Stadtplanung Berlin: Bestürzende Neubauten
Bis 2020 braucht Berlin 60.000 Wohnungen. Mindestens. Was jetzt an Häusern entsteht, prägt das Stadtbild über Jahrzehnte. Doch der aktuelle Baustil ist enttäuschend. Was meinen Sie? Diskutieren Sie mit!
Die Senatsbaudirektorin Regula Lüscher lebt schon seit acht Jahren in Berlin, aber das „Italienische Viertel“ kennt sie nicht. Daraus kann man ihr keinen Vorwurf machen, denn selbst alteingesessene Berliner kennen kein Viertel dieses Namens. Einziger Treffer bei Google ist die Internetseite fellini-residences.com, auf der auf italienisches Flair getrimmte Luxuswohnungen in der Neuen Grünstraße in Mitte vermarktet werden. Slogan: „Wir nennen es: La Dolce Vita!“ Dazu werden die umliegenden Straßen zum „Italienischen Viertel“ erklärt. Aber keine Sorge: „Neben Italienisch werden Sie in dieser Insel für Metropolisten auch viele andere Sprachen hören“, heißt es im Werbetext, den es auch in englischer und russischer Übersetzung gibt. „Die Architektur des Viertels ist sehr malerisch. Wie auch bei den ,Fellini Residences‘ haben die anderen Gebäude Schnittpunkte mit den Häusern von Venedig.“
Das neue Viertel ist aus Baugruben erwachsen, da war Regula Lüscher schon im Amt. Auch daraus kann man ihr keinen Vorwurf machen. Lüscher ist zwar als Baudirektorin gewissermaßen die Wächterin über das Stadtbild. Doch es liegt in der Kompetenz der einzelnen Bezirke, Bebauungspläne zu erstellen und Baugenehmigungen zu erteilen. „Wir im Baukollegium bieten eine Service-Leistung für die Bezirke an“, sagt Lüscher. Wenn sie nicht gefragt werden, könne sie nichts machen. Und als zwischen der Leipziger Straße und der Bundesdruckerei auf einem letzten Stück noch freien Mauerstreifens zahlreiche Eigentumswohnungskomplexe in mediterran-historisierendem Stil errichtet wurden, war sie nicht gefragt worden. Den Brunnen im offenen Hof der Fellini-Residences, ein Zitat der Fontana di Trevi in Rom, wie auf der Webseite erklärt wird, habe sie noch verhindern wollen, sagt sie. Aber auch da hatte sie keine Handhabe.
Vergangenen Montag, halb zwölf. Mit hochgezogenen Schultern läuft Regula Lüscher durch den Schneegriesel am Köllnischen Park in Mitte, um in ein Großraumtaxi einzusteigen. Sie ist eine zierliche Frau Mitte 50 mit rotblondem Kurzhaarschnitt. Gegen den Wintereinbruch hat sie sich einen braunen Pelzschal um den Hals gewickelt.
Kaum war Lüscher vor sieben Jahren im Amt, entdeckte das globale Finanzkapital Berlins Immobilien und Grundstücke, die so viel preiswerter waren als in den anderen Hauptstädten Europas. Im Jahr darauf hat sich Lüscher Verstärkung geholt: eine Gruppe namhafter Architekten, die über die größeren Bauvorhaben der Stadt berät. Das Berliner Baukollegium, so heißt die Gruppe, trifft sich an diesem Montagmittag zur allmonatlichen Stadtrundfahrt. Eines der Mitglieder ist aus Kopenhagen angereist, ein anderes aus Köln. Jetzt klettern sie zu Lüscher ins Taxi, um die letzten innerstädtischen Brachen zu inspizieren, die bald keine Brachen mehr sein werden. Die Grundstücke sind verkauft. In einer Sitzung am Nachmittag präsentieren die Investoren dem Baukollegium ihre Pläne.
