Zehlendorfer Geschichte: Teil 4 der Serie "Stille Helden": Lucie Strewe und ihr Mut zur Menschlichkeit
Mit 86 hat sie noch in der Krummen Lanke gebadet, und mit ihrer Enkelin las sie Laotses Weisheiten. Lucie Strewe hat Verfolgten im Nationalsozialismus geholfen, weil sie es für eine Selbstverständlichkeit hielt. Lesen Sie Teil 4 unserer Serie über die "Stillen Helden" Zehlendorfs.
Mit 82 begab sie sich auf die lange Schiffsreise nach Australien, um den Sohn noch einmal wiederzusehen, der 1937 fluchtartig Berlin verlassen musste, weil die Gestapo ihn schon in ihren Fängen hatte. Noch mit 86 ist sie fast jeden Tag zur Krumme Lanke gegangen, um zu baden bis in den späten Herbst. Mit 92 hat sie noch täglich den Tagesspiegel gelesen. Nach 96 langen Jahren ist sie gestorben und wurde auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof 1981 begraben. Das waren letzten Jahre der Lucie Strewe.
Und die ersten? Sie ist als „höhere Tochter“ eines Richters in Fulda aufgewachsen, 1905 mit 18 nach Frankfurt zu den Suffragetten gezogen, dort hat sie den Mann ihres Lebens kennen und lieben gelernt, ist mit ihm in die Schweiz vor der Familie ausgebüxt, um zu heiraten, und mit 20 ist sie mit ihm für 12 Jahre nach China gegangen und hat dort ihre zwei Söhne geboren.
Welch ein Lebensbogen, der fast das ganze 20. Jahrhundert überspannt und in dessen Mitte die dunkle Zeit der NS-Diktatur und der Judenverfolgung und –vernichtung liegt, der sie sich wiedersetzte, Menschen Unterschlupf und Unterstützung bot, im Stillen half, sich nicht als „Heldin“ fühlte, sondern nur das tat, was sie „eigentlich als eine Selbstverständlichkeit“ empfand.
Diese wenigen Stichworte umreißen das Leben von Lucie Strewe, die in unserer Mitte gewohnt und gelebt hat. Seit 1943 in der Spanischen Alle, dann im Albiger Weg und seit den 50er Jahren in der Fischerhüttenstraße 56a.
Wie kommt jemand dazu, „trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung“, wie einer der von ihr Geretteten schreibt, sich so anständig und widerständig zu zeigen?
Lucie Strewe, geborene Schotten, wurde am 30. Juni 1887 in Hilders bei Fulda geboren, der Vater war dort Richter, ein liberaler Richter, sie stammte also aus gutbürgerlichem Hause, es wurde dort viel musiziert, sie selber hat Klavier gespielt, mit „Gerechtigkeit“ als zentralem Wert ist sie groß geworden, das prägte auch ihr weiteres Leben.
Sie heiratete den Chinaexperten Theodor M. Strewe, der nach der Rückkehr aus China jahrelang als Journalist bei der konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) tätig war und auch im Auftrag der Reichsregierung China mit Kommissionen bereiste und noch nach dem Krieg vom Spiegel 1950 als Chinaexperte interviewt wurde. Das mag der Hintergrund für das „trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung“ gewesen sein.
Was verband diese beiden von Herkunft und Charakter doch sehr unterschiedlichen Menschen?
Beide, Lucie wie Theodor M. Strewe, waren Hasser der Nazis, er war ein konservativer Mensch auch in seinen politischen Anschauungen, während sie aus einer gewissen Oppositionshaltung und weil sie so freidenkend war, in die kommunistischen Partei eintrat, wie auch ihr Sohn. Sie selbst hat auch Flugblätter verteilt bzw. ihren Sohn, Odo darin unterstützt.
Die Recherche führte bis nach Australien
Auch wenn Theodor M. Strewe die politischen Ziele seiner Frau und seines Sohnes nicht teilte und auch in Gesprächen am gemeinsamen Esstisch auf den Widerspruch zwischen ihrer privilegierten Situation und den von ihnen vertretenen revolutionären Forderungen der KPD hinwies, hat er sie immer geschützt und war so „ehrlich“ konservativ, dass er mit den Nazis nicht anbandelte, obwohl es für seine Tätigkeit hilfreich gewesen wäre. Er hat auch seine journalistische Tätigkeit bei der DAZ von sich aus aufgegeben.
