bier ist möglich, aber nicht sinnvoll“. „Gleich machst du den großen Wurf, Uli“, sagt der Barmann. Uli trägt Zimmermannshose und Karo-Hemd. Den zweiten Automaten bringt er mit drei Euro in Schwung, Einsatz pro Spiel: 30 Cent. Eine Runde, zwei Runden, drei. Dann: Treffer. 50 Euro Gewinn. Keine Freude. „Naja, ich hab heut ja auch schon ’nen Hunderter eingesetzt.“ Im Monat gehen so schon mal tausend Euro drauf. „Das ist halt ’ne Sucht.“ Ernüchternde Ehrlichkeit. Im Hintergrund singt Bosse „Und Berlin war wie New York.“
21.42 Uhr Heinrichplatz - Elefanten und Zitronen
„Für immer Punk“, singen Die Goldenen Zitronen im Elefanten, auch heute Abend wieder. Gemischtes Publikum: ein paar neugierige Hipster, ein paar ehemalige Hausbesetzer und Straßenkämpfer aus legendären SO-36-Zeiten. „Am 1. Mai war’n alle dabei“, sagt einer, „und der Heinrichplatz übersät von Steinen! Von Tränengas eingeweicht! Und dann brannte Bolle, da hinten!“ Er sinniert über seinem Bier, winkt müde ab, weiß es ja selbst: „Opa erzählt vom Krieg.“ Seinem Nachbarn fällt noch ein: „Die Ärzte, weißte, die haben ihr erstes Konzert hier am Heinrichplatz gespielt, in ’nem besetzten Haus!“
22.05 Uhr Kottbusser Tor - Quartiermeister
In der Multi-Layer-Bar sitzt man auf gestapelten Euro-Paletten. Von der Decke hängen Teelichter und ein Flohmarkt-Kronleuchter. Das Bier ist gemeinnützig und heißt Quartiermeister. Für jede Flasche, die hier getrunken wird, fließt Geld in soziale Nachbarschaftsprojekte. Obacht vor dem Taschendieb, steht über der Tür. „Ja, wir haben hier immer mal wieder ein paar Jugendliche“, sagt der Barmann, aus den umliegenden Häusern. „Die wollen auch ein bisschen profitieren, sagen wir’s mal so. Die stehen dann am Eingang rum und schauen, wo vielleicht eine Tasche rumliegt oder eine Jacke. Aber mittlerweile haben wir das ganz gut im Griff.“ Im Lonely-Planet stehen sie nicht. Ist schon okay hier, sagt der Barmann und ist glücklich. Worüber? „Dass wir keine Junggesellengruppen oder so einen Mist hier haben.“ Daraufhin eine dieser Unterhaltungen, in deren Verlauf es immer unklarer wird, wer wen verdrängt und wohin.
23.50 Uhr Schlesisches Tor - Das Versprechen
Vor dem Watergate, mit Blick auf das Wasser, steht da ein Pärchen. Sind offensichtlich zu früh. Hoffen noch. Nachher. Das Schlesi-Versprechen. Hoffen, dass noch etwas passiert. Sie sagt: „Berlin ist ein Tanzbär.“ Noch aber lässt die Invasion auf sich warten, wenn das Partyvolk aus den U-Bahnwaggons schwappt, Bierflaschen in der Hand, Feierwut im Bauch. Es ist Freitag, es ist trotzdem: nüscht los. Als wären alle woanders. In Neukölln vielleicht. Neukölln, das gleich hinter dem Görli beginnt. Neukölln, mit seinen Bars, das Bier unter drei Euro. Neukölln, das gerade so ist, wie Kreuzberg mal war. Wann ist das eigentlich passiert?