Berlins ungemütlichster Platz: Wer lebt eigentlich am Alex?
Touristenmassen, Gewaltexzesse und Kommerz: Der Alexanderplatz hat keinen guten Ruf. Echte Berliner steigen hier nur um oder kaufen ein. Mehr nicht. Oder?
Eine Betonwüste mit Einkaufszentren und einem Bahnhof, voller Menschen, aber ohne Leben. Im Winter noch mehr, wenn es kalt ist und der Wind über die freien Flächen unter dem Fernsehturm fährt, wenn es dort noch grauer ist als sonst, weil der kleine Park neben dem Neptunbrunnen sich in eine Matschfläche verwandelt hat und der Brunnen selbst trocken liegt. Der Alex, ein Unort im Zentrum der Stadt.
Ein Tag auf dem Platz, an seinen Rändern und etwas darüber hinaus, zwischen Weltzeituhr und Rotem Rathaus, Alexa und Fernsehturm, Bahnhof und Neptunbrunnen, Karl-Liebknecht- und Rathausstraße. Viele Gespräche. Viel Ablehnung, viel Stirnrunzeln, viele Sündenböcke. Irgendeine Randgruppe ist immer schuld am schlechten Zustand des Alex. „Wir alle sind froh, wenn wir wieder weg sind“, sagt ein Verkäufer in einem Laden.
Zum Alex fährt man nicht, um zu flanieren, nicht um zu rasten, innezuhalten. Allenfalls um einzukaufen, oder, vor allem, umzusteigen: Zur Spitzenzeit fahren stündlich 66 U-Bahnen und 72 Trams ein. An einem Tag rauschen 375.000 Menschen auf den Platz - und wieder weg. Jeden Tag kommen hier mehr Menschen vorbei, als Bonn Einwohner hat.
Die Gewalttaten der vergangenen Jahre haben sich eingebrannt: Jonny K., der 20-Jährige, 2012 totgeprügelt an der Rathausstraße. Ein Jahr später ein nackter Mann mit Messer, erschossen von der Polizei im Neptunbrunnen. Die 60-jährige Frau im Sommer 2016, vor eine U-Bahn gestoßen. Etwa 600 Gewalttaten pro Jahr erfasst die Polizei am Platz - und noch viel mehr Diebstähle.
Und doch gibt es sie, die Orte am Alexanderplatz, die Heimat sind. Menschen, die hier wohnen, teilweise schon seit Jahrzehnten. Die hierhergezogen sind, weil sie nirgends sonst leben wollten. Die sich sorgen und kümmern. Die ihn lieben, den Platz, der viel mehr ist, als die Eiligen in ihm sehen.
Kapitel 1: Der Platzmanager
Reykjavik, Dublin, London. Über der goldenen 14 stehen die Städtenamen, gestanzt in Metall. Berlin, zeigt die Weltzeituhr an, ist eine Stunde weiter. 15 Uhr.
Tino Kretschmann steht neben der Uhr und blickt über den Platz. Die Sonne scheint. Kretschmann atmet aus, Dampfwölkchen. Dann geht er los, nach links, unter der S-Bahn-Trasse hindurch, wo eine Großfamilie „Feliz Navidad“ singt. „Die kenne ich noch gar nicht, sind aber gut!“, sagt Kretschmann. Ein Mann mit zotteligen Haaren klappert mit einer Geldbüchse, Kretschmann wirft eine Münze in den Schlitz.
Kretschmann, Wollpulli, ein Ohrring, der aussieht wie ein Schraubenschlüssel, ist Platzmanager am Alex. Im Sommer verbringt er zwei oder drei Nachmittage pro Woche hier. Im Winter ist es ruhiger, da reicht auch mal einer. Dann sitzt der Sozialarbeiter öfter in seinem Büro beim Trägerverein, dem Moabiter Ratschlag.
Vor 18 Jahren entschied die BVV Mitte: Der Alex braucht ein Platzmanagement. Vor drei Jahren übernahm Kretschmann die Stelle. Sein Job: das Leben rund um den Platz beobachten. Mit Jugendlichen und Anwohnern sprechen. Sich mit Vertretern von Bezirk und Senat treffen. Den Überblick behalten.
