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Vor bald 100 Jahren wurde aus den kleinen Städten eine große erschaffen: Berlin.
© Ole Spata/dpa

Städtebau in Berlin: Berlins vergessener Schatz

Die Stadt wird dichter und wächst, auch im Umland. Und wo ist das Zentrum? Eine Hommage an die Vielfalt des Flickenteppichs.

Berlin ist viele Städte! Darauf sind die meisten Berliner stolz, nicht nur die Spandauer und Köpenicker. Berlin hat keinen zentralen Platz, keine Piazza Maggiore, und auch kein zentrales Bauwerk wie etwa die Kathedrale von Notre-Dame in Paris. Berlin hat nicht einmal einen eindeutigen Zentrumsbereich wie den Kreml in Moskau, sondern – schon von Anfang an – immer mehrere Zentren.

Der riesige Stadtraum, den wir heute mit Berlin verbinden, entstand erst in der zweiten Hälfte der Kaiserzeit. In gut zwei Jahrzehnten wurden die sehr unterschiedlichen "Kieze" Berlins geschaffen, mit ihren jeweils eigenen Zentren, eine bunte Stadtlandschaft, die sich bis heute nicht mehr wesentlich verändert hat. Sicher: Es kristallisierte sich ein besonderes Zentrum heraus – die Berliner City zwischen Stadtschloss und Brandenburger Tor. Die höchsten Bodenpreise vor dem Ersten Weltkrieg fanden sich in den Hauptstraßen Unter den Linden und Leipziger Straße sowie in den diese querenden Straßen, der Friedrich- und der Wilhelmstraße.

Der Autor Harald Bodenschatz war Stadtplaner war an der TU – und ist ein großer Berlin-Kenner.
Der Autor Harald Bodenschatz war Stadtplaner war an der TU – und ist ein großer Berlin-Kenner.
© Doris Spiekermann-Klaas

Daneben aber gab es unzählige neue Rathäuser, Hauptplätze und Hauptstraßen, alte Dorfkerne, aber auch die Minizentren der neuen Villenkolonien und Gartenstädte. Manche der damals entstandenen kleinen Zentren sind noch heute sehr attraktiv, etwa der Leopoldplatz, der Doppelplatz um den S-Bahnhof Frohnau, der Kollwitzplatz, das Zentrum von Weißensee um den Kreuzpfuhl und nicht zuletzt der Auguste-Viktoria-Platz, heute Breitscheidplatz. Einige dieser Zentren sind heute aber beschädigt, etwa der Bundesplatz und der Innsbrucker Platz.

Leider wurde eine große städtebauliche Chance vertan, als nach der Wende vor allem im neuen alten Zentrum gebaut wurde. Dabei hätte man gerade mit den großen Ministerien und Behörden den schwächeren Bezirken Auftrieb bringen können, und den Druck auf das Zentrum reduzieren können.

schreibt NutzerIn jetb

Die bis zum Ersten Weltkrieg entfaltete Stadtlandschaft war ein riesiger, zerstrittener multikommunaler Flickenteppich. Erst 1920 – nach einer äußerst konfliktreichen Debatte – entschied die Preußische Landesversammlung, Klein-Berlin mit den Städten Lichtenberg, Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, Neukölln und Spandau, den Kreisen Niederbarnim, Osthavelland und Teltow, der Stadtgemeinde Cöpenick, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken zu einer Einheitsgemeinde mit 20 Bezirken zusammenzuschließen. Erst 1920 entstand Groß-Berlin, wie wir es heute kennen.

All die vielen vereinigten Orte hatten ihre eigenen mehr oder minder markanten Zentren, ja oft mehrere Zentren, eine beeindruckende Mitgift. Die Stadtfläche wurde damals von 66 auf 878 Quadratkilometer vergrößert, die Bevölkerung wuchs von 1,9 auf knapp 3,9 Millionen. Wo aber sollte nun das Zentrum der neuen Großgemeinde liegen, wie sollte es gestaltet werden? Sollte es überhaupt ein gemeinsames Zentrum geben? Und was sollte aus den alten Zentren werden?

Als Groß-Berlin 1920 geschaffen wurde, fehlten Ressourcen und Kräfte, auf all diese Fragen programmatisch und praktisch zu antworten. Pläne für eine radikal moderne, autogerechte neue Mitte blieben Papier. Zugleich festigte sich ein zweites Zentrum im Schatten der Mitte: das Zentrum des Westens um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Was mit den vielen anderen überkommenen kleinen Zentren werden sollte, blieb unklar. Zugleich entstanden in den Siedlungen der Weimarer Republik neue kleine Zentren.

