Im Portrait: Hobbyhistoriker Dirk Jordan: Der Chronist
In Berlin-Zehlendorf will ein Mann die Geschichte der Deutschen nicht ruhen lassen. Ein Portrait des ehemaligen Grünen-Stadtrats, Grundschullehrers, Reisenden und Hobbyhistorikers Dirk Jordan.
Ein junger Mann liegt in seinem Schlafsack und ist gerade dabei, ein Stück europäische Geschichte zu verschlafen. Seine Mitreisenden wecken ihn unter dem Hinweis auf die einrückenden sowjetischen Panzer. „Lasst mich in Ruhe“, grummelt der Schläfer, „das kommt in meiner Analyse nicht vor“. Und dreht sich noch einmal um.
Der junge Mann, der auf einer Kirchenfreizeit am frühen Morgen des 21. Augusts fast den Beginn der Niederschlagung des Prager Frühlings verpasst hat, heißt Dirk Jordan. Ob sich die Anekdote tatsächlich so zugetragen hat, weiß der heute 71-Jährige nicht mehr genau, sie ist ihm ein wenig peinlich. Dennoch erzählt er sie nicht ohne Stolz. Er war dabei, als Geschichte geschrieben wurde.
Bis heute bestimmt Geschichte wesentliche Teile von Dirk Jordans Alltag. Der hochgewachsene Mann aus dem vornehmen Zehlendorfer Ortsteil Schlachtensee, hellgraue Haare, buschige Augenbrauen, engagiert sich ehrenamtlich in der Erinnerungskultur. Er verfasst Artikel über das Schicksal von Juden vor und während des Nationalsozialismus, wälzt dicke Akten. Auch bei Wind und Wetter besucht er Stolperstein-Verlegungen. Viele seiner Berichte wurden im Tagesspiegel Steglitz-Zehlendorf veröffentlicht, darunter eine Serie über „Stille Helden“ im Nationalsozialismus. Er ist ein Chronist, auch was seine eigene Familie angeht. Auf seiner Website listet er zahlreiche Lebensereignisse auf.
Sein Gedächtnis gleicht einem Aktenschrank
Wenn man mit Dirk Jordan im Auto durch seinen Bezirk fährt, muss man sich auf eine lehrreiche, alle paar Minuten von stadthistorischen Blitz-Seminaren unterbrochene Fahrt einstellen. Sein Gedächtnis gleicht einem Aktenschrank, angefüllt mit detailreichen Informationen über Immobilien und deren Vorgeschichte. Das Haus auf der anderen Seite des Parks war mal ein Kindergarten. Die Villa dort drüben hat einmal einer jüdischen Familie gehört, die von den Nazis vertrieben wurde. Und hier an dem Tor des Hauses, wo er selbst als Kind aufgewachsen ist, prangen noch die Initialen der jüdischen Vorbesitzerin. Ob die heutigen Bewohner davon wissen? „Keine Ahnung“, sagt Jordan. Sobald sein dazugehöriger Artikel im Jahresjournal des Heimatvereins erschienen ist, wird er sie persönlich davon in Kenntnis setzen.
Im Studentenalter zog es Jordan in Richtung Kreuzberg, wo die Familie seit mittlerweile rund hundert Jahren ein Haus besitzt. Dort wohnte er zusammen mit seiner Frau Inge, einer späteren Gesamtschullehrerin für Französisch und Deutsch, in einer sechs-köpfigen Wohngemeinschaft. Hier erlebte er die 68er, war in der Studentenbewegung aktiv. In den Achtziger Jahren wurde ihm ein Berufsverbot auferlegt. Warum genau, verrät Jordan, der zwischenzeitlich als Grundschullehrer gearbeitet hat, nicht. Nur so viel: „Ich glaube, ich war ein ganz harmloser Fall.“ Später engagierte er sich bei den Grünen unter anderem als Volksbildungsstadtrat, wo im Zuge einer großen Verwaltungsreform sein bürokratisches Talent gefordert war. Dieses sollte ihm später bei seiner Erinnerungsarbeit noch zugutekommen. Akten sind sein Metier, wer die Geschichte der Judenverfolgung aufarbeiten will, kommt um eine akribische Arbeit im Archiv nicht herum. Und Jordan stürzt sich in Arbeit. Verspürt er Schuld?
„Schuld ist ein schwieriger Begriff“, sagt Jordan. Seinen Vater, der im Krieg starb, hatte er nie kennengelernt, seine Mutter war eine Anhängerin Hitlers. Ein gefestigtes nationalsozialistisches Weltbild habe sie allerdings nicht gehabt, erzählt er, sie sei eher mitgerissen worden von der Massendynamik und später von ihren Positionen abgerückt. Von einer Verklärung der NS-Zeit ist bei Jordan allerdings nichts zu spüren. Er hat einen nüchternen, realistischen Blick auf die Geschehnisse und spricht präzise, auch wenn er sich immer wieder selbst ins Wort fällt. Er benutzt Formulierungen wie „als Juden Verfolgte“, um nicht der das Judentum rassifizierenden Logik der „Nürnberger Gesetze“ auf den Leim zu gehen. Neben den Artikeln auf seiner Homepage und im Tagesspiegel Steglitz-Zehlendorf engagiert sich Jordan in der AG Spurensuche der Kirchengemeinde Schlachtensee. Die Arbeitsgemeinschaft erforscht das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus im Ortsteil. Jordan kämpft gegen das Vergessen der Opfer an, und für eine angemessene Würdigung der Helden.