Diese total unterschiedlichen, aber doch „ehrlichen“ Grundüberzeugungen haben es wohl auch ermöglicht, dass sich beide respektierten und zusammenleben konnten.
Von Lucie Strewe hat mir ihre Enkelin Sunni Strewe erzählt, die heute bei Augsburg lebt. Über die Wege der Recherche, die mich bis nach Australien führten, habe ich schon kurz berichtet.
Während „M. Th. Strewe“, wie die Familie ihn nannte, ein „Wirtschaftsmensch“ war und dafür lebte, galt für Lucie Strewe nur der Mensch, sie wollte keine Gewalt, war „für den Frieden“, auch nach dem Krieg beim Wiederaufbau, dementsprechend hatte sie, aber vor allem auch ihr Sohn Odo, Kontakte zur DDR.
Mit der Zeit wurde ihr klar, dass ihre Freiheitsliebe und der Stalinismus nicht zusammen passten. Sie ist nach dem Krieg in keiner Partei mehr gewesen. Sie war dann fast eher schon Anarchistin, wie die Enkeltochter Sunni Strewe meinte: „Ich habe keinen freiheitlicher denkenden Menschen kennen gelernt, als meine Großmutter.“
Lucie Strewe war kein religiöser Mensch, hat aber darauf bestanden, dass ihre Kinder evangelisch getauft wurden, während die Familie Strewe eigentlich katholisch war. Sie war ein ganz bescheidener Mensch, war sehr philosophisch, hat sehr viele Gespräche geführt, eigentlich war sie dem Buddhismus nahe, nicht als Religion aber als Lebenshaltung, sie las mit der Enkelin Laotse und „die Weisheit des Lebens habe ich durch sie kennen gelernt". (Sunni Strewe) Sie war so innerlich reich an Gedanken, Träumen und Vision, Familie war ihr wichtig, die muss in Ordnung sein. Ihre Enkel nannten sie „Mucha“ oder „Lux“, das war der Tarnname ihre Sohns Odo, Otto Lux, gewesen.
Sie war auch ein Mensch der Poesie
Sie sah toll aus, schon mit 20 hatte sie weiße Haare und eine braune Haut, eine interessante Frau. Freikörperkultur und Tanz das waren ihre Richtung, bei Marry Wiggmann nahm sie Kurse. Sie ist bis zu ihrem 86. Lebensjahr in die Krumme Lanke zum Baden gegangen, bis in den späten Herbst hinein, sie lebte im Alter von einer Sozialrente. Sie hatte keine wirklichen Freundinnen, die Frauen in ihrem Alter waren ihr viel zu konservativ, aber auch in der KPD war sie nie richtig heimisch gewesen, sie war ja die Frau von „M. Th. Strewe“.
Lucie Strewe war auch ein Mensch der Poesie, sie hat viele Gedichte und Märchen geschrieben. Für ihre Enkeltochter verfasste sie im Alter mehrere „Bücher“, das waren dickere Hefte, in die sie kleine Zeitungsausschnitte, eigene Zeichnungen und ihre Gedanken und Gedichte eintrug.
Auf dem Hintergrund dieser Beschreibungen wird vielleicht eher begreifbar, dass sich Lucie Strewe in der NS-Zeit „tatkräftig, uneigennützig und häufig unter eigener Gefährdung für die vom Nationalsozialismus bedrängten Verfolgten eingesetzt“ hat, wie die spätere Formulierung für die vom Senat geehrten „Unbesungenen Helden“ lautet. Allerdings bekannt war das den Wenigsten. Selbst in dem so verdienstvollen Werk von Hans-Rainer Sandvoß über den Widerstand in Steglitz und Zehlendorf heißt es:
„Wenig bekannt ist über einen Kreis um Lucie Strewe, die sich bei der Rettung rassisch Verfolgter auf mehrere Helfer in Zehlendorf stützen konnte. Man brachte die Schützlinge in der Spanischen Allee [84], der Bahnhofstraße([112]), am Albiger Weg [16] und in der Onkel-Tom-Siedlung (Am Fischtal [55]) bei Dr. Kühn (geb. 1892, Lehrer) unter. Sechs Monate lang lebte ein „U-Boot" — wie sich die untergetauchten Juden selber nannten — auf einem Paddelboot im Wannsee. Bei Frosteintritt mußte dieses Quartier Ende 1943 wieder verlassen werden.“
Dieses „U-Boot“ war Josef Scherek. Er war vor 1933 Warenhausleiter beim Tietz & Karstadt Konzern. Sein Vater war Oberregierungsrat im Preußischen Staatsministerium und unter der Regierung Braun-Severing stellvertretender Pressechef der Preußischen Staatsregierung gewesen.