Ein internationales Publikum sucht das "Europäische"
Fahrziel ist eine Brücke der Stadtautobahn. Darunter wird das Baukollegium abgesetzt, weil neben der Autobahn fast tausend Wohnungen gebaut werden sollen. Doch zunächst geht es an den „Fellini-Residences“ und seinen nostalgischen Nachbarhäusern vorbei, die keine fünf Minuten von Lüschers Büro in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung entfernt liegen. Wenn sie hier vorbeikomme, lese sie immer ganz intensiv ihre Akten, sagt Lüscher diplomatisch und lacht. Wahrscheinlich will sie andeuten, dass ihr der Anblick nicht besonders gefällt. Doch sie vermeidet es, architektonische Vorlieben zu benennen. Das Baukollegium wird teilweise, so zum Beispiel in der „Morgenpost“, als Geschmackspolizei bezeichnet.
„Wer sich in Berlin eine Wohnung kauft, will offenbar in einem Château oder Palais leben“, sagt Jan Kleihues, Mitglied des Baukollegiums, der auf der Rückbank neben Lüscher sitzt. Sein Vater Josef Paul prägte als Planungsdirektor für die Internationale Bauausstellung 1984 das Konzept der „Kritischen Rekonstruktion“. Ein Begriff, der mitunter okkupiert wurde, um historisierende Architektur gegen moderne in Stellung zu bringen, womit Josef Paul Kleihues aber natürlich etwas anderes meinte als venezianisch anmutende Häuser in Berlin. „Es ist die Sehnsucht nach der alten Ordnung der europäischen Stadt, weshalb Menschen von auswärts den historisierenden Baustil bevorzugen“, glaubt Lüscher. Wer sich dagegen in Schanghai seinen Zweitwohnsitz einrichte, wohne lieber in einem gläsernen Hochhaus. Berlin wird zum Schauplatz von Geschmäckern aus der ganzen Welt, die hier etwas diffus Europäisches suchen, und staffiert sich entsprechend aus.
Wenn man sich so anschaut, was in Berlin gerade gebaut wird, dann sind diese leicht kitschigen Bauten eher die Positiv-Beispiele. Hier wird wenigstens die Struktur der Stadt aufgenommen und mit menschenfreundlichen Dimensionen gebaut [...].
schreibt NutzerIn hollebolle
Die Geschäftsidee, die sich daraus ergibt, hatte die oft als verschlafen belächelte Berliner Verwaltung lange vor der Baubranche. Bereits in den 90er Jahren propagierte sie über eine Studie mit dem Titel „Das städtische Wohnpalais“, dass durch den Bau adäquater Wohnungen Menschen mit Geld in Stadt gelockt werden könnten. Das überschuldete Berlin versprach sich von den solventen Zuzüglern Steuereinnahmen. Doch in den folgenden Jahren passierte wenig. Dann aber erfüllte sich der Trend in einem Maße, das der Stadt wiederum Probleme verschafft: Berlin habe sich zu einem Magnet für Reiche entwickelt, schreibt die auf Luxusimmobilien spezialisierte John Taylor Group in einer Untersuchung. Mittlerweile würden in 25 Straßenzügen in Berlin-Mitte Wohnungen für einen Quadratmeterpreis von mehr als 10.000 Euro verkauft.
Ein schwer genießbarer Fantasiestil
Im vergangenen Jahr genehmigten die Berliner Baubehörden 19.199 Wohnungen. Da aber außer den Superreichen auch Normalverdiener und Flüchtlinge in die Stadt ziehen, reicht das bei Weitem nicht aus. Bis zum Jahr 2020 werden mindestens weitere 60.000 Wohnungen gebraucht. Eine Zahl, die ständig nach oben korrigiert wird. In Lüschers Amtszeit verändert sich Berlin stark, und das ist für eine Baudirektorin erst einmal gut. „Jeder Wachstumsschub prägt das Gesicht einer Stadt: Wir bauen für hundert Jahre“, sagt sie. Abseits der großen Repräsentationsobjekte, in der Wohn- und Gebrauchsarchitektur, entsteht so, ganz unauffällig, das Stadtbild von morgen.
