Zehlendorfer Heimatgeschichte, Teil 1 der Serie: Stille Heldinnen in der NS-Zeit: Die Schwestern Kaulitz
Wer hat Verfolgten in der NS-Zeit geholfen? Auch in Zehlendorf gibt es diese "Stillen Helden", aber kaum jemand kennt sie. Der Autor Dirk Jordan stellt sie in loser Reihenfolge im Zehlendorf Blog vor. Teil 1: Die Schwestern Gertrud und Margarethe Kaulitz.
Menschen, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus "tatkräftig, uneigennützig und häufig unter eigener Gefährdung für die vom Nationalsozialismus bedrängten Verfolgten eingesetzt haben", haben dies häufig in aller Stille getan. Sie als "Stille Helden" zu bezeichnen, dient ihrer Ehrung. Es beschreibt aber zugleich auch ihre Situation heute. Es ist still um sie geworden, und es ist mühsam, die Erinnerung an sie wachzuhalten, auch in Zehlendorf. Bei meinen Nachforschungen im vorigen Jahr musste ich feststellen: Niemand im Bezirk oder Berlin kennt ihre Namen, es gibt kein Gedenkbuch, auch nicht in der Gedenkstätte der Stillen Helden in der Rosenthaler Straße. Vermutlich sind es Zehntausende in Berlin, die sich anständig und menschlich verhalten haben. Sie sind auch ein Teil des „anderen Deutschlands“, aber viel weniger bekannt als der Widerstand.
Zwei Schwestern, die Schwestern Gertrud und Margarethe Kaulitz aus dem Eiderstedter Weg 33b in Schlachtensee, gehören auch dazu. Ihr unscheinbares Reihenhaus war in der NS-Zeit für viele verfolgte Juden eine rettende Insel. Die Schwestern Kaulitz haben in ihrem Haus verfolgte Juden versteckt und ihnen zur Flucht verholfen, obwohl das Haus voll von anderen Untermietern war und keine 100 Meter entfernt im Eiderstedter Weg 35a der SS-Gruppenführer Karl Zech wohnte. Zu denen, denen sie nachgewiesener Maßen geholfen haben, gehören der Chemiker Dr. Felix Bobek, die vom Judentum zum Katholizismus konvertierte theologische Schriftstellerin und Übersetzerin Annie Kraus und das Zahnarztehepaar Dr. Ernst und Lucy Nachmann.
Die Geschwister Kaulitz sind für ihr mutiges Eintreten für Verfolgte des NS-Regimes vom Berliner Senat 1966 als "Unbesungene Helden" geehrt worden. Leider kam für Gertrud Kaulitz die Ehrung 14 Tage zu spät, sie verstarb vor der entscheidenden Senatssitzung.
Gertrud Kaulitz war Klavierlehrerin und stammte aus Wolfenbüttel. Sie war zumindest schon seit zirka 1910 in Schlachtensee/Nikolassee als Klavierlehrerin tätig, und Schülerinnen von ihr erinnern sich noch gut an sie und ihre starke Persönlichkeit. Mit den schlichten und einfach menschlichen Worten beschrieb sie ihre Haltung selber: "In der NS Zeit bestand weiterhin die freundschaftliche Verbindung fort und als die Deportationen einsetzten, nahm ich meine Freunde, die in die Illegalität gingen, auf. Diese brachten häufig Angehörige und Bekannte mit, so dass ich zeitweise bis zu 17 Personen hier in meinem Hause beherbergte. Meistens wusste ich noch nicht einmal die Namen der Verfolgten. Ohne die Mithilfe meiner Schwester wäre mir diese Beherbung niemals möglich gewesen."
Als Erster kam Dr. Felix Bobek im Oktober 1935 an die Tür im Eiderstedter Weg 33b. Er war bis 1933 bei Osram beschäftigt, aufgrund seiner jüdischen Herkunft verlor er Ende September 1933 seine Anstellung. Er war schon vorher in Kontakt zu Gruppen der KPD gekommen und entwickelte für sie ein Verfahren, mit dem es gelang, die belichtete Schicht eines Filmes von der Trägerschicht zu lösen, so dass im zusammengefalteten Zustand ein Film von 1,6 m Länge die Größe einer Rasierklinge hatte. Aufgrund eines Verrats aus KPD-Kreisen wurde er im Mai. 1935 verhaftet. Es gelang ihm aber am 4.Oktober 1935 bei einer Ausführung zu einem Zahnarzt zu fliehen. Gertrud Kaulitz vermittelte ihm die Möglichkeit des Verstecks auf der Hühnerfarm ihrer Schwester in Markendorf bei Jüterbog.