Wie bei Margarethe und Getrud Kaulitz. Die beiden Schwestern lebten in einem Haus in der Nähe von Jordans Elternhaus und wurden 1966 vom Berliner Senat als „Unbesungene Helden“ geehrt. Sie hatten zeitweise bis zu 17 Menschen vor den nationalsozialistischen Häschern in ihrem Haus im Eiderstedter Weg versteckt und so vor der Vernichtung bewahrt. Jordan machte es sich zur Aufgabe, in einem ausführlichen Artikel den Lebensweg der beiden nachzuzeichnen und die Form der Anerkennung, den beide nach Kriegsende erfuhren, zur Debatte zu stellen. „Wie kamen die beiden Frauen dazu, sich mutig und menschlich in der NS-Zeit zu verhalten?“ schreibt Jordan.
Ihn stören vor allem verwaltungsmäßige Schwächen im Vorfeld der Ehrung. So habe es einige Jahre gedauert, bis das entsprechende Gesuch von den Behörden überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, dann noch einmal mehrere Jahre, um zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Jordan sagt: „Liest man heute die Akten, gewinnt man den Eindruck, dass der bürokratische Aufwand den Wunsch, diese vorbildlich selbstlosen und mutigen Menschen im Alter eine Ehrung und Hilfe zukommen zu lassen, überwucherte.“ Jordans Artikel sind lang, voller ausführlicher Zitate und Quellverweisen. Schon vor Jahrzehnten kämpfte er sich durch Aktenberge, im Landesarchiv hatte er rund 1500 Akten durchgearbeitet und neu geordnet, „bis ich staubige Finger bekam.“
Es sei damals sehr häufig zu Verzögerungen bei der Anerkennung solcher Helden gekommen, erzählt Jordan. Das habe vor allem mit dem gesellschaftlichen Klima in Nachkriegsdeutschland zu tun gehabt. „Es war nicht opportun, öffentlich zu machen: Ich habe geholfen.“ Viele Leute waren auf die eine oder andere Weise in nationalsozialistische Verbrechen verstrickt. „Die konnten es nicht ertragen, dass es auch Aufrechte gab.“ Dazu kam die oft kalte, bürokratische Sprache, die in den Unterlagen zu Entschädigungen zu finden gewesen sei. „Da wurde entschieden: Ist diese Tat nun 50 Mark wert, eine lebenslange Rente, oder nur eine Urkunde?“ In einem Fall sollte einer Frau die Ehrung verweigert werden, weil sie als Prostituierte gearbeitet hatte.
Der Pragmatismus trieb ihn in die Archive
Von einem persönlichen Schuldgefühl getrieben wirkt er nicht, auch Ideologie oder missionarischer Eifer scheinen ihm fernzuliegen. Es ist dieser Pragmatismus, der ihn schon vor Jahrzehnten weniger auf die Barrikaden als in verstaubte Archive trieb. Dazu gehört auch, einfache Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Als das Betriebsklima in den Achtzigern im Kreuzberger Grünen-Büro einen Tiefstand erreichte, besorgte Jordan eine Kaffeemaschine. „Das war eine Kleinigkeit“, sagt Jordan, „hat aber funktioniert“.
Dirk Jordan ist ein bodenständiger Realpolitiker. Er bekennt sich offen zu Joschka Fischer, ein Mann, der bei vielen Grünen bis heute Schnappatmung auslöst. Gerhard Schröders ehemaliger Außenminister steht seit seinem Ja zur deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg immerhin für den Bruch mit den Prinzipien der Gewaltfreiheit, auf die die grüne Partei lange stolz war. „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.“, hatte Fischer seine Entscheidung damals begründet. Ein Grundsatz, den wohl auch Dirk Jordan unterschreiben würde.
Seine Erinnerungsarbeit ist oft von Reflexionen und Weltschmerz geprägt
Inspiration holt er sich auch auf seinen zahlreichen Reisen. Vor einigen Jahren, es herrschte gerade relativer Frieden, unternahm er mit der Heinrich-Böll-Stiftung eine Reise nach Israel und in die Palästinensergebiete. Vom antiisraelischen Geist der 68er-Bewegung spürt man bei ihm nichts. Aus seinem Reisebericht, den er wie so vieles auf seiner Website veröffentlicht hat, spricht Respekt, Verständnis für die Situation der bedrängten Juden in Nahost: „Auf den Dächern der jüdischen Siedlerhäuser sehen wir auch Wachtürme. Zeichen der Stärke oder der Schwäche?“ Es ist ein langer, nachdenklicher Reisebericht, voller Reflexionen, Gedankensprünge, Weltschmerz. Wie vieles bei Jordan. Nach seiner Zeit in den linken Kreisen Kreuzbergs verschlug es Jordan wieder zurück ins gesittete Zehlendorf, zurück nach Schlachtensee. In der alten WG, in der er mit seiner Frau Inge lebte, wohnt jetzt seine Tochter mit ihrer Familie. Jordans Engagement hat nur bedingt auf seine beiden Kinder – Zwillinge Ende Dreißig – abgefärbt. In ihren Berufen könnten sie unterschiedlicher nicht sein: Tochter Katrin arbeitet als Wirtschaftsreferentin in der amerikanischen Botschaft in Berlin, Sohn Florian ist Demeter-Gemüsebauer in Norddeutschland.
Dass seine Kinder die Erinnerungsarbeit fortführen werden, wenn er sich zur Ruhe setzt, ist unwahrscheinlich. „In der Gedenkarbeit werden Sie viele Grauhaarige finden“, sagt Jordan. Und so werden auch seine Arbeitsergebnisse irgendwann in den Aktenschrank wandern und darauf warten, dass sie von staubigen Fingern wieder hervorgeholt werden.
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