Doch gibt es bislang unter dem vielen Neuen nur wenig Herausragendes. Mit Edelbauten wie „The Wilhelm“, den „Kronprinzengärten“ oder „Kurfürstenlogen“, die zurzeit an zentralen Orten der Stadt im Bau oder in Planung sind, wird die preußische Tradition heraufbeschworen. Andere Wohnkomplexe, die „Oxford Living“ oder „La Provence“ heißen, sollen das Lebensgefühl ferner Landstriche evozieren. Dabei unterscheiden sich die Gebäude weniger, als ihre Namen es andeuten.
Fassaden, mit Gesimsen versehen wie vor hundert Jahren, Hauseingänge, die von griechischen Säulen umstanden sind. Die Fenster haben mitunter Holzläden wie die Stadthäuser in Nizza, ihre Brüstungen sind eisern und verziert. In den Foyers hängen Kristallleuchter, zum Hof hin stapeln sich Loggien. Aus den Ornamenten und Bauelementen aller Epochen taucht hier auf, was gefühlig wirkt und repräsentativ. Zugleich sollen die Häuser in ihrer nagelneuen Anmutung als solide Geldanlagen etwas Grundvernünftiges ausstrahlen. Zu viel Ornament soll es deshalb auch nicht sein. Ein internationaler Fantasiestil schreibt sich ins Berliner Stadtbild ein.
Die Käufer haben ein "romantisches Bedürfnis"
„Man muss mit Wohngebäuden die Seele der Menschen treffen“, sagt Henrik Thomsen, Geschäftsführer bei der Groth Gruppe, einem der großen Projektentwickler Berlins. Die Groth Gruppe hat in ihrer 30-jährigen Firmengeschichte insgesamt 11.000 Wohnungen gebaut und dabei 4,5 Milliarden Euro investiert.
Thomsen hebt auf ein romantisches Bedürfnis ab, das moderne Architektur bei vielen nicht befriedigt. „Menschen mögen ja auch Straßenzüge mit unversehrten Altbaufassaden besonders gern. Sie scheinen wertiger“, sagt er. Doch er selbst ist pragmatisch. Ob sich ein Bauprojekt für einen Entwickler lohnt, hängt auch damit zusammen, wie schnell sich die Wohnungen verkaufen lassen. Wenn etwas spezieller ist, dauert es länger. „Mit klassischer Architektur ist man auf der sicheren Seite“, sagt er. In ihren Projekten werde kein früherer Stil „in Reinkultur“ nachgebaut, sondern es handele sich um eine „freie Interpretation des Klassischen“. „Alles andere wäre albern.“
Das Hauptargument für Retro-Architektur ist ihre Marktgängigkeit. Zwei Drittel der laufenden Projekte der Groth Gruppe sind in historisierendem Stil, schätzt Thomsen, ein Drittel ist modern. Doch was das Wohnungsinnere angeht, zeigen sich seine Kunden kompromissbereit. Sie nehmen in Kauf, dass im teurer werdenden Berliner Immobilienmarkt die Grundrisse kleiner werden. Der Quadratmeterpreis sei nicht entscheidend dafür, wie gut eine Wohnung weggehe, sagt Thomsen, sondern der Gesamtpreis. „Wir versuchen, nicht über 400.000, 450.000 zu kommen. Was darüber liegt, verkauft sich viel schlechter.“ Auch störten sich die meisten nicht an modernen Baustoffen, selbst wenn historisch anmutende Häuser damit ausgestattet würden. Plastikfenster, sagt Thomsen, würden beispielsweise „sehr geschätzt“. Die Kunden wollten zwar „holzartigen Boden“, aber nicht in jedem Fall Parkett. Mittlerweilee gebe es auch gute Kunststoffe in Holzoptik.
Der Trend zur historisierenden Architektur ist nicht nur ein Berliner Phänomen. In Köln sei der Stil genauso verbreitet, sagt Dörte Gatermann, die dem Baukollegium angehört. Selbst Projektentwickler, die früher ambitionierte Architektur umgesetzt hätten, hätten ihr Programm geändert. Gatermann sieht das gesellschaftliche Klima als Ursache für die Retro-Ästhetik. „Je größer die Unsicherheit, desto mehr wird zurückgeblickt.“ Die Kölner Architektin glaubt, dass die historisierende Formensprache bald auch auf den Mietwohnungsbau übergreifen wird.