Heimlich trafen sich Mutter und Sohn
Er galt unter den Nazis als „Geltungsjude“, da er als „Mischling“ jüdisch erzogen worden war. Er lebte 1933 bis 1943 in der Wohnung seiner „arischen“ Mutter und verlor durch die Ausbombung dieser Wohnung die schützende Umgebung. Seit 1939 war er schon zur Zwangsarbeit herangezogen worden. 1943 wurde er von der Arbeitsstelle hinweg verhaftet und eine Zeit lang festgehalten. Nach der Ausbombung musste er in die Illegalität abtauchen, um sich vor der Verhaftung und Vernichtung zu schützen. Die Deportationen der Berliner Juden hatten ja schon 1941 begonnen und erreichte 1943 ihren Höhepunkt mit 21 „Osttransporten“.
Lucie Strewe kannte nach eigener Aussage Frau Scherek seit 1938 und war mit ihr befreundet. In ihrer Wohnung (Württembergische Straße 25) gab es in der Zeit vor der Ausbombung „in aller Heimlichkeit“ gelegentliche Zusammentreffen mit der Mutter und dem Sohn.
Sie hat den Sohn auch nach der Ausbombung der Familie Scherek unterstützt und beim Untertauchen in die Illegalität mit den anderen Helfern bekannt gemacht. Der Kontakt bestand auch nach dem Umzug der Familie Strewe in die Spanische Allee 84 fort. Die eigene Wohnung in der Württembergischen Straße war auch ausgebombt worden.
Welche Bedeutung Herr Scherek der Hilfe zugemessen hat, die er von Lucie Strewe erhalten hatte, wird aus seinem Schreiben 1963 an den Berliner Senat deutlich: „Erlauben Sie mir diesen Antrag für eine Frau zu stellen, die mir oft unter großen Ängsten und Gefahren während der NS-Zeit bis zur Befreiung Freundschaft bewahrte und wiederholt Unterschlupf und Verpflegung gewährte. Trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung vertrat sie sowohl in ihrer Haltung als auch in ihren Handlungen das bessere Deutschland.“
"Ich blieb auf dem Paddelboot"
In einer früheren eidesstattlichen Erklärung von 1953 hat Josef Scherek sein Untertauchen ausführlich geschildert und geschrieben:
„Ich nächtigte und wohnte unmittelbar nach der Ausbombung (1943) zunächst auf meinem Paddelboot in Wannsee, wo ich mich im Schilf zu verstecken suchte. Das geschah bis zum Eintritt des Frostes. Auf dem Paddelboot blieb ich bei jeglichem Wetter. Waschen und Rasieren musste ich mich im Freien. Wochenlang konnte ich trotz Kälte und Feuchtigkeit meines Quartiers kein warmes Essen zu mir nehmen. Ich ernährte mich meistenteils im Boot von Brot, rohen Mohrrüben und dergleichen. Ich blieb auf dem Paddelboot auch bei den schweren Bombenangriffen. ... Ich kann die weiteren Verstecke nicht unbedingt in genauem zeitlichem Ablauf angeben. Es ist aber sicher, dass mich einige Zeit Frau Strewe in ihrer inzwischen ausgebombten Wohnung in der Württembergischen Strasse versteckt hat.... Das letzte Versteck wurde mir durch Frau Strewe bei einem Dr. Erich Kühn in Zehlendorf, (Am) Fischtal 55, verschafft. Dort habe ich einige Monate Unterschlupf gefunden. Zwischendurch, insbesondere im Sommer 1944, nächtigte ich wieder in meinem Paddelboot, insbesondere auch dann, wenn durch Razzien die Lage wieder einmal besonders unsicher geworden war.“
Achern/Baden, den 5. März 1953, Josef Scherek (Ergänzungen für den Artikel sind kursiv gesetzt.)