Anders als in richtigen Kiezen gibt es am Alex kaum Orte, an denen die Menschen ins Gespräch kommen. Keine Spätis, Cafés, Bioläden mit überschaubarer Stammkundschaft. „Hier braucht es Personen, die Beziehungsarbeit machen“, sagt Kretschmann. Und Orte, an denen sie das können. Kretschmann hat viele Ideen: ein Nachbarschaftszentrum. Ein Verleih für Volleybälle und Hoola-Hoop-Reifen. Stühle, die man wie einen Einkaufswagen mit einer Münze aus einem Depot auslösen und sich dann auf ihnen in die Sonne setzen kann.
Vor allem ältere Anwohner hätten Angst, sagt der Sozialarbeiter, vor Obdachlosen und Alkoholikern. Trauten sich nicht durch den kleinen Park hinter dem Fernsehturm. Aber nur wenn die Anwohner den Raum nutzten, auf dem Platz lebten, könnten sie ihre Angst verlieren. Berechtigt sei die ohnehin nicht. So viele Menschen an einem Ort, dafür passiere sogar relativ wenig.
Aber es fehlten Angebote. Zu wenig Orte, an denen Obdachlose essen oder sich waschen können. Kein Raum für die vielen Älteren, die in den Häusern leben. Der einzige Seniorentreff an der Spandauer Straße mit Stock oder Rollator kaum zugänglich. „Eine Frechheit.“ Und: „Der Platz ist dominiert von Tourismus und Kommerz. Andere Kultur geht unter.“
Kretschmann ist bis zur Wiese hinter dem Fernsehturm gegangen - der „Platz“ in seiner Zuständigkeit ist nicht nur das Areal rund um die Weltzeituhr, sondern reicht grob von der Spree im Westen bis hinter das Park Inn im Osten. Zwei junge Männer in Kapuzenpullis, Dose in der Hand, sprühen silberne Buchstaben an die Absperrwand zur U5-Baustelle. Gibts jetzt etwa Ärger? Alt gegen Jung? Typisch Alex?
Nein, nur einen Handschlag. Und eine Erklärung: Seit er, Kretschmann, durchgesetzt habe, dass die Wand bemalt werden darf, pinkle kaum noch einer daran. „Und die Touristen fotografieren sich davor.“
Kapitel 2: Die Mieterbeiratsvorsitzende
Silvia Schulz blickt aus ihrem Wohnzimmerfenster: hinten links die Kuppel des Doms, die Marienkirche, der Fuß des Fernsehturms. 13. Stock, tolle Sicht, ganz oben im graubraunen Riegel der Rathauspassagen, fast 50 Jahre alte Platte, heute mit Einkaufszentrum untendrin. Also alles schick am Alex? Nicht ganz.
Mehrmals täglich führt die 60-Jährige ihren Hund am Platz aus. Die Grünfläche, auf der Tino Kretschmanns Graffitiwand steht, ist für sie: ein Acker. „Abends sind da Leute unterwegs, da will man sich als Frau nicht einmal in Begleitung auf die Bänke setzen“, sagt sie. Schulz spricht laut, viel, energisch. Keine Frau, die sich schnell fürchtet und verkriecht. Sondern eine, die anpackt.
Deshalb leitet sie als Vorsitzende den Mieterbeirat, zuständig für das komplette Gebäude. Erwartet hat sie nicht, dass ihre Ost-Berliner Nachbarn ausgerechnet sie wählen würden, die Westdeutsche aus Karlsruhe mit dem badischen Dialekt.
Zuständig fühlt Schulz sich nicht nur für das Haus, sondern für den ganzen Platz. „Wir haben keine Balkone, der Alex ist unser Vorgarten.“ Sie will: weniger Ballermann, mehr schöne Cafés und wieder Hochbeete vor der Tür. Sieben gabs davon mal, doch die hat der Bezirk einer Zufahrt für Postautos und Anwohner geopfert.
Nachdem sie in Berlin schon in Spandau und Wedding gewohnt hatte, wollte Schulz in genau dieses Haus, direkt am Alex. Es hatte ihr einfach gefallen, bei einem Spaziergang über den Platz. Seit 16 Jahren wohnt sie nun hier. „Hier fühle ich mich angekommen.“ Früher wunderte sich ihr Sohn darüber. Heute wohnt er selbst im Quergebäude, mit seiner Frau und drei kleinen Kindern.