Auch in der NS-Zeit wurden neue Zentren angelegt, so am Fehrbelliner Platz, vor dem neuen Zentralflughafen Tempelhof oder auch im Umland, etwa in Hohen Neuendorf. Nach der Spaltung Berlins mussten zwei Zentren als Schaufenster des Westens bzw. des Ostens ausgebaut werden: das Zentrum der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Alexanderplatz als faktischem Mittelpunkt und das Zentrum von Berlin (West) mit dem Breitscheidplatz als Mittelpunkt. Beide Zentren wollten nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben, beide Zentren wurden autogerecht erneuert. Die vielen kleineren Zentren blieben erneut im Schatten. Und wieder entstanden neue markante Zentren, etwa in den Großsiedlungen Märkisches Viertel und Marzahn.

Nach dem Fall der Mauer stellte sich von neuem die Frage: Wo und was ist das Berliner Zentrum? Was hat es für Aufgaben, wie soll es gestaltet werden, wie zu seiner Geschichte stehen? Die alte Berliner City zwischen Schloss und Brandenburger Tor wurde bereits in den 1990er Jahren "kritisch rekonstruiert". Um die Zukunft des östlichen historischen Berliner Zentrums wird dagegen noch heute unter dem schönen Motto "Alte Mitte – Neue Liebe?" heftig gestritten. Dazu kommen der Potsdamer Platz mit seinen längst realisierten Großprojekten und der Alexanderplatz mit seinen geplanten Hochhäusern – ein Dauerbrenner der Kritik. Schließlich wird seit einigen Jahren die so genannte City West um den Breitscheidplatz durch auch wirklich gebaute Hochhäuser und neue Nutzungen umfassend umgekrempelt.

Berlin wächst und wächst – schneller, als wir es in unseren Köpfen nachvollziehen können, und längst über die Grenzen der Stadt hinaus. Jeder Blick, der an den Rändern Berlins Halt macht, erweist sich als hoffnungslos kurzsichtig. Bereits jetzt leben etwa eine Million Menschen in den Umlandkommunen, dem so nicht ganz richtig genannten Speckgürtel.

Angesichts des neuen, unerwarteten Wachstums rückt mehr und mehr die gesamte Großstadtregion, die Spreemetropole ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit, und damit auch die Frage: Durch welche Zentren wird die neue Spreemetropole national und international repräsentiert? Es sind vor allem drei Orte, die hier zu nennen wären: die Mitte Berlins zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz, die so genannte City West und – ja, auch dieser Ort – das historische Potsdam, sozusagen das Versailles von Berlin, Sitz der Regierung und des Parlaments von Brandenburg.

Doch ein solcher Blick auf die großen Zentren greift viel zu kurz. Er ignoriert die besondere Geschichte Berlins, er ignoriert die einzigartigen Potenziale einer polyzentrisch organisierten Stadtregion. Wie kaum eine andere Großstadt Europas hat Berlin und sein Umland eine Vielfalt an größeren, mittleren und kleinen Zentren, die es zu pflegen, zu stärken und, wie kürzlich von Tobias Nöfer vorgeschlagen, zu ergänzen gilt. Berlin muss diese unverzichtbare Grundlage jeder nachhaltigen Großstadtregion nicht erst neu schaffen, sie hat sie schon, wenngleich oft vergessen, vernachlässigt, heruntergekommen, ramponiert.

Das künftige 100-Jahres-Jubiläum von Groß-Berlin sollten wir als einmalige Chance begreifen, diese Stärke Berlins wieder zu entdecken, die Vielfalt und Buntheit des Flickenteppichs! Nahe gelegene Zentren prägen unseren Alltag, sie bieten Raum für Identifikation, sie sind der gegebene Ort für Dienstleistungen aller Art. Lasst uns viele blühende Zentren schaffen, auf die wir stolz sein können! Die Riesenstadt Berlin wird dadurch nicht schwächer, sondern stärker! Eine durch urbane Hauptstraßen und ein leistungsfähiges Netz öffentlicher Verkehrsmittel zusammengehaltenes Gewirr kleiner und größerer Zentren als Rückgrat und Motor einer nachhaltigen, solidarischen Großstadtregion – das wäre eine großartige Vision für die Spreemetropole von morgen.

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