Defizite bei Schülern werden immer größer: Berliner Lehrer und Eltern fürchten neue Schulschließungen
Nach dem neuen Infektionsschutzgesetz müssen Schulen ab Überschreiten der Inzidenz von 165 dicht machen. Pädagogen, Eltern und Mediziner warnen vor den Folgen.
Und wieder etwas Neues, allmählich ist Astrid-Sabine Busse genervt. Sie leitet die Grundschule an der Köllnischen Heide, und vom heutigen Montag an müssen sich alle Schüler und Lehrer an Schulen zweimal pro Woche testen, sofern der Inzidenzwert bei mindestens 100 liegt. Am Sonntag lag er bei 132. An Mitteilungen zum Testen mangelt es der Schulleiterin wahrlich nicht. „In der vergangenen Woche“, seufzt sie, „habe ich dreimal jeweils neue Formulare von der Bildungsverwaltung des Senats erhalten.“
Gut möglich, dass diese ständigen Änderungen in Kürze das geringste Problem der Schulleiterin sind. Die viel größere Herausforderung könnte lauten: Schulschließung. Dass der Unterricht in Berlin, außer bei der Notbetreuung, mal wieder nur als Homeschooling stattfindet, ist ein sehr reales Szenario.
Und dieses Szenario geht emotional an die Substanz: „Viele Schulleiter und Schulleiterinnen haben Angst vor einer allgemeinen Schulschließung“, sagt Astrid-Sabine Busse. Sie ist auch Vorsitzende der Interessensgemeinschaft Berliner Schulleiter (IBS).
Basis dieser Angst ist die Zahl 165. Nach dem verschärften bundesweiten Infektionsschutzgesetz müssen Schulpforten geschlossen werden, wenn dieser Inzidenzwert an drei aufeinanderfolgenden Tagen überschritten wird. Umgesetzt werden muss diese Vorgabe „bis zum übernächsten Tag“.
Eine weitere Zwangspause beim Schulbesuch bedeutet für die IBS-Vorsitzende Busse, „dass die bisherigen Schäden bei den Schülern und Schülerinnen noch mehr verstärkt werden“. Das ist ist der Kern der Angst. „Schon jetzt konnten wir doch die Rückstände, die durch die vorangegangenen Schließungen entstanden sind, gar nicht aufholen“, sagt Busse. „Selbst die liebsten Eltern sind im Homeschooling irgendwann überfordert. Man kann zu Hause nicht den Präsenzunterricht ersetzen.“
Wie löst man das Problem mit den Zeugnissen?
Außerdem sei es gerade jüngeren Schülern überhaupt nicht möglich, lange vor dem Bildschirm zu sitzen. „Die Zeugnisse stehen vor der Tür, wie soll man denn vernünftig Noten geben, wenn man in Präsenz keine Arbeiten schreiben kann?“ Ihre Schule liegt in einem sozialen Brennpunkt, da sind die Probleme vielleicht noch etwas verschärfter als in anderen Gebieten. Aber die Unterschiede sind aus Busses Sicht minimal. „Es brennt überall“, sagt sie.
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Zum Beispiel an der Christian-Morgenstern-Grundschule in Spandau. Die wird von Karina Jehniche geleitet, auch sie hat Angst: „Angst, dass alles unberechenbar wird, wenn man sich an dieser Zahl orientiert“. Mal werde eine Schule für drei Tage geschlossen, dann wieder geöffnet, dann wieder zugemacht. „Das ist ja auch für die Eltern eine enorme Herausforderung. Die müssen total flexibel sein. Sie haben vielleicht die Betreuung für drei oder vier Tage mit Homeschooling organisiert, dann ist wieder Präsenzunterricht, aber danach wieder Schulschließung. Ob sie dann erneut so kurzfristig eine Betreuung hinbekommen, das weiß ich nicht.“
Noten für Sport kann man bei Homeschooling nicht geben
Sie weiß aber sehr genau, was Schulschließung für den Lehrstoff bedeutet. „Wir können keine Klassenarbeiten schreiben, Sport ist bei Digitalunterricht überhaupt nicht zu bewerten. Also, wie machen wir es mit den Klassenarbeiten?“ Eine Antwort hat sie nicht.
An diesem Montag wollen Eltern der Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) einen Offenen Brief übergeben, um erneut auf die schwierige Situation der Kinder und Jugendlichen aufmerksam zu machen. Unterschrieben haben mehr als 5000 Eltern, mehr als 40 Mediziner – darunter drei Virologen – und etwa 300 Pädagogen. Die gesundheitlichen Schäden für Kinder seien bei Schulschließungen weitaus höher als die Gefahr, die für Kinder von dem Virus ausgehe.
Damit sind auch die Ängste artikuliert, die Karina Jehniche meint. Für sie ist es ein geringer Trost, dass eine Schulschließung für sie und ihr Kollegium „organisatorisch kein Problem darstellt“. Sie hätten in den vergangenen Monaten genügend Erfahrung gesammelt, um gut mit dieser Situation umgehen zu können. Es gebe auch genügend End- und Lüftungsgeräte.
Viele Eltern haben irrationale Ängste vor den Schnelltests
Es gibt aber auch genügend Eltern, die Schnelltests entweder generell ablehnen oder weil sie, wie eine andere Schulleiterin sagt, „diffuse Ängste haben“. Ängste ohne jeden realen Hintergrund. „Die einen befürchten, dass sich Würmer ins Gehirn fressen oder dass an den Stäbchen giftige Flüssigkeit haftet.“
In der Christian-Morgenstern-Schule waren bisher zwei Kinder mit dem Schnelltest positiv getestet worden, sie kamen deshalb zum PCR-Test in ein Impfzentrum. Jehniche hat die Ängste der Eltern vor den Tests sehr deutlich mitbekommen. Am ersten Testtag wurden 13 Prozent der Schüler krank gemeldet, am zweiten Testtag 15 Prozent. „Das ist schon viel“, sagt Jehniche. Niemand begründete die Abwesenheit mit der Angst vor den Schnelltests. Aber Karina Jehniche vermutet, dass sie zumindest bei vielen Eltern eine Rolle spielte.
In Neukölln sind die Tests gut angelaufen
Auch Astrid-Sabine Busse kennt diese Problematik. „In Neukölln sind die Tests gut angelaufen“, sagt sie, „aber in anderen Bezirken war Aufstand hoch zehn“. Der Widerstand muss nicht nur mit irrationalen Ängsten zu tun haben. Es geht auch um Punkte wie Verlässlichkeit des Tests oder Probleme mit der Handhabung. Selbst bei Schulleitern, sagt die IBS-Vorsitzende, „polarisiert das Thema“.
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Eltern setzen sich ja auch mit Zahlen auseinander. Nach Angaben der Bildungsverwaltung aus der vergangenen Woche wurden bei 844 Schülern Infektionen festgestellt – gegenüber 329 in der Woche zuvor. Bei den Beschäftigte waren es 108 gegenüber 80. Die Zahlen beziehen sich auf rund 1000 allgemeinbildende und berufsbildende Schulen.
Die mit Abstand meisten Infektionen gab es an Grundschulen. Ihre Zahl stieg von 146 auf 406. Bei den Sekundarschülern war die Zunahme geringer (189 gegenüber 83 in der Vorwoche). Geöffnet werden dürfen Schulen erst wieder, wenn der Wert von 165 an fünf aufeinanderfolgenden Tagen unterschritten wird.
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