Wenn Schulz ihre Mutter in Süddeutschland besucht und dort im Bett liegt, dann wartet sie: auf die Tram, die S-Bahn, auf Partykrach. „Wenn mir der Lärm fehlt, kann ich nicht schlafen.“
Als sie im Jahr 2000 einzog, sagte ein Nachbar im Aufzug: „Sie sind wohl neu hier.“ Da merkte sie: Großer Platz, großes Haus - trotzdem Gemeinschaft. Das hat sich bis heute nicht verändert. Ein Nachbar bringt ihr einen Teller Kartoffelsuppe vorbei, häufig tratschen sie im Treppenhaus. „Man muss ja gucken, was passiert.“
Es gibt aber auch nervige Nachbarn. Eine bestimmte WG etwa, die sei „unnötig wie ein Kropf“. Viel Besuch, „laute Partys, von denen das ganze Haus was hat“. Oder die Mieter, die hier nicht lebten und ihre Wohnung bei Airbnb anboten. „Andere suchen vergeblich Wohnungen. Hier ist es vom Preis her wirklich noch erträglich. Dass jemand sich eine goldene Nase verdient, das muss nicht sein.“ Deshalb behauptete sie einmal, ihre Schwester komme zu Besuch, sie suche eine Unterkunft. Eine Nachbarin gab ihr die Telefonnummer, Schulz informierte die Hausverwaltung.
Sie könnte noch viele Geschichten darüber erzählen, was man erlebt, wenn das eigene Wohnzimmer zum Alex rausgeht. Von den friedfertigen Punks und den aggressiven. Vom Weihnachtsmarkt, den sie das Partyhaus vom Nikolaus nennt. Oder von damals, als der Müllschlucker abgeschafft wurde. Aber sie muss jetzt los, die Enkelkinder hüten. Sie warten schon im Quergebäude.
Kapitel 3: Die Urgesteine
Als Silvia Schulz vor 16 Jahren in die Rathausstraße kam, feierte Renate Meurer 30-jähriges Jubiläum. Einzug 1970, Dreiraumwohnung, Erstbezug. Irgendwann zog der Mann aus, später die erwachsenen Kinder. Sie blieb. Anderswo wäre es teurer, hier schützt der alte Mietvertrag. 500 Euro, alles inklusive. Und gehen will sie, die 77-Jährige, sowieso nicht. „Ich bleibe, solange es noch ein paar der anderen Alten gibt.“
Einmal im Monat läuft sie durch die Gänge des langgezogenen Baus, von der Nummer 7, in der Silvia Schulz lebt, bis zur Nummer 13. Durch Flure ohne Fenster, durch den Hof, in dem es laut ist, weil er nur zur verkehrsberuhigten Rathausstraße abgeschlossen ist, aber hinten offen zur vielspurigen Grunerstraße. Schulz grüßt die Nachbarn, auch die jungen. Schließt die Kästen für Hausmitteilungen auf und hängt Zettel hinein: Spielenachmittag und Plausch.
Bis in den sechsten Stock fährt der Aufzug. Es riecht nach Putzmitteln. Eine Treppe höher die Tür mit einem bedruckten Papier: Gemeinschaftsraum. Sechs Frauen und zwei Männer treffen sich heute, zwei Gruppen, Skat und Rommé. Auf der Rückseite der Karten steht „Kraftwerksanlagen aus der DDR“. Skat erfordert Konzentration, Meurer versinkt schweigend im Spiel. Die Rommé-Runde plaudert.
„Ich nehme mir den Joker.“ Er heißt hier Joh-ker, mit Jott und langem O.
„Ungern.“
Ingrid Kiepfer, 78 Jahre, und Horst Giese, 82, leben seit Jahrzehnten hier. Spielen hält fit, finden sie.