Sein Zufluchtsort auf der Hühnerfarm ist auch wieder durch Verrat aus KPD-Kreisen der Gestapo bekannt geworden. Dr. Bobek wurde vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 22. Januar 1938 in Plötzensee hingerichtet. Obwohl diese Unterstützung für die Schwestern Kaulitz schon mit erheblichen Gefahren verbunden war und sie den Zugriff durch die Gestapo fürchten mussten, blieben die Schwestern in ihrer Haltung unbeirrt.
Die zweite Person, über die zu berichten ist, ist Annie Kraus, eine katholische theologische Schriftstellerin und Übersetzerin: Sie war seit 1936 eine Untermieterin bei Gertrud Kaulitz, die sich vermutlich bei Vorträgen in der Lessinghochschule kennengelernt hatte. Annie Kraus stammte aus einer jüdischen Familie. Sie studierte Philosophie und ging 1928 nach Berlin, wo sie bei dem Staatsrechtler Carl Schmitt etwa ein Jahr lang als Sekretärin und Hausdame arbeitete. In dieser Zeit knüpfte sie Kontakte zu katholischen Intellektuellen und konvertierte in der Illegalität 1942 zum Katholizismus. In Berlin arbeitete sie unter anderem auch als Sprachlehrerin und Übersetzerin.
Im Januar 1942 erhielt Annie Kraus die Aufforderung, sich zum Abtransport in den Osten zu melden. Mit Hilfe ihrer damaligen Vermieterin Gertrud Kaulitz fingierte sie einen Selbstmord und tauchte unter. Zunächst fand sie Unterschlupf bei Hanna Solf. Später verließ Annie Kraus Berlin und fand schließlich eine Unterkunft in Schattwald in Nordtirol. Das Kriegsende erlebte sie verarmt und gesundheitlich bis zur Arbeitsunfähigkeit erschöpft dort. Obwohl selbst mittellos, unterstützte sie ihre Helfer in Berlin und Bayern mit Lebensmittelsendungen. Sie nahm ihre publizistischen Aktivitäten wieder auf. 1954 zog sie nach Innsbruck, wo sie mit dem Kreis um Karl Rahner in Berührung kam und für ihn bis zu ihrem Lebensende 1991 arbeitete.
Lieber Leser: Wer kennt Lucie Strewe?
So wie die Schwestern Kaulitz gab es viele andere in Zehlendorf, die geholfen haben. Zum Beispiel Lucie Strewe. Sie hat unter anderem zusammen mit dem Lehrer Dr. Erich Kühn (Am Fischtal 55) Josef Scherek geholfen zu überleben, der im Sommer auf seinem Faltboot am Wannsee schlief und lebte und sonst in Quartieren in der Stadt. Lucie Strewe zog mit ihrer Familie 1944 nach Zehlendorf, zuerst in die Spanische Allee 84, dann in den Albiger Weg 16 und später in der Fischerhüttenstraße 56a. Sie war mit dem bekannten Journalisten und China-/Japan-Kenner Theodor Strewe verheiratet, hatte Kinder und sechs Enkel, wie sie in einem Bericht nach dem Krieg schrieb. Nach dem Krieg war sie weiter im Bezirk aktiv und hat sich etwa in der Sozialkommission IX in Nikolassee engagiert und wurde in den 60er Jahren vom Berliner Senat als „Unbesungene Heldin“ geehrt. Um an sie zu erinnern, bereite ich einen kleinen Artikel für das nächste Jahrbuch des Heimatvereins Zehlendorf vor und frage daher auf diesem Weg, ob jemand von Ihnen Lucie Strewe noch kennengelernt hat oder von ihrer Familie etwas weiß.
Der Autor Dirk Jordan (69) war lange Jahre Volksbildungsstadtrat in Kreuzberg und lebt in Schlachtensee. Sie erreichen ihn über seine Homepage oder den Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.
Dirk Jordan