Serie „Landgang“: Berliner Stadtflucht nach Brandenburg – „Summer of Pioneers“ in Wittenberge
In Wittenberge ersinnen beim „Summer of Pioneers" Kreative aus Berlin Ideen mit Gemeinsinn gegen Leerstand. Einige Plätze sind noch frei - und es geht weiter.
Das Plakat erinnert an ein Werbeposter für eine Chill-out-Lounge: „Summer of Pioneers“. Beim Sommer der Pioniere wird aber das Jahr über eher an- statt abgeschaltet: In Wittenberge, Prignitz, beleben gesellschaftlich engagierte Kreative aus Großstädten wie Berlin, Hamburg und Zürich gähnenden Leerstand mit innovativen Ideen. „Wir sind alles Menschen, die idealistisch unterwegs sind“, erzählt Initiator Frederik Fischer aus Berlin-Wedding. „Wir wollen in kleinen Narrativen die Welt anders erzählen, jenseits von Mainstream- Karrieredenken anders leben und arbeiten.“ Wegen des großen Erfolgs geht der "Summer of Pioneers" in Wittenberge in die zweite Runde, bewerben kann man sich noch für verbliebene freie Plätze bis 9. März 2020.
Das einzige Leben: Spinnen an den Fenstern
Wo vorher die Spinnen beim Netzbau in den Fenstern das einzige Leben in Häusern waren, trifft sich jetzt Alt und Jung im neuen Altbau-Stadtsalon „Safari“ am Bismarckplatz 6. Da berichten Senioren im Erzählcafé vom früheren Singer-Nähmaschinen-Werk und umweltfreundlichem Radeln, als es schwer war, an Autos zu kommen.
Wittenberge hat seit der Wende ein Drittel an Einwohnern verloren, jetzt leben noch 17.000 Menschen dort, aber nun kommen Pionier-Zuzügler und Rückkehrer. In ganz Brandenburg gibt es immer mehr kreative und gemeinnützige Projekte von Berlinern auf dem Land, dazu hat der Tagesspiegel seine "Landgang"-Serie entworfen.
In die teils verlassen wirkende Stadt an der Elbe bringt das Ökofilmfestival 2020 neuen Schwung, Tauschcafés und Workshops zu Themen wie „Rassismus in der Klimakrise“. Brandenburg-Pionierin Kata Oldziejewska stammt wie viele aus der digitalen Start-up-Szene und bestellt nun für Brandenburger und Berliner ganz analog verpackungsfreie „Waste less“-Einkäufe - und berät die Stadt Wittenberge zum Auftritt bei Social Media. Der Stadtsalon „Safari“ ist ein Projekt des „Summer of Pioneers“, den der 38-jährige Berliner Technologie-Journalist Frederik Fischer ersann; er hat auch die „KoDorf“-Initiative für neues gemeinschaftliches Leben begründet.
Der Coworking-Space an der Elbe: „magisch“
Die Projektphase Wittenberge begann am 1. Juli 2019 und geht gerade in die zweite Runde bis Ende Juni 2020. Unterstützt wird sie von Bürgermeister Oliver Hermann und Bauamtsleiter Martin Hahn, vom Technologie- und Gewerbezentrum Prignitz, der CoWorkLand eG, der Wohnungsbaugesellschaft und Ehrenamtlichen. Insgesamt 20 gesellschaftlich denkende Menschen aus der Digitalbranche, darunter Stadtsoziologen oder Resilienztrainer, wohnen möbliert und mit Internet günstig auf Probe. Der in der alten Ölmühle mit Elbblick eingerichtete Coworking-Space, den Fischer „magisch“ findet, ist bis Sommer 2020 auch für alle anderen Interessierten gratis ohne Anmeldung nutzbar.
Was brauchen Leute, um zu bleiben?
Bauamtsleiter Hahn zeigte sich dem Tagesspiegel gegenüber begeistert, "dass das Projekt so erfolgreich ist", daher habe man es nochmal bis Juni 2020 verlängert. "In der zweiten Phase wollen wir die Projekte konkretisieren und genauer gucken, was der Typus Mensch braucht, um auch zu bleiben." Diese kreativen, flexiblen, digitalen Stadtmenschen, da können sich die alteingesessenen Brandenburg-Profis und die Pioniere erfolgreich gegenseitig bereichern. Erfolgreich sei etwa der "Digitalsommer" gewesen. Wittenberge wolle nun prüfen, wie man einen Coworking-Space wirtschaftlich rentabel führen könne.
Kürzlich gab es in Wittenberge eine themenoffene „Barcamp“-Tagung mit Vertretern von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – und Dutzenden Berlinern mit produktiver Landlust.