„Jetzt nehme ich mir mal den Joker!“
„Auch ungern.“
Ingrid Kiepfer und Horst Giese haben viel erlebt in diesem Haus. Vom Fenster aus beobachteten sie die Demonstrationen: 1989, als die Menschen sie hier drin als Parteibonzen beschimpften - dabei, sagen sie, hätte hier doch alles gewohnt, vom Müllmann bis zum Professor. Und später, als die Polizei die NPD einkesselte. Einmal lagen auf dem Dach nebenan Scharfschützen, Staatsbesuch im Roten Rathaus.
Eines war immer klar: Sie leben als Gemeinschaft. Wer aus dem Urlaub zurückkehrte, bereitete den anderen etwas Mitgebrachtes zu. Mit den Nachbarn putzten sie die Flure, dafür gab es Geld, davon wurde ein Fest ausgerichtet. Bis zur Wende, dann stellte die Hausverwaltung eine Putzfirma an. Eine Mieterhöhung haben sie von bedrohlich auf läppisch heruntergeklagt.
Immer noch passen sie auf, dass die alte Ordnung nicht ganz verschwindet, wenn etwa eine Nachbarin ein Schuhregal ins Treppenhaus stellt - Verstoß gegen den Brandschutz. Das klappt schon, finden sie, im Mietshaus der Tochter in Buch sei es viel schäbiger. Überhaupt: Es sei zwar nicht mehr ganz so wie früher. Und trotzdem könne man in Berlin nirgendwo besser leben.
Kapitel 4: Der Hausmeister
Gelebt hat Manfred Tettke, 59 Jahre, grauer Schnurrbart, blaue Latzhose, am Alexanderplatz noch nie. Arbeit gefunden schon zweimal. Zu DDR-Zeiten saß er in dem Bürogebäude zwischen Fernsehturm und Bahnhof, das den Platz zur Karl-Liebknecht-Straße abgrenzt. Wohnungsbaukombinat, Innendienst. Damals war der Platz noch weit. Ein sozialistisches Projekt, aufgeräumt nach dem Krieg, geglättet in den Jahrzehnten danach. Der Sozialismus träumte von Größe und schuf Leere, gerahmt von Monumenten. Im Norden des Platzes entstanden Ende der Sechziger bis Anfang der Siebziger der Berliner Verlag, das Haus des Reisens, das Haus der Statistik. Viel Beton für viele Stockwerke. Unter dem Fernsehturm blieb eine Grünfläche mit Linden und Kirschbäumen. Da lagen die Leute, erinnert sich Tettke.
Mit der Wende kam der blaue Brief. Dann die Einrichter mit dem Zollstock, noch während er seinen Dienst tat. Tettke: abgewickelt.
Nach dem Mauerfall begann das große Bauen. Das Shoppingcenter Alexa wurde 2007 eröffnet. Das Kaufhaus Die Mitte 2009. Das Alea 101 folgte vor zwei Jahren: ein Raumschiff, das auf dem Platz gelandet ist, wo die Linden und Kirschbäume standen. Unten schwarz verspiegeltes Glas, dahinter Geschäfte und Restaurants. Oben große Fenster, Büros und Wohnungen. Im Internet findet sich ein Angebot, 114,1 Quadratmeter für 2140 Euro inklusive Nebenkosten - 18,75 Euro pro Quadratmeter.
Tettke arbeitete derweil als Hausmeister in Pankow, dann wechselten die Auftraggeber den Dienstleister. Tettke: wegstrukturiert.
Den Platz hat er noch heute am liebsten, wenn er offen daliegt. Er findet es schade, dass er nach und nach gefüllt wurde. Und doch fand er ausgerechnet im Alea 101, diesem Raumschiff, seinen neuen Job.
Morgens gegen 7 Uhr kommt er an, mit seinem Wagen darf er über den Platz fahren und in die Tiefgarage, zweites Untergeschoss, dort ist auch sein Büro. Eine Mikrowelle, ein Wasserkocher, viele Ordner. Er ist der Kümmerer des Gebäudes, so steht es im Vertrag, sagt er. Ihm gefällt das. Er kümmert sich um alles: darum, dass Mieter aus Aufzügen befreit werden, dass die Hecke im Innenhof wächst, dass Spülmaschinen keinen Schaum spucken.
Normalerweise verlässt er das Gebäude um 16 Uhr. Anrufe nach Feierabend nur im Notfall. Wohnen würde er am Alex nicht wollen. Auch im Alea shoppen war er noch nie. „Vielleicht mache ich das mal in fünf Jahren, wenn ich in Rente gehe“, sagt er. Aber es gefällt ihm hier. Manchmal versperren ihm Straßenmusiker die Ausfahrt, wenn er eigentlich nach Hause will, zurück nach Johannisthal. Er wird dann nicht wütend. Er hupt nicht. Er bleibt stehen und freut sich über die Musik.
Kapitel 5: Der Weltreisende
Einer der Mieter, denen Manfred Tettke die Spülmaschine repariert, ist Gerhard Arnhofer. Kurze Haare, strahlende Augen, österreichischer Singsang. Aus seiner Wohnung im Alea 101 blickt der 39-Jährige auf den Platz. Die komplette Westwand ein Fenster. Man sieht direkt in die Wohnungen der Rathausstraße, wo Silvia Schulz und Renate Meurer leben. Kinder rutschen die Schrägen des Sockelgebäudes am Fernsehturm herunter. Ein Polizeiwagen fährt vor. Arnhofer öffnet das Fenster. Dahinter noch eine Scheibe, ohne Griff, damit niemand herausstürzen kann. Die Fenster haben fast alle Geräusche geblockt. Jetzt dringen polnische Worte aus dem Lautsprecher der Polizei.
„Sie verjagen die Obdachlosen vom Lüftungsgitter. Das passiert alle zwei oder drei Tage“, sagt Arnhofer. Routine. Was für ein Quatsch, findet er. „Das hier wird nie ein Savignyplatz werden - und soll es auch nicht.“ Wenn er auf den Platz blickt, sieht er nicht Schönheit, sondern Leben. Er kennt die Banden von Taschendieben, die alte Dame, die samstags Opern singt, die Breakdance-Gruppen, er kann sie alle sehen von hier oben. Ins Restaurant im Fernsehturm führt er regelmäßig Geschäftspartner. Für sie ein Erlebnis, für ihn nur ein paar Schritte.
Arnhofer hat Medizin studiert, erst in seiner Geburtsstadt Graz, dann in Berlin. Nach 2500 Notarzteinsätzen ging er in die Pharmaindustrie, Marketing. Seitdem war er viel unterwegs. Neben einer Holzkommode stehen Rollwagen, die sonst Stewardessen durch Flugzeuge schieben. Stauraum, ideal für den schnellen Umzug. „Aber in all den Jahren war immer ein Koffer in Berlin.“
Es sind die Metropolen, die ihn anziehen, und darin die Knotenpunkte. Je belebter, desto besser. In London hat er am Piccadilly Circus gewohnt, in Berlin am Gesundbrunnen. In New York im Norden Manhattans. Seit zwei Jahren lebt er, der nicht fotografiert werden möchte, am Alex - mit seinem Mann, der, wie Arnhofer jetzt erzählt, auch die drei fast identischen Gemälde von Lenin mitbrachte, die an einer Wand hängen. Kein politisches Statement. Kunst.
Ein Statement schon eher: Arnhofers Engagement über die eigene Wohnung hinaus. Im Frühjahr haben sein Mann und er Mohn, Clematis, Chili, Tomaten und Rosmarin im Innenhof des Alea gepflanzt. Mini-Spielplatz, Bänke, Beete, Bäume. Eine kleine Oase, sie machen sie ein bisschen bunter. Im nächsten Frühjahr wird wieder ausgesät. Die anderen Mieter dürfen auch ernten.
Kapitel 6: Die Ärmsten
Gerhard Arnhofer lebt am Alexanderplatz, weil er es möchte. Die meisten Menschen, die an diesem Tag in der Marienkirche an gedeckten Tischen sitzen, leben auf dem Alexanderplatz, weil sie nicht anders können. Sie sind obdachlos.
Alle zwei Wochen verwandelt sich der Eingangsbereich der Kirche nach dem Gottesdienst in einen Speisesaal. Rechts und links werden je vier lange Tafeln aufgebaut, gedeckt mit Tellern, Tassen und Besteck. Diesmal gibt es Reis mit Würstchen und Kaffee aus Thermoskannen.
Zur ersten Suppenküche vor 22 Jahren kamen 13 Gäste, heute sind es 91. Viele kommen jedes Mal. Erst waren es Leute aus der Umgebung, die mit dem Staat auch ihre Arbeit verloren hatten. Dann auch immer mehr Menschen aus den alten Bundesländern, die am Alex strandeten. So erzählt es Aune Renk.
Die 81-Jährige organisiert die Treffen, bei denen es nicht nur um das Essen geht, sondern auch um die Gesellschaft. Ab und an gibt es auch eine Führung durch die Kirche, Museumsbesuche, Haarschnitte, neue Kleidung, Bastelrunden für Weihnachtsschmuck, den die Gäste der Suppenküche auf einem Markt verkaufen. Im Sommer soll mit dem Erlös eine Spree-Schifffahrt bezahlt werden.
Die Marienkirche ist die Beständigkeit am Alex, diesem Ort in Bewegung. Seit dem Spätmittelalter steht sie hier, mehr als 700 Jahre. Das Marienviertel verschwand, die Kirche nicht. Sie hat den Dreißigjährigen Krieg überstanden, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, wenn auch beschädigt. 1964 hat hier Martin Luther King gepredigt.
Die älteste noch genutzte Pfarrkirche Berlins ist eine Durchgangskirche. Eine City-Kirche, sagt Pfarrerin Cordula Machoni. Sie hat kein Gemeindehaus, es gibt keine Gruppenarbeit vor Ort. Touristen schieben sich nach innen, fotografieren, ziehen weiter. Zweimal die Woche spielen die Organisten für sie Bach, mit Erklärungen auf Deutsch und Englisch. Bei jedem Gottesdienst wird Abendmahl gehalten - unüblich in einer evangelischen Kirche. Es soll ein unvergessliches Erlebnis sein für die Vorbeikommenden.
Heute ist es das auch deshalb, weil die Touristen durch die Tischgesellschaft müssen. Beklagen sich welche über die Suppenküche, werden sie von den Helfern zurechtgewiesen. Für die Bekochten sind gewaschene Hände und saubere Kleidung Pflicht. Überall sind sie Mensch, hier sollen sie es spüren - auch das steht hinter diesem Gebot.
Dazu passt, dass die Helfer die Geschichten ihrer Gäste und deren Namen kennen. Wenn jemand oft da war und wegbleibt, fragen sie herum.
Und noch etwas passt dazu: Nun, da das Kirchenjahr sich dem Ende neigt, da Weihnachten naht, ist auch für die Gäste der Suppenküche Spendenzeit. Aune Renk überreicht dem Mitarbeiter einer Hilfsorganisation einen Umschlag: 350 Euro, damit sollen Operationen für blinde Menschen in Afrika bezahlt werden. Das haben sich die Gäste der Suppenküche im Laufe des Jahres abgespart. Geben, nicht nur nehmen.
Von draußen rauscht der Lärm der Stadt, vom Altar hallt das Flüstern der wenigen Touristen, die in der Kirche sind. Die, die reinwollen, müssen jetzt, kurz bevor das Essen wirklich losgeht, vor geschlossenen Türen im Vorraum warten. Drinnen eine Schweigeminute. Still sein, zur Ruhe kommen, lauschen.
Aus einem Radio erklingen Chorgesänge. Vater unser im Himmel. In Ewigkeit - Amen! Gemurmel. Guten Appetit. Das Klirren von Besteck. Die Türen öffnen sich, die Touristen dürfen wieder herein. Und eilen schnell vorbei zum Altar.
Kapitel 7: Die Tramfahrerin
Gedränge, warnendes Piepsen, die Türen schließen sich. Jetzt soll es auch hier schnell gehen. Im Cockpit der Tram drückt Beate von Plata, brauner Bob, strahlend blaue Augen, den schwarzen Hebel nach vorne. Zieht ihn zurück, lässt die Bahn rollen. Rechts die Marienkirche, dahinter der Fernsehturm. „Das ist das Schönste“, sagt sie. Was genau? „Das Rollen.“
Silvester 1989 hat sie ihre Prüfung bestanden, seitdem fährt sie Straßenbahn. Von Anfang an auch am Alex. Erst hinter dem Platz vorbei, über die Mollstraße zum Rosa-Luxemburg-Platz; seit 1998, seit die Gleise wieder über den Alex laufen, auch darüber. Zwei Prinzipien hat sie hier: Noch vorsichtiger fahren als sonst, weil hier keiner auf sie achtet. Und nicht klingeln, hier niemals, weil sich so viele dann erschrecken.
Den Alex überquert die 45-Jährige fast jeden Tag, oft sechs oder acht Mal. Sie mag den Platz, eintönig wird es hier nie. Manche Kollegen, sagt sie, stöhnten über den Alex, weil er immer so voll sei. Für sie kein Problem. „Auch nicht, wenn Weihnachtsmarkt ist und die Leute sich stapeln.“ Durch die Frontscheibe beobachtet sie wie in einem Schaufenster, was die Passanten anhaben. Wenn es gut aussieht, geht sie sich eine ähnliche Jacke kaufen. Wenn es seltsam aussieht, überlegt sie, ob sie auch so einen Pulli hat, damit sie ihn in Zukunft im Schrank lassen kann.
Wenn von Plata um 4.30 Uhr im Frühdienst losgefahren ist, grüßt sie die Leute von der Stadtreinigung, die auf dem Platz Fastfood-Tüten und Bierflaschen auflesen. Auch manche ihrer Fahrgäste kennt sie, zum Beispiel den Mann, der so oft rennend in die Bahn springt. Steh doch mal fünf Minuten früher auf, denkt sie, wenn sie ihn auf ihrem Monitor entdeckt.
Besonders geduldig muss sie mit den Touristen sein. 30 Leute, 30 dicke Koffer, alle wollen durch eine Tür. Da hat sie schnell ein, zwei Minuten Verspätung. Von Plata lächelt trotzdem. Um sie aus der Ruhe zu bringen, muss mehr passieren. Einmal habe es einen schlimmen Zwischenfall gegeben: prügelnde Jugendliche und Reizgas im Wagen. Das war aber in Hohenschönhausen.
Kapitel 8: Der Turmfan
Als Beate von Plata am Alex schon Tram fuhr, saß Jean-Paul Franz noch regelmäßig auf der Rückbank des Autos seiner Eltern auf dem Weg von Regensburg nach Berlin, zur Oma. Und wenn er von Weitem den Fernsehturm sah, wusste er: Wir sind da. Zwei Stationen gehörten zu jedem Besuch dazu: der Tierpark - und der Alex.
Heute ist Jean-Paul Franz 30 Jahre alt und Finanzberater. Er sieht den Turm jeden Morgen, wenn er zur Arbeit am Hauptbahnhof fährt, und jeden Abend, wenn er nach Hause kommt. Seit 2008 wohnt er in einer WG in der Karl-Liebknecht-Straße. Vier Zimmer, zwei Pärchen, Kühlschrank im Flur. „So viele Touristen fahren extra her. Ich lebe hier - was für ein Privileg!“
Ein Privileg, weil er jetzt jeden Tag das Gefühl hat, mitten in Berlin angekommen zu sein. Dabei gibt es am Alex nichts, was er nutzt, von der S-Bahn abgesehen. Wenn er ein neues Hemd braucht, bestellt er es bei Amazon. Wenn er ein Bier trinken will, fährt er nach Prenzlauer Berg. Wenn seine dreijährige Tochter am Wochenende bei ihm wohnt, spazieren sie durch den Tegeler Forst. Franz ist kein Kümmerer am Alex, keiner, den die Armut am Platz dazu bringt, Kaffee aus Thermoskannen auszuschenken, ein Alteingesessener schon gar nicht. Der Fernsehturm, sagt er, ist einfach „sein Ding“.
Deshalb hat er da auch vor vier Jahren seine Freundin geheiratet. Er weiß es noch genau: In der WG schlüpfte die Braut in den weißen Pettycoat mit roter Punkteschleife. Franz Mutter, Kosmetikerin, schminkte sie. Eine Friseurin toupierte und flocht die Haare. Über die Karl-Liebknecht-Straße, durch die Unterführung, schritt sie zum Turm. An Straßenschildern und Laternenmasten klebten Poster und Aufkleber. „Für immer“ und „Berliner Engel“ stand darauf. Jean-Paul Franz wartete oben in der Kuppel, schwarzer Anzug, rote Fliege, weißes Hemd. Nach der Trauung warfen Mädchen Blütenblätter auf den Asphalt vor dem Ausgang, an Sekt und Schnittchen bedienten sich auch Touristen.
„Für immer“ klebt heute noch auf einem Vorfahrtsschild. Die Ehe ist seit einem Jahr geschieden. In die WG ist seine neue Freundin eingezogen.
Kapitel 9: Das Partyvolk
Am Platz vorbei, auf dem Jean-Paul Franz und seine Ex-Frau schließlich noch Tauben fliegen ließen, hinterm Turm über die Karl-Liebknecht-Straße. Vor einer hellblauen Tür kontrollieren Securitymänner Taschen und Ausweise. „Acht Euro, bitte.“ Stufen hinunter, an der Wand segelt ein Kutter.
Willkommen in der Hafenbar! Wo früher die Wernesgrüner Bierstube war, steigt jetzt die Dorfparty am Alex. Nach rechts, „Mäntel und Pelze“ abgeben, und zurück. Auf den roten Lederschaukeln an der Bar ein Getränk. Bierchen? Sektchen? Klopfer? Hinterm Tresen stehen Mutter und Sohn, Petra und Christopher Schreiber, die Besitzer, 47 und 29 Jahre alt.
Erst seit Juni ist die Hafenbar hier. 49 Jahre lang stiegen die Feten in der Chausseestraße, dann mussten sie raus. Sie wollten in Mitte bleiben, am Alex war ein Laden frei. In den ersten Tagen kam die Polizei vorbei und erklärte ihr Sicherheitskonzept. „Die Kriminalität ist für uns aber nicht spürbar“, sagt Schreiber, der Sohn. Der Standort sei sogar besser: „Wer morgens aus der Tür stolpert, blickt direkt auf den Fernsehturm“, schwärmt die Mutter.
An einem Plastiktisch vor den Toiletten verteilt eine Frau mit kurzen rot gefärbten Haaren Taschentücher. „Hallo, Helga!“, Münzen klimpern. Die Frauenschlange ist lang, eine Männerschlange gibt es nicht. Helga schiebt zwei Blondinen aufs Herrenklo, damit es schneller geht.
Im Clubraum fliegen Hände nach oben, Kreischen, Grölen. „Atemlos durch die Nacht. Spür, was Liebe mit uns macht“. Männerhände auf Frauenhintern, kreisende Zungen, innige Blicke. Die Diskokugel dreht sich im Rettungsring. Als der Morgen naht, leert sich die Bar. „Tiii-Aaa-Mo!“ Übrig bleiben die Engumschlungenen, die sich wiegen.
Zeit zu gehen. Weg von der Dorfparty, die Treppe hoch, raus auf die Straße. Vor der Tür erhebt sich der Fernsehturm, genau so, wie es Petra Schreiber versprochen hat. In wenigen Stunden werden die Besucher wieder hinauf zur Aussichtsplattform fahren. Sie werden aus Bahnen steigen, in denen es schwierig war, einen Sitzplatz zu ergattern. Sie werden in die Marienkirche eilen. Ein Foto. Klick. Und sie werden sich, bevor sie nach Hause fahren, in einem Kaufhaus für einen Wintermantel entscheiden.
Der Alex, ein grässlicher Ort, werden die Berliner beim Abendessen schimpfen, klar, dass dort so viel passiert. Und die Touristen werden sich wundern, warum dieser Platz so berühmt ist. Ein Blick reicht kaum, um diese Frage zu beantworten. Aber sie alle könnten ja jemanden ansprechen: den Mann am Restauranttisch im Turm etwa, die Frau in der Tram oder die mit dem Hund oder die Alten in der Kirche: Entschuldigen Sie, was bitteschön soll man an diesem Ort finden? Sie würden eine Antwort bekommen.
Dieser Text erschien am 10. Dezember 2016 in der gedruckten Tagesspiegel-Beilage Mehr Berlin.