Auch die Familie Oschinsky setzte sich nach dem Krieg für Lucie Strewe ein. Für sie war Lucie Strewe „eine ehrenhafte, rechtschaffene, gewissenhafte und aufrichtige Frau von anständiger Gesinnung“, wie sie in ihrer ersten Erklärung vom 26.11. 1951 aus Caracas/Venezuela schrieben. Die Freundschaft bestand schon seit 1933. Lucie Strewe zeigte „durch Rat und Tat eine seltene Hilfsbereitschaft“, sie war „eine Frau von seltener Begabung, Herzensbildung und Selbstentäußerung, wenn es galt für ihre Freunde einzustehen, was wir persönlich in den schweren Jahren 1933 – bis zu unserer Ausreise 1945 rühmend feststellen konnten.“
Lucie Strewe wurde aufgrund der beigebrachten Zeugnisse am 19. April 1966 vom Senat im Rahmen der Initiative für „Unbesungene Helden“ geehrt (UH Nr. 1404). Zum Ende des Jahres 1966 wurde die Initiative beendet.
Sie selber hatte mit einem Brief vom 12. November 1963 den Prozess der Ehrung eingeleitet und damals geschrieben: „Sehr geehrter Herr Senator...Da ich unter den Bürgern Berlins war, die ihren Freunden in der Not geholfen hat - zwei darunter konnten gerettet werden, andere kamen nicht zurück - sende ich Ihnen zwei Bescheinigungen darüber, Herr Josef Scherek wohnt jetzt Konstanz, Bodensee, Alpsteinweg 8, O.d.F. Nr. 7844 -
Herr Oschinsky, Los Angeles5, Californien, 687 Shatto Place. O.d.F.Nr• 20273. Da ich 6 Enkelkinder habe, halte ich es für erzieherisch schön, ihnen zu beweisen, daß man den Mut haben muß, den 'Weg der Menschlichkeit’ zu gehen, wie es seiner Zeit ihre Großmutter tat.“
Auch wenn sich Lucie Strewe und Gertrud Kaulitz, eine andere Stille Heldin über die ich im Rahmen dieser Serie schon berichtet habe, vermutlich nie begegnet sind, haben doch beide Frauen einiges gemeinsam. Beeindruckend die Klarheit im Handel und den eigenen menschlichen Maßstäben, Bescheidenheit und Kraft aus einer inneren „Stille“ zeichnen sie aus. „Stille Heldinnen“ sind sie insofern noch in ganzer anderer Weise als nur im wörtlichen Sinne.
Allerdings „still“ ist es immer noch um diese Menschen. Meine Bemühungen, auf sie etwas mehr aufmerksam zu machen, sind bisher nicht sehr weit vorangekommen. Immerhin hat nach längeren Bemühungen die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Steglitz-Zehlendorf im April 2013 den Beschluss Nr. 511/IV gefasst und darin das Bezirksamt gebeten, sich bei der Gedenkstätte der "Stillen Helden" in der Rosenthaler Straße dafür einzusetzen, dass die dortigen Datenbestände über die in der Senatsinitiative für die "Unbesungenen Helden" in den 60er Jahren Geehrten bzw. für eine Ehrung Vorgeschlagenen so aufbereitet werden, dass diejenigen, die in Steglitz-Zehlendorf gewohnt haben, ausgewiesen und dem Bezirksamt bekannt gemacht werden können.
Im August 2013 hat das Bezirksamt geantwortet und mitgeteilt, dass das Bezirks amt „in Kontakt mit dem „Museum der Stillen Helden“ bleiben (wird). Ein genauer Zeitpunkt zur Präsentation der Ergebnisse durch das Bezirksamt lässt sich wegen der langfristigen Recherchen noch nicht festlegen.“
Auch so kann man „Stille“ umschreiben.
Der Autor Dirk Jordan (69) war lange Jahre Volksbildungsstadtrat in Kreuzberg und lebt in Schlachtensee. Sie erreichen ihn über seine Homepage oder den Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.
Dirk Jordan
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