In Berlin sind die städtischen Wohnungsbaugesellschaften vom Senat beauftragt, angesichts wachsender Wohnungsnot 10.000 Wohnungen im Jahr zu bauen oder anzukaufen. Bald werden ihre neuen Häuser die Außenbezirke so prägen wie die neuen Eigentumswohnungskomplexe die Innenstadt. Wie werden sie aussehen? Und: Wird man ihnen die Eile ansehen, mit der sie entwickelt und gebaut wurden? Aus Zeitdruck lassen manche der Wohnungsbaugesellschaften Architekturwettbewerbe selbst bei größeren Bauprojekten ausfallen.
Die Degewo, mit 75.000 Wohnungen im Bestand Berlins größte Wohnungsgesellschaft, hat im Mai ein eigenes Architekturbüro aufgemacht: BauWerk. Es hat seine Räume im fünften Stock der Degewo-Zentrale an der Potsdamer Straße. Im Flur hängen Computersimulationen der geplanten Häuser. Sechs Architekten und drei Landschaftsplaner arbeiten hier. Einer davon ist Christoph Rasche, ein großer, schmaler Mann Anfang 50. Er könne sich kaum vorstellen, dass sie hier bald historisierend bauten, sagt Rasche. Seine Kollegen und er favorisierten eher die Bauhaus-Architektur. Außerdem seien zum Beispiel Gesimse, die sich wie Gürtel um die Fassaden legten, reparaturanfällig und damit teuer. Sie müssten mit Blechen abgedichtet werden, die leicht an den Lötnähten rissen.
Im Mietwohnungsbau herrschen andere Zwänge
Rasche ist seit zwanzig Jahren bei der Degewo angestellt. In seiner Anfangszeit hatte er ein Mehrfamilienhaus in der Paulsborner Straße geplant. Dann stellte die Degewo das Bauen ein. Rasche renovierte fortan die Bestände. Im Soldiner Kiez im Wedding stattete er Gründerzeithäuser, die noch Etagenklos hatten, mit Bädern aus. In den Nullerjahren trug die Degewo in Marzahn noch zwölfgeschossige Bauten auf sechs Geschosse ab, weil Wohnungen leerstanden. Es ist ein Kulturwandel für das Unternehmen, dass es wieder baut, und noch dazu so viel: 1600 Wohnungen pro Jahr sind ab 2016 geplant. Dafür reichen die letzten Baulücken in der Innenstadt nicht aus. Es müssen wieder Siedlungen geplant werden, eine besonders schwierige Aufgabe für Architekten.
Die Degewo hat bereits das Märkische Viertel und die Gropiusstadt gebaut. Zunächst, sagt Rasche, sei der Planungschef für die Gropiusstadt selbst dort eingezogen. Später wurden die beiden Berliner Großsiedlungen zum Schreckensbild des modernen Wohnungsbaus.
Hochhäuser zum Wohnen funktionierten seiner Ansicht nach nur als teure Apartmenthäuser, sagt Rasche. „Es ist dort zu anonym. Die Menschen fahren im Aufzug in ihre Etage und verschwinden hinter ihren Wohnungstüren. Ab 50 Wohnungen pro Aufgang hört es auf, dass Hausbewohner sich als eine Gemeinschaft begreifen.“ Durch die Jahre in der Bestandspflege kennt Rasche verschiedenste Häusertypen und weiß, was er bei Neubauten besser vermeidet. So hält er auch wenig davon, wieder Plattenbauten zu errichten, auch wenn vorgefertigte Teile das Bauen beschleunigen. Bei Autos hätten die Menschen kein Problem mit Massenware, erklärt er. „Aber sie wollen nicht in Häuser reingehen, die alle gleich aussehen.“
Christoph Rasche war es, der das erste Haus entwarf, das nach jahrelanger Pause von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft gebaut wurde. Im Mai vergangenen Jahres sind die ersten Mieter eingezogen. Es ist im positiven Sinne schlicht, weiß, mit ausladenden schwarzen Balkonen und ergänzt eine Siedlung der Degewo in Marienfelde.