Dutzende Berliner mit kreativer Landlust
Dort stellte Nadine Michalske ihre Wohn- und Arbeitsidee vor: Wie in einem Ferienpark könnten sich Tiny Houses in naturnahen Erdhügeln um ein gemeinschaftlich nutzbares Gebäude ranken. Beim „Barcamp“ beklagte sich ein Brandenburger über die vielen Anglizismen wie „Coworking“. Die Resonanz auf die Pläne ist nichtsdestotrotz groß: Viele Brandenburger in der Region sind schon mit nachhaltiger Land- und erneuerbarer Energiewirtschaft beschäftigt. In Wittenberge dabei ist auch Berliner PR-Berater Christian Soult, der neben digitalen Start-ups aus den Bereichen Mobilität und Klima-Tech nun auch dortige Unternehmen unterstützt. Der Berliner Journalist Kai Schächtele war mit dem Team der Mutmacher-Klimashow „vollehalle“ bei begeisterten Wittenberger Schülern zu Gast.
Andere Berliner schufen in Annahütte, aber unabhängig vom "Summer von Pioneers", aus eigenem Antrieb, südlich von Berlin, einen "Musikbahnhof".
Parallel zum "Summer of Pioneers" erarbeitet Frederik Fischer mit einem Team das „KoHaus“-Konzept Wittenberge fürs ehemalige FDGB-Gebäude – ein Symbol der alten Arbeitswelt werde zum Symbol einer neuen. Eine Baugemeinschaft möge im Erdgeschoss den Gemeinschaftsbereich mit Coworking, Küche mit langer Tafel, Gästewohnungen, Besprechungszimmer und „Kino“ nutzen. Es gibt auch ein Kinderspielzimmer.
Im „KoHaus“ sind Appartements zu haben
In den übrigen Geschossen könnten Familien wohnen, die jenseits von Einfamilienhaus-Vereinzelung das Leben miteinander gestalten möchten, samt Garten, Gewächshaus, Holzdeck und Terrasse. Auch das „Abenteuer Bahnhof“ des Sommers der Pioniere steht, zum Nutzungskonzept könnte auch eine Bibliothek gehören. Zudem ist ein Festival geplant; es gibt auch freie Atelierräume. Ein Wittenberger wiederum brachte die Berliner neu in Schwung – bei einer Clubnacht mit „Post-Punk“- und New-Wave-Musik.
Der Appell: Bitte Bahncards bereitstellen
Einige Kreative regen indes bei Politik und Wirtschaft an, Teilnehmer solcher Projekte Deutsche Bahn und Bus gratis oder vergünstigt nutzen zu lassen, beispielsweise Bahncards zur Verfügung zu stellen oder andere Fördermöglichkeiten für die Mobilität zu ersinnen. So könnten die vielen neuen Berlin-Brandenburg-Pendler unterstützt werden.
Berliner können in Wittenberge und Homberg „Pionier“ werden - bewerben bis 9. März
Beim „Summer of Pioneers“ können Kreativarbeiter mit Interesse an gemeinschaftlichem und gemeinnützigem Leben und Arbeiten ein halbes Jahr lang das Landleben testen. In Wittenberge sind auch für Berliner in der aktuellen Runde noch einige wenige Plätze frei; zudem startet bald eine neue Projektphase nach Brandenburger Vorbild in Homberg in Hessen. Für beide Projekte endet die Bewerbungsfrist am 9. März 2020. Das idyllische Homberg (Efze) mit viel Potenzial sei im Aufbruch: "Fair produzierte Smartphones, neue Carsharing-Konzepte, innovative Biobauern – nachhaltiges Unternehmertum ist hier kein Buzzword, sondern gelebte Praxis", heißt es auf der Internetseite mit dem Bewerbungsformular homberg-pioneers.de. Die Mischung aus Natur und Gründergeist machten Homberg "zum perfekten Ort für Digitalarbeiter mit Lust auf Land", dort geht der "Summer of Pioneers" vom 1. Mai bis 31. Oktober 2020.
Auch für das Verlängerungshalbjahr in Wittenberge kann man sich bei Frederik Fischer bewerben, Kontakt: Bitte eine Email schreiben an frederik.fischer@kodorf.de. Alle Infos zum "Summer of Pioneers" in Wittenberge unter: www.wittenberge-pioneers.de
Etliche Veranstaltungen erreicht man ab Berlin mit dem Regionalexpress, darunter: Stadtsalon Safari, Bismarckplatz 6, 19322 Wittenberge, Green Safari: Ökofilmtour & Gespräch, heute, 20. 2., 18 Uhr. Workshop Rassismus in der Klimakrise, 28. 2., 17 Uhr. Erzählsalon Arbeit, 7. 3., Senioren gesucht, 14–15.30 Uhr. Teilnahme kostenfrei. Im Coworkingspace Bad Wilsnacker Straße 52, 19322 Wittenberge, kann man ohne Anmeldung gratis mitmachen, 20 Plätze gibt es. Alle Infos zum Stadtsalon Safari unter www.wittenberge-pioneers.de/stadtsalon-safari
Das „KoHaus“ sucht Mitstreiter für die Baugemeinschaft, Info und Kontakt per Mail an frederik.fischer@kodorf.de.