Dennoch war Rasches Entwerfen davon getrieben, Kosten zu sparen. Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften müssen schwarze Zahlen erwirtschaften und sollen trotzdem auch günstige Wohnungen anbieten. In den kleineren Wohnungen plante Rasche Flure von lediglich 1,5 Quadratmetern ein. Gedämmt wurde mit Wärmedämmplatten, obwohl Rasche sie nicht mag. Doch sie sind am günstigsten. „Wegen der gesetzlichen Dämmvorschriften ist die Fassade teuer. Zusammen mit Dach und Fenstern macht sie 20 Prozent der Baukosten aus. Irgendwelche aufgefächerten Fassaden kann man da nicht mehr machen. Die Aufgabe der nächsten Jahre wird sein, wie man trotzdem Gestaltung reinbekommt.“
Preiswert und schön: Geht das?
Mittlerweile haben sie bei der Degewo Parameter entwickelt, die die Architekten in ihren Planungen beachten müssen. Es gibt für Außenstehende kryptische Tabellen, auf denen beispielsweise steht: „Fassadenparameter: FeTü/NF – von 0,12 bis 0,15“. FeTü, sagt die Legende, ist die Abkürzung für Fenster und Türen, NF für Nutzfläche. Die Fläche von Fenster und Türen an der Fassade wird also zur Nutzfläche einer Wohnung ins Verhältnis gesetzt. Kurz gesagt: Die Fenster dürfen eine bestimmte Größe, die Zimmer eine bestimmte Höhe nicht überschreiten. Standardisierungen, die sicherstellen, dass die Kosten niedrig bleiben, aber die erschweren, dass wirklich besondere Architektur entstehen kann.
In der Choriner Straße in Prenzlauer Berg stehen zwei preiswert gebaute Häuser, die nach der Jahrtausendwende häufig als Positivbeispiel herangezogen wurden, wenn Architekturkritiker ansonsten das zeitgenössische Bauen gescholten haben. So schrieb die „Zeit“: „Geschosswohnungsbau (wie hässlich allein der Begriff!)“ sei „durch Einfallslosigkeit“ gestraft. Besonders Berlin wolle „steinern und vergangenheitsschwer allem Ungewohnten widerstehen“. Im „sogenannten Estradenhaus“ hingegen spanne sich „ein Raum von der Straße bis zum Hof, an den Stirnseiten Podeste, sogenannte Estraden, durch die der Raum gebremst wird und etwas Skulpturales bekommt“.
Die Häuser gewannen viele Preise. Doch der Karriere des Architekten Wolfram Popp hat das nicht viel genutzt. Er hat nur noch ein einziges Haus gebaut, eine Villa in Lichterfelde. Auch sie gewann einen Preis.
Popp wohnt in einem seiner Estradenhäuser zur Miete. Er schiebt die Architekturbücher zur Seite, die sich auf seinem Esstisch stapeln und sagt lachend: „Ich war an mehreren großen Projekten beteiligt. Ich weiß, woran sie sterben können.“
Zuletzt sollte er ein ganzes Carré in Mitte mit fast 300 Mietwohnungen bebauen. Obwohl viele der Wohnungen weniger als 60 Quadratmeter groß werden sollten, konzipierte er alle im Wohnbereich doppelstöckig. Popp tüftelte lange, bis er die Bruttobaukosten des gesamten Gebäudes seinen Berechnungen zufolge auf unter 1000 Euro pro Quadratmeter gedrückt hatte. „Nur durch Planung selbst von Detailfragen kann man kostengünstig bauen und nicht durch Pauschalierung“, sagt er. Die Fassaden, mit viel Glas, sollten von einem Fachplaner vorgebaut und am Stück angeliefert werden. So wäre für den Bau kein Gerüst nötig gewesen – eine Ersparnis von 1,2 Millionen Euro. Die Reinigung des Glases sollten später Roboter erledigen, für 300 Euro das Stück.
Popp hatte die Planungen zusammen mit dem Investor bereits beim Bezirksamt präsentiert. „Wenn man das machen will, muss man das so machen, wie der Herr Popp das will“, habe die dort Zuständige gesagt. Sie vom Bauamt wolle das jedenfalls genau so. Der Bezirk habe ihm sogar ein Geschoss zusätzlich gestattet, sagt Popp. Gebaut wird das Haus trotzdem nicht. Es sei zum Zerwürfnis gekommen, berichtet Popp, als der Projektentwickler sein Honorar unter die gesetzlich festgesetzte Höhe drücken wollte.
Architekt und Investor sind selten einer Meinung
Nicht selten kommt es zu einem Ringen zwischen Investor und Architekt, bei dem der Architekt den Kürzeren zieht, auch wenn er die Berliner Verwaltung auf seiner Seite hat. Das erfuhr auch Benedict Tonon, emeritierter UdK-Professor. In Weimar wird gerade das neue Bauhaus-Museum gebaut, das er mit seiner Kollegin Heike Hanada entworfen hat. Er war damit beauftragt worden, für den prestigereichen Platz hinter dem Holocaust-Mahnmal ein Wohnhaus mit Luxuswohnungen zu entwerfen. Für die Fassadengestaltung orientierte er sich an der besonderen Lage des Grundstücks. Hinter vorliegenden großen Pfeilern sollte das Haus nach und nach ein paar Zentimeter zurückspringen. So hätte das Bauwerk das Formprinzip des Stelenfeldes aufgegriffen. Da entstanden Interessenkonflikte mit dem Investor. Obwohl die Fassade insgesamt nur 75 Zentimeter zurücksprang, wären die obersten Wohnungen, die sich am teuersten verkaufen, am kleinsten geworden.
Regula Lüscher empfing den Professor und seinen Bauherrn. Sie lobte den Entwurf. Die Besprechung schien einvernehmlich. Doch dann bestand der Investor auf einer historisierenden Fassade, und Tonon stieg aus. Noch ist die Baulücke frei, aber wahrscheinlich wird bald hinter dem abstrakten Mahnmal eine verspielte Fassade emporragen.
Zurück im November 2015. Lüscher und ihre Baukollegen wärmen sich nach vollendeter Rundfahrt mit italienischer Gemüsesuppe auf. Sie könne Investoren Wettbewerbe für ihre Bauvorhaben vorschlagen, sagt Lüscher. „Ich kann aber kein Haus verhindern wegen Stilfragen“, sagt sie. Das sei in keiner Stadt möglich, die sie kenne. Über die Gestalt eines Gebäudes entscheidet der, der es bezahlt. Was sie kann, ist Druck auf Investoren ausüben, denen an einem guten Auskommen mit den Behörden gelegen ist.
Am Nachmittag sitzt das Baukollegium im imposanten „Rittersaal“ der Senatsverwaltung, der holzverkleidet und historisierend ist, nur eben vor hundert Jahren gebaut. Hier wird anschaulich, was die Befürworter von historisierender Architektur häufig anführen: dass sich bei den Gebäuden selbst in den Augen von Skeptikern mit den Jahren Schrecken in Schönheit verwandelt.
Mit Eloquenz und Verbindlichkeit besprechen Lüscher und die anderen Mitglieder des Baukollegiums die Entwürfe eines Investors, bis am Ende wenig von dessen urspünglichen Planungen übrig bleibt. Anschließend machen sie konkrete Vorschläge: in dem Fall die Rückseite eines Gebäudes aus Klinkerstein zu mauern und mit gläsernen Loggien zu durchbrechen. „Investoren sind oft ganz froh, dass sie Anregungen bekommen“, sagt Lüscher. Ob sich dieser daran hält, wird man in ein paar Jahren sehen.
Dieser Text erschien zunächst gedruckt